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Eine Straße wird zerstückelt


Stadtbezirk: Mitte, Kreuzberg
Bereich: Jerusalemer Straße
Stadtplanaufruf: Berlin, Jerusalemer Straße
Datum: 10. Oktober 2011

"In West-Berlin gab es die glanzvollen Akzente der Hoffnung, der Tatkraft, des Aufbauwillens, in Ost-Berlin die melancholischen Akzente der Stagnation, des Rückfalls ins Mittelalter und der Trauer". So sah es jedenfalls Axel Caesar Springer 1966, als er sein Verlagshaus an der Kochstraße einweihte. Genauer gesagt steht es direkt auf der Jerusalemer Straße, die der Senat hierfür vom öffentlichen Straßenland in privates Bauland umgewidmet hat. Später wurde in Ost-Berlin an der Leipziger Straße ein Hochhaus ebenfalls auf der Jerusalemer Straße errichtet. Wir sind heute der Geschichte dieser systemübergreifend mehrfach zerstückelten Straße im wahrsten Wortsinne "nachgegangen".

Die Jerusalemer Straße wurde 1701 in der entstehenden Friedrichstadt angelegt, sie führte vom Hausvogteiplatz aus in direkter Linie in den Süden bis zur Lindenstraße. Benannt wurde sie nach der am südlichen Endpunkt seit 1484 bestehenden Jerusalemkirche, der Schinkel 1838 einen neuen Turm aufgesetzt hatte. Die Jerusalemkirche war eine der ältesten, der größten, der schönsten Kirchen des alten Berlin, ein weithin sichtbares Zeichen für das Zeitungsviertel, eine "Zierde der Residenz". Die Kirchengemeinde schrumpfte, als das Zeitungsviertel sich ausbreitete und der Anteil der Wohnbevölkerung immer geringer wurde. Während des Zweiten Weltkriegs - 1941 - erwarb Rumänien das Gotteshaus und nutzte es für eine rumänisch-orthodoxe Kirchengemeinde. Vier Jahre später - kurz vor Kriegsende - wurde durch Bomben das Kirchengebäude zur Ruine. Den ehrgeizigen Plänen Axel Caesar Springers, direkt an der Sektorengrenze ein Verlagsgebäude zu errichten, stand die Ruine im Wege, hier sollte die Kochstraße zu einem angemessenen Boulevard verbreitert werden. Zu welchen Bedingungen West-Berlin das Grundstück von der kommunistischen Regierung Rumäniens zurück kaufte, ist nicht bekannt, jedenfalls wurde es 1961 gesprengt, noch bevor wenige Meter weiter die Mauer gebaut wurde. Der Umriss der Kirche ist heute auf der Straße vor dem Springergebäude markiert.

Es war nicht ungewöhnlich im Nachkriegsdeutschland, sich über bestehende Straßenstrukturen hinweg zu setzen. Bekannt ist das Schimmelpfeng-Haus über der Kantstraße (dieser Teil wurde gerade abgetragen), an der Bundesallee finden sich mit der Überbauung der Pariser Straße und der Regensburger Straße (offen allerdings für Fußgänger und Radfahrer) weitere Beispiele dafür, dass auch architektonisch eine neue Zeit angebrochen war, die sich von alten Vorstellungen löste. Nachdem die Verbreiterung der Kochstraße gelungen war, setzte Springer sein Verlagsgebäude mitten auf die Jerusalemer Straße und bezeichnete dies als symbolischen Akt, wobei er sich vielleicht auf eine innere Verbindung zu Jerusalem bezog.

Auch 50 Jahre später ist das Springer-Pathos weiter lebendig. Bei der Einweihung der Skulptur „Balanceakt“ von Stephan Balkenhol vor dem Springerhaus heißt es: "Im Herzen der Hauptstadt des vereinten Deutschlands soll es die Kraft von Freiheit und Selbstbestimmung symbolisieren" – Springer sozusagen als Mitte ganz Deutschlands.

Der Grundstein für den Springerbau wurde 1959 gelegt, die Einweihung erfolgte 1966. Springer hat sein Haus also nicht "an der Mauer" gebaut, sondern an der Sektorengrenze, der Mauerbau kam während der Bauzeit. Vorbild war das Verlagshaus des Daily Mirror am Holborn Circus in London, dessen Seitenwange keine Fenster enthält. Dass das Springerhaus Richtung Ostberlin ebenfalls fensterlos blieb, beruht also weniger auf einer politischen Aussage als auf einer detailgetreue Kopie. Die Kochstraße wurde von Springer-Publikationen zu "Berlins fleet street" hochstilisiert in Anlehnung an die Londoner Zeitungsstraße. Zum Kennedy-Besuch 1963 stand Springer auf einer eigens errichteten Tribüne vor seinem Gebäude, der Präsident hielt aber nicht an, sondern fuhr auf der Kochstraße vorbei.

Mit 78 Meter Höhe beherrschte das Springergebäude den Luftraum an der Berliner Mitte, bis 1969 mit den 368 Metern des Fernsehturms die DDR wieder die Führung übernahm. Trotzdem blieb das weithin hinter der Ruinenfläche der Leipziger Straße sichtbare Verlagshaus und die Nachrichtenleuchtschrift auf dem GSW-Hochhaus ein Ärgernis für Ost-Berlin. Beide Berliner Teilstädte belauerten sich und reagierten aufeinander, wodurch wir mit der Wiedervereinigung eine Zwillingsstadt bekamen, in der vieles doppelt vorhanden ist, wie Zoo / Tierpark, Funkturm / Fernsehturm, Kongresshalle / Kongreßzentrum, Hansaviertel / Stalinallee usw. Manches war natürlich schon vorher da, wie die Zentren West Kudamm / Zoo / Breitscheidplatz und Ost Unter den Linden / Friedrichstraße / Alexanderplatz, aber auch dort wurde ohne direkte Nachbarschaft der Wettkampf der Systeme ausgetragen.

Zurück zur Leipziger Straße. Nach Moskauer Typologie wurden hier dringend benötigte Wohnungen in Turmhochhäusern an der südlichen Straßenseite und Scheibenhochhäusern an der nördlichen geschaffen. Der Moskauer Kalinin-Prospekt stand als neue Verkehrsachse und Gegenentwurf zu traditionsbewussten Stadtvierteln für radikale Modernisierung, Macht, Repräsentation, Fortschritt im Sputnik-Zeitalter. Die in diesem Zeitgeist errichteten Hochhäuser an der Leipziger Straße haben gleichzeitig körperlich der Blick auf Springer und die Westnachrichten verbaut oder behindert, ein doppelter Gewinn für Ost-Berlin. Und als ginge es nicht ohne Abgucken beim feindlichen Bruder und ohne Nacheifern, wurde auch hier das Straßenland der Jerusalemer Straße bebaut. Nun war sie auf beiden Seiten unterbrochen. Da sie aber im Osten als Zubringerstraße zum Mossehaus gebraucht wurde, legte man sie in Teilstücken um die Bebauung herum neu an, so dass sie heute - mehrfach verschwenkt - wieder vom Hausvogteiplatz bis vor das Springerhaus führt. Zum Peilen kann man (wo immer man es sieht) das Verlagshaus nehmen, dann erkennt man, dass die verwucherte Fläche zwischen Krausen- und Schützenstraße ehemaliges Straßenland der Jerusalemer ist.

Und dann gab es da noch einen Grenzzwischenfall, bei dem das Springerhaus eine undurchschaubare Rolle spielte. Der DDR-Grenzer Reinhold Huhn wird von einem Fluchthelfer erschossen, der durch einen Fluchttunnel vom Verlagsgelände zur Jerusalemer Straße herausgekommen ist und nach dem Zwischenfall auf diesem Wege auch wieder zurückgeht. Im Westen wird der Schütze politisch gedeckt, der Osten nutzt den Vorfall propagandistisch. Gegenüber dem Mossehaus wird eine Gedenkstätte gebaut, von der heute nur noch die in den Boden eingelassene Einfassung übrig ist, die so gar nicht wie ein Rinnstein aussieht.

Auf dem beigefügten Stadtplan von 1710 sieht man, dass die Jerusalemer Straße im Norden zunächst nicht bis an den Hausvogteiplatz heran geführt werden konnte, weil hier die sternförmige Festung lag, in die Berlin und Cölln nach dem Dreißigjährigen Krieg verwandelt worden war. 1658 hatte Berlin begonnen, Mauerwälle und Bastionen zu bauen, um die Stadt zukünftig vor Kriegen zu schützen - ein teures und überflüssiges Unterfangen, denn bereits beim Bau war die Festung strategisch überholt, konnte doch mit der größeren Reichweite der Geschütze jeder Punkt innerhalb der Festung erreicht werden. Und so wurde 1683 der Festungsbau eingestellt, ab 1740 wurden die Wälle wieder eingeebnet. Für die Stadterweiterung erwies sich der Festungsbau als hinderlich, Vorstädte wie Dorotheenstadt und Friedrichstadt lagen außerhalb der Befestigung und waren von Berlin und Cölln nur durch Stadttore zu erreichen.

Der Hausvogteiplatz wurde auf einer ehemaligen Bastion der Festung errichtet. Für eine Brücke über den damals noch vorhandenen Festungsgraben im Verlauf der Mohrenstraße entwarf Carl Gotthard Langhans die Mohrenkolonnaden als Brückenhallen für Verkaufsstände. Diese Kolonnaden stehen als einzige noch heute an ihrem ursprünglichen Platz - von späteren Bauten eingerahmt. Auch die Spittelkolonnaden flankierten eine Brücke über den Festungsgraben, und zwar im Verlauf der Leipziger Straße. Sie wurden nach Kriegszerstörung nur zur Hälfte wieder aufgebaut und etwas versetzt vom ursprünglichen Ort aufgestellt. Im Stadtplan gibt es hinter der Wilhelmstraße die 1989 geschaffene Straße "An der Kolonnade", außer im Namen ist hier aber keine Kolonnade zu finden. Vermutlich hat die DDR hier einen weiteren Teil der Spittelkolonnaden errichten wollen, die Wende kam dazwischen. Die Königskolonnaden schließlich, die heute am Kleistpark stehen, wurden ursprünglich auf der Brücke über den Festungsgraben im Verlauf der Königstraße gebaut.

Wir waren die Jerusalemer Straße von Nord nach Süd gelaufen, und so standen wir mit hungrigem Magen in der Lindenstraße vor der Wahl zwischen "internationaler Küche" mit deutscher Volksmusik-Beschallung oder einem nordafrikanisch geprägten Italiener in vollflächig orange gestrichenen verwinkelten Räumen. Wir sind nicht hungrig nach Hause gekommen, aber unser heftig pochendes ästhetisches Empfinden mussten wir vorübergehend abschalten.

Zum Schluss noch eine Randbemerkung: Völlig unerwartet kam es während unseres Spaziergangs zu heftigen Böen, über die sich aber mein asymmetrischer Spezialschirm freute, weil er sich dann im Wind drehen kann, ohne vom Schirm zum Trichter umzuschlagen. Nur sieht das Teil dank der Asymmetrie so zerfranst aus, als wäre ich schon Opfer eines Orkans geworden, die Kommentare von Passanten waren entsprechend.

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mehr über die Kolonnaden: Kolonnaden
mehr zum Festungsgraben: Verschiebebahnhof


Am Fuße des Kreuzbergs
Erste Kreuzberger Wohngemeinschaft