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Eine Lücke im Stadtgrundriss

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Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Südliche Friedrichstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Hedemannstraße
Datum: 18. Februar 2019
Bericht Nr.: 647

In Wim Wenders' Film "Der Himmel über Berlin" wandern zwei Engel durch die Stadt, beobachten die Menschen und lauschen ihren Gedanken. Merkwürdig grau und düster ist die Stadt, deutlich sichtbar sind die Wunden des Krieges und der Teilung. Eigentlich müsste der 1986 gedrehte Film "Der Himmel über WEST-Berlin" heißen, denn Wim Wenders konnte den DDR-Filmminister nicht überzeugen, auch in Ost-Berlin zu drehen. "Als er merkte, dass die Hauptfiguren durch Mauern gehen konnten, war mit ihm nicht mehr zu reden".

Der Himmel über Berlin, Drehorte
Der Engel Damiel - gespielt von Bruno Ganz - verliebt sich in eine Trapezkünstlerin, deren Zirkus im Film am späteren Theodor-Wolff-Park steht. Er gibt seine Unsterblichkeit auf und sieht die Schwarzweiß-Welt plötzlich in Farbe. Die Farbe als Metapher für Lebensmut in einer anscheinend von entsetzlicher Schwermut befallenen Stadt. Die Hedemannstraße und der Mehringplatz sind weitere Drehorte, die wir auf unserem heutigen Stadtspaziergang im Zeitungsviertel berühren.

Bomben auf Kreuzberg
In der südlichen Friedrichstadt sind nach einem Flächenbombardement im Zweiten Weltkrieg nur einzelne Altbauten wie zufällig stehen geblieben. Die Brüche sind bis heute sichtbar und spürbar, auch wenn der Stadtgrundriss sich in mehreren Etappen wieder mit Bauten füllte. Zuerst gab es einige wenige Nachkriegsbauten, dann die behutsame Stadterneuerung der IBA 1984/87 und schließlich viele Neubauten in der Nachwendezeit.

Am 3. Februar 1945 zwischen 10:39 und 12:18 hatten englische und amerikanische Bomber mit einem Flächenbombardement einen Luftkrieg gegen die Berliner Zivilbevölkerung geführt, der von General Eisenhower selbstkritisch als Terror eingestuft wurde. Nie in diesem Krieg war die Zahl der Todesopfer, Verletzten und Obdachlosen bei einem Bombenangriff höher. Das Regierungsviertel wurde praktisch ausgelöscht, in Kreuzberg wurden das Exportviertel an der Ritterstraße und das Zeitungsviertel an der Kochstraße zu Ruinen. Was von der gründerzeitlichen Bebauung erhalten blieb, wird heute in der Denkmaldatenbank "letzte bauliche Zeugnisse" genannt. Ohne Anbindung standen sie verloren im Stadtraum.

Nachkriegsbebauung
Werner Düttmann, der Berliner Senatsbaudirektor, hat in den 1970er Jahren den ersten kompletten Baublock in der südlichen Friedrichstadt an der Hedemannstraße neu errichtet. Am Blockrand ausgerichtet, mit einem großen gärtnerisch angelegten Innenhof, Tiefgaragen und individuellen Fassaden zu jeder der vier Straßenseiten. Der Baublock enthält Wohnungen in verschiedenen Größenvarianten, aber auch - was man vielleicht nicht vermuten würde - Atelierwohnungen, Maisonetten- und Penthaus-Dachwohnungen mit großen Sonnenterrassen.

Internationale Bauausstellung von 1984/87
Düttmann hat sich hier mit der Ausrichtung am Blockrand streng an den barocken Stadtgrundriss gehalten. Auch die Internationale Bauausstellung (IBA 1984/87) orientierte sich bei der Neubebauung des zerstörten Viertels am historischen Straßenverlauf, sorgte aber gleichzeitig für eine Durchlässigkeit mit Flächen für Erholung und Kultur. So entstanden die Rahel-Varnhagen-Promenade und die E.T.A.Hoffmann-Promenade, der Besselpark und der Theodor-Wolff-Park (wo vorher im Film das Zirkuszelt stand). Legendär ist die Diskussion um ein erhalten gebliebenes Robinienwäldchen in einem IBA-Neubaublock nördlich des Jüdischen Museums.

Nicht weiter verfolgt wurden die Pläne für eine Stadtautobahn, die die südliche Friedrichstadt oberhalb des Mehringplatzes durchschneiden sollte. Die Fritz-Klühs-Straße wurde auf der geplanten Stadtautobahntrasse angelegt. Noch heute schirmen Hochhauszeilen in dieser Straße den Platz von der nicht gebauten Schnellstraße ab.


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Zeitungsviertel
In der Metropole Berlin waren um 1900 die kessen Zeitungsjungen mit ihren Ballonmützen eine alltägliche, ja allgegenwärtige Erscheinung. Genau wie die Zeitungskioske an allen wichtigen Straßenecken versuchten sie, die in schneller Folge mehrmals am Tag erscheinenden Druckerzeugnisse - bis zu 150 Zeitungstitel - an den Mann zu bringen. Im Zeitungsviertel rund um die Kochstraße hatten sich die großen Verleger Mosse (1872: Berliner Tageblatt), Ullstein (1877: Berliner Zeitung) und Scherl (1883: Berliner Lokal-Anzeiger) niedergelassen. Die Zeitungsgiganten machten das Quartier zum weltweit größten Zeitungsviertel.

Vor 100 Jahren, im Januar 1919, besetzten Arbeiter und Soldaten das Zeitungsviertel. Ihr Ziel war das Verlagsgebäude des SPD-Zentralorgans "Vorwärts" wegen der fragwürdigen Rolle der SPD nach dem Novemberaufstand 1918. Die Besetzung wurde von Soldaten aus der Kreuzberger Dragonerkaserne beendet, mit ihrem brutalen Vorgehen haben sie eine unrühmliche Rolle gespielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Zeitungsviertel im Bombenhagel verschwunden, nur das Mossehaus konnte nach Bombenschäden vereinfacht wieder aufgebaut werden. Verlagstätigkeit ging nur noch vom Springer-Verlagshaus aus und der Tageszeitung taz, beide in der Rudi-Dutschke-Straße, bis die taz sich ein neues Domizil schuf.

Tageszeitung taz
Als ein pensionierter Lungenfacharzt vor kurzem berechnete, dass der Ausstoß von Dieselfahrzeugen keine messbaren Wirkungen auf die Gesundheit hat, unterschrieben 100 Kollegen diesen Befund. Er wurde nachgedruckt und nachgeplappert, am lautesten von unserem Bundesverkehrsminister. Unerschrocken rechnete die Tageszeitung taz nach, der Arzt hatte sich um den Faktor 1.000 verrechnet. Es ist eben immer gut, eine Alternative zu haben, und als alternativ versteht die taz sich seit ihrer Gründung 1978.

Inzwischen ist sie eine Genossenschaft und hat sich trotz der branchenüblich zurückgehenden Auflage ein neues Verlagsgebäude an der Friedrichstraße geleistet. Möglich wurde dies, weil das Bauland an ein Unternehmen der Kreativbranche vergeben werden sollte, ausnahmsweise war nicht das höchste Kaufangebot ausschlaggebend. Das Gebäude mit außenliegender Tragstruktur - einem rautenförmigen Netz von Stahlverbundstützen - ist ökologisch ausgerichtet, versorgt sich weitgehend selbst mit Energie und hält in der Tiefgarage nur Stellplätze für Fahrräder bereit.

Sternwarte, Markthalle, Blumengroßmarkt und eine zerstückelte Straße
Zwischen Besselpark und Markgrafenstraße stand die 1835 von Schinkel errichtete Berliner Sternwarte. Der Platz vor der Sternwarte war nach ihrem Direktor Johann Franz Encke benannt. Nach Umzug des Observatoriums in den Schlosspark Babelsberg wurde das Berliner Gebäude abgerissen und der Enckeplatz als Enckestraße nach zwei Seiten ausgedehnt. Im Norden mündete sie in die Charlottenstraße, im Süden endete sie an der Lindenstraße, wobei sie knirsch an der dort stehenden Markthalle abknickte.

Auf dem restlichen Sternwartengelände entstand 1922 ein Blumengroßmarkt, der bald eine neue Halle bekam. Blumenhalle und Markthalle wurden im Krieg durch Bomben zerstört. Jetzt nahm man der Enckestraße ihren südlichen Teil wieder weg und baute 1965 eine größere neue Blumenhalle. Dabei ist es geblieben, die Enckestraße ist immer noch eine Stichstraße ohne südliche Verbindung. Die IBA hätte die Blumenhalle gern abgerissen, sie war ein Fremdkörper bei der Neubebauung der südlichen Friedrichstadt. Es dauerte bis 2010, bis der Blumenmarkt zum Großmarktgelände an der Beusselstraße umzog.

Danach begann der Umbau zur Akademie des Jüdischen Museums nach den Plänen des Architekten Daniel Libeskind, der auch das Museum konzipiert hat. Wie bringt man in einer 130 Meter langen rechteckigen Halle einen Vortragssaal, eine Bibliothek und das Archiv des Museums unter? Wie zu erwarten entzieht sich der Entwurf jedem rechtwinkligen Grundriss. Libeskind ließ einen Teil der Hallenwand heraus fräsen und schob als Haus im Haus drei hölzerne Kuben in den Grundriss.


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Bundesanstalt BDBOS
So lernt man beim Flanieren unbekannte Behörden kennen: In der Neuenburger Straße erweckt ein zurückgesetzter Bau mit blauem seriellen Kachelmuster unsere Aufmerksamkeit, der wie eine Brücke zwischen Pylonen eingehängt wirkt. Hier wird in einem Testzentrum der digitale Behördenfunk verwaltet - Verzeihung: weiter entwickelt. Amtlich nennt sich das "Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS)". Dabei werden die Anforderungen an digitale Endgeräte festgelegt, wobei das Amt in einem 400-Punkte-Katalog unter anderem formuliert: "Es soll im Lieferumfang der Endgeräte das Endgerät selbst enthalten sein". Geniale Idee, wer kommt denn auf sowas?

Patentamt
Das Patentamt an der Gitschiner Straße wurde von dem Bombensturm weitgehend verschont. Zwischen Lindenstraße und Alexandrinenstraße folgt der 234 Meter lange Bau dem Landwehrkanal. Entworfen hat das Bauwerk die Architektengemeinschaft Hermann Solf und Franz Wichards. Auf Erschließungsfluren von 10 Kilometern Länge können die Beamten entlangeilen zu den 700 Diensträumen. Innerhalb von nur drei Jahren wurde 1905 der Komplex mit dem riesigen Bauvolumen fertiggestellt. Bis dahin hatte das 1877 gegründete Kaiserliche Patentamt mehrfach neue Quartiere bezogen, die nach kurzer Zeit wieder zu klein wurden.

Werner von Siemens hatte an dem Patentgesetz maßgebend mitgewirkt, das der Gründung des Patentamts vorausging. Das rasante Wachstum des Patentamts war ein Zeichen dafür, dass während der industriellen Revolution schutzwürdige Erfindungen in großer Zahl gemacht wurden. Inzwischen ist das Patentrecht um das Markenrecht ergänzt und ein Europäisches Patentamt geschaffen worden. Auch wenn die Durchsetzung von Schutzrechten viel schwieriger, langwieriger und teurer geworden ist, gibt es in unseren Tagen geniale Erfinder wie Artur Fischer ("Fischer-Dübel"), der mehr als 1.100 Patente und Gebrauchsmuster eintragen ließ.

Kirche St. Agnes
An der katholischen St. Agnes-Kirche in der Alexandrinenstraße ist nicht zufällig das Kreuz verloren gegangen, das an dem oberhalb des Kirchturms schwebenden Würfel angebracht war. Der Berliner Stadtbaurat Werner Düttmann hatte den Kirchenbau aus Sichtbeton 1966 in dem Kreuzberger Neubauviertel als Teil der Nachkriegsmoderne geschaffen. Das Gotteshaus wurde 2005 entwidmet, weil der Kirche die Gläubigen davonliefen. Eine Zeit lang hielt eine freikirchliche Gemeinde hier Gottesdienste ab, dann wurde das Gebäude zur Galerie umgebaut. Dem Denkmalschutz ist es zu danken, dass der Kirchenbau nicht abgerissen wurde.

Am Denkmaltag 2019 konnten wir sowohl das Patentamt als auch die Kirche St. Ansgar innen besichtigen, hier finden Sie den Bericht: Innenansichten von drei Epochen

Wer sich wundert, im Außenbereich der Kirche das Bild einer kaum bekleideten Schönheit zu finden - lasziv auf einer Säule hockend, "with her legs wide open"-, wird bildlich darauf vorbereitet, dass hier der Hauseigentümer gewechselt hat. Das japanische Model Kiko Mizuhara zeigt auf dem Bild eine "auffällige Annäherung an Freiheit, Kreativität, Kunst und Kultur", oder - anders gesagt - sie wirbt für das FashionMagazin “032c", also eine Annäherung an die Galerie in der Kirche.


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Für unser Flaniermahl sind wir in das Sale e Tabacchi in der Rudi-Dutschke-Straße eingekehrt. Das Lokal fing als Kantine der Tageszeitung taz an, behauptete sich als Restaurant, als die taz ein eigenes Cafe einrichtete und ist auch nach dem Umzug der Zeitung ins neue Verlagsgebäude an ihrem alten Standort geblieben.

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Zu diesem Bericht gibt es einen Forumsbeitrag:
Südliche Friedrichstadt, Korkmännchen (18.2.2019)
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Weitere Spaziergänge in der südlichen Friedrichstadt:
> Soldaten an der Friedrichstraße
> Kein Spital an keinem Platz
> Architektur kann man fühlen
> Eine Straße wird zerstückelt
> Von Zeitung zu Zeitung
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Unsere Route:
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Kathedrale für Pferde
Innenansichten von drei Epochen