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Alles nur geklaut


Stadtteil: Wilmersdorf
Bereich: Schmargendorf
Stadtplanaufruf: Berlin, Krampasplatz
Datum: 18. Februar 2013

Ein Mann dringt in die Träume anderer Menschen ein und stiehlt ihnen ihre Ideen. Leonardo DiCaprio ist in dem Film "Inception" der Dieb, der das Unterbewusste anderer Menschen ausforscht. Der Film spielt in einer Zukunft, in der die Gedanken der Menschen eine begehrte Ware sind. Aber war das nicht schon immer so? Ideen, die zu technischem Fortschritt führten, wurden und werden ausgeforscht, um an den Stand der Technik mit geringem eigenen Aufwand anknüpfen zu können. Natürlich denken wir dabei gleich an China, beispielsweise bei der Eisenbahntechnik. Hatte den Transrapid in Shanghai noch ein deutsches Konsortium gebaut, so zeigt China inzwischen stolz die von ihm entwickelte Magnetschwebebahn, die "ganz ist anders als die deutsche". Hatte Siemens 2009 einen Großauftrag aus China für Hochgeschwindigkeitszüge erhalten, so will China jetzt selbst ein Konkurrenzprodukt exportieren, das "zu 90 Prozent sein geistiges Eigentum“ ist. Industriespionage lässt sich langfristig nicht vermeiden, Produktpiraterie ist ein globales Thema.

Dass auch Deutschland ein technisches Entwicklungsland war, das in einem Nachbarland die höher entwickelten Produkte ausspioniert hat, ist aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden. Vor zwei Jahrhunderten war England das führende Industrieland. Mechanische Webstühle, Spinnereimaschinen, Textilfabriken, Eisenguss, Maschinenbau, Lokomotiven, Energieerzeugung durch Wassermühlen und die industriell einsetzbare Dampfmaschine, alles wurde in England entwickelt. England war reich, hatte Kolonien und einen offenen Binnenmarkt, in Deutschland führte die Kleinstaaterei vor der Zollunion von 1834 zu unübersehbar vielen Zollschranken und Handelshindernissen.

Der Versuch der 1804 in der Invalidenstraße gegründeten Königlich Preußischen Eisengießerei, eine funktionsfähige Lokomotive herzustellen, scheiterte kläglich (1), obwohl zwei preußische Beamte zum "Studium" der Lokomotiven nach England geschickt wurden. Bevor Franz Anton Egells in der Chausseestraße eine eigene Eisengießerei aufmachte, führte ihn eine längere „Studienreise“ mit staatlicher preußischer Unterstützung zu englischen Maschinenbauanstalten (2). Als 1842 die Fontänen in Sanssouci mit einer Dampfmaschine von Borsig in Betrieb genommen wurden, mussten für die Maschine Teile aus England besorgt werden, Borsig fehlte das Know-how für die eigene Herstellung. Auch die Architektur bediente sich in England. Hermann Muthesius erforschte als Architektur-Attaché an die Londoner Botschaft "Das englische Haus" und brachte den Typus des Landhauses nach Berlin (3).

Die nächste Phase, um Englands Wissen abzuschöpfen, war der Technologietransfers vor Ort. Die Berliner Wasserversorgung wurde ab 1853 von der "Berliner Waterworks Company" aufgebaut. Der Name deutet es bereits an: es war ein Joint Venture Preußens mit einem englischen Unternehmen, das die entsprechende Technologie mitbrachte. 19 Jahre später übernahm die Stadt den Wasserwerksdirektor als Mitarbeiter und baute eigene städtische Wasserwerke auf. Das Know-how war auf Berlin übergegangen.

Bei der Gasversorgung lief es ähnlich ab. Um 1820 gab es in England bereits mehr als vierzig Gasgesellschaften. Um auch ausländische Märkte zu erschließen, wurde in London die "Imperial Continental Gas Association" (ICGA) gegründet. Sie übernahm 1825 den Aufbau der Berliner Gas-Straßenbeleuchtung, der Vertrag lief 21 Jahre. Wie nicht anders zu erwarten, baute Berlin sofort nach Vertragsablauf eigene Gaswerke, beispielsweise in der Danziger Straße (4), doch die ICGA blieb weiter im Markt und errichtete neue Werke, unter anderem in Schöneberg (5) und in Mariendorf (6). Rabattschlachten zwischen den beiden Konkurrenten kamen den Berlinern zugute, nirgendwo in Deutschland war der Gaspreis niedriger, und so stieg die Nachfrage nach Gas weiter an. Erst als Deutschland und England im Ersten Weltkrieg gegeneinander kämpften, kam das Ende der ICGA, sie wurde 1916 liquidiert. Allerdings konnte Berlin die Werke nicht übernehmen, die umliegenden Kreise Teltow und Niederbarnim hatten die Stadt überboten. Erst bei der Gründung Groß-Berlins 1920 wurde der Gasmarkt neu geordnet.

In Schmargendorf - das wir für unseren heutigen Stadtspaziergang ausgesucht haben - steht nicht nur eine Reihe interessanter Siedlungen, aus den 1920er Jahren sondern auch ein Verwaltungsgebäude, das als einziges vom Gaswerk Schmargendorf an der Forckenbeckstraße übrig geblieben ist. Es war das fünfte von sechs städtischen Gaswerken. Der Baubeginn zog sich 15 Jahre hin, weil eine Bürgerbewegung in den 1880er Jahren erfolgreich gegen den vorgesehenen Bauplatz im Friedenauer Villenviertel klagte. Man glaubt es kaum: Im Kaiserreich verhindern in der Gründerzeit Bürger durch ihre Klage ein Infrastrukturprojekt! So wurde Schmargendorf neuer Standort des Projekts, man setzte sich hier mitten in das Versorgungsgebiet der konkurrierenden ICGA. 1893 erbaut, wurde das Werk 1924 bereits wieder stillgelegt. Als sich 1908 ein internationales Publikum in Schmargendorf versammelte, um die Heißluftballons für die Gordon-Bennett-Ballonflugwoche starten zu sehen (7), wurden die Ballons direkt vom Behälter des Schmargendorfer Gaswerks aus befüllt. Die angrenzende Cunostraße ist nach dem Direktor des Gaswerks Rudolf Cuno benannt.

Nach dem Abriss des Gaswerks nutzte man das Gelände für Sportplätze. Aus Trümmerschutt des Zweiten Weltkriegs entstanden dort ab 1948 das Stadion Wilmersdorf, ein Stadtbad, eine Sporthalle und ein Eisstadion. Wie beim Gaswerk in der Danziger Straße wurden - nachdem sich ein Umweltbewusstsein gebildet hatte - Cyanide und andere Rückstände im Boden gefunden, die aufwendig entsorgt werden mussten.

Unser Spaziergang beginnt am U-Bahnhof Breitenbachplatz (8). An der Lentzeallee ist eine uniforme Neubausiedlung entstanden, die Townhouses und Mehrfamilienhäuser verspricht, aber auf gestalterische Differenzierung verzichtet. Projektentwickler ist die Groth-Gruppe, Wahlspruch: "Wir prägen Berlins neues Gesicht", Saturn hätte bestimmt daraus gemacht: „Soo! muss Architektur“. Markant ist nur der von Herrn Groth im Innenhof aufgestellte Obelisk. Wollte man dessen psychologische Deutung auf die Spitze treiben, könnte man fragen, ob das Jade sein soll.

Über die Lentzesiedlung zwischen Zoppoter und Misdroyer Straße - eine der Kleinsiedlungen der 1920er Jahre - hatte ich bereits geschrieben (9). Zwischen Borkumer und Heiligendammer Straße schließt sich die Siedlung des Beamtenwohnungsvereins zu Köpenick an, die ab 1928 in mehreren Abschnitten von verschiedenen Architekten entworfen wurde. Von Otto Rudolf Salvisberg - einem der Architekten der Weltkulturerbe-Siedlung "Weißen-Stadt" in Reinickendorf (10) - begegnen uns heute in Schmargendorf insgesamt drei Siedlungen: Zwei kleine Wohnanlagen, eine an der Dievenow-, Hohmannstraße und Heiligendammer mit schlichten Putzbauten. Vom Krampasplatz zur Heiligendammer Straße erstreckt sich mit ungewöhnlichen Details eine weitere Wohnanlage. Die Gesimsbänder wölben sich um die quadratischen Regenfallrohre, die Etagen werden stufenweise hinter solche roten Gesimsbänder zurückgesetzt. Rote Fensterumrandungen lockern den Gebäudekubus auf. Und als drittes Werk des Architekten Salvisberg eine "Heimstättensiedlung", ein komplett umbauter Straßenblock zwischen Kissinger Straße und Hohenzollerndamm entlang der Auguste-Viktoria-Straße und Davoser Straße. Die langen grauen Putzbauten sind durch vorspringende Gebäudeteile unterbrochen und mit Klinkerbändern an den Eingängen und Balkons verziert.

Südlich der Kissinger Straße schließt sich ein Baublock an, der für den Erbbauverein Moabit errichtet wurde. Die Bauten rahmen ein Landhaus an der Davoser Str.19 ein, das ein Direktor des Siemenswerks erbauen ließ. Die letzte Siedlung auf unserem Weg ist die Reichsbanksiedlung um den Kissinger Platz, erbaut von Werner March, der später das Olympiagelände für die Spiele 1936 entworfen hat (11). Wie alle anderen hier erwähnten Siedlungsbauten sind die Gebäude in den 1920er Jahren entstanden. March hat hier Reformwohnungsbau mit großer Wohnqualität geschaffen. Die Bauten umschließen große grüne Innenhöfe, die Wohnungen haben drei bis sechs Zimmer, in den Dachböden befinden sich Waschküchen. Die Fassaden sind durch Erker betont, Fenster unterteilt durch Quersprossen sowie dunkelgrüne Fensterumrandungen, Türen und Fensterläden geben dem Bau ein eindrucksvolles Gesicht. Im nördlichen Bauabschnitt haben die Häuser Vorgärten. Den von der Straße zurückgesetzten Eingangsbauten im Süden nähert man sich über breite Treppen, die die Erhabenheit des Baus vermitteln.

Turtelnde Tauben auf dem Medaillon an einem Haus, ein paar Schritte weiter- auf dem Schmargendorfer Friedhof hinter der Dorfkirche - eine weiße Rose vor einem Grabstein, gewidmet der "geliebten Mutter". Ein künstlerisches Grabgebäude für den Reichsbankarchitekten Julius Habicht, ein Mausoleum für die Familie des Zimmermeisters Zimmermann, aber nur bescheidene Steine für den Maler Max Pechstein, den Verleger Franz Cornelsen und den Physiker und Berliner Wissenschaftssenator der 1968er-Zeit Werner Stein. Sieht man diese Kontraste, dann kann einem die Idee kommen, der Tod sei die Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln - jedenfalls soweit er sich auf dem Friedhof manifestiert.
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(1) Königliche Eisengießerei: Sachbearbeiter in Käfighaltung
(2) Eisengießerei von Franz Anton Egells: Hosenbandorden auf dem Hinterhof
(3) Muthesius "Das englische Haus": Ein gradliniger Lebenslauf
(4) Gaswerk Danziger Straße: Thälmann und Sternenhimmel
(5) Gaswerk Schöneberg: Rote Insel
(6) Gaswerk Mariendorf: Zum Skifahren ins Gaswerk
(7) Gordon-Bennett-Ballonflugwoche in Schmargendorf:
Schmargendorf - ein Markgrafendorf
(8) Breitenbachplatz als Ausgangspunkt eines früheren Spaziergangs:
Private Stationsansage
(9) Lentzesiedlung: Ein gradliniger Lebenslauf
(10) Otto Rudolf Salvisberg: Salvisberg, Otto Rudolf Architekt
(11) Werner March: March, Werner und Otto


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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Zweideutiger Willkommensgruß
Säuglingspalast mit Kuhstall