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Auf dem Pilgerweg durch Berlins Süden


Stadtteil: Treptow-Köpenick
Bereich: Hessenwinkel
Stadtplanaufruf: Berlin, Im Haselwinkel
Datum: 13. Dezember 2021
Bericht Nr.:757

Von der Schilderung einer Pilgerreise "Ich bin dann mal weg" haben sich seit dem Jahr 2006 Millionen Menschen faszinieren lassen. Allein in Deutschland wurde das Buch drei Millionen Mal gedruckt. Der Entertainer H. P. Kerkeling hatte sich auf die spirituelle Reise nach Santiago de Compostela aufgemacht, um innere Einkehr zu finden, und hat das plastisch, amüsant, manchmal tiefsinnig beschrieben. Der Jakobsweg führt zu dem Grab des heiligen Jakobus, des Apostels, der während seiner Missionstätigkeit ermordet wurde. Die über seinem Grab ab 1075 errichtete Kathedrale wurde zum Wallfahrtszentrum für Katholiken aus aller Welt. Mehrere Jakobswege führen dorthin.

Hat sich Kerkeling einen schlanken Fuß gemacht, - könnte man scherzhaft fragen - als er seine Pilgerreise in den Pyrenäen begann, an der Grenze von Frankreich zu Spanien? Von Saint-Jean-Pied-de-Port hat er in gut einem Monat mehr als 700 km bis zum Grab des heiligen Jakobus zurücklegt. Aber auch durch Deutschland führen Pilgerwege dorthin, man wäre bis zu 3.000 km zu Fuß unterwegs. Das könnte mehrere Monate dauern, inzwischen wäre ein Entertainer in seiner Heimat vergessen.

Berliner Jakobswege
Aber vielleicht möchten Berliner wenigstens den Anfang des Pilgerwegs in ihrer Stadt laufen, denn tatsächlich gibt es zwei Pilgerrouten nach Spanien, die durch die Stadt führen (+). Es sind eine Nord-Süd-Strecke und eine Ost-West-Strecke, die sich in einem Waldstück unterhalb vom Lichterfelde (nahe Jenbacher Weg) kreuzen und letztlich in den spanischen Pilgerort führen. Auf Wegen, die im Mittelalter angelegt wurden, kann man so 1. von Stralsund nach Rom durch Berlin kommen oder 2. von Frankfurt an der Oder über Potsdam, Magdeburg, Leipzig, Eisenach nach Süddeutschland und von dort aus weiter.

Der Pilger beschreitet den Weg der Erkenntnis und der inneren Einkehr. Er hat die geistlichen Stationen im Blick, durchstreift die christliche Kulturlandschaft mit Kirchen und Klöstern, sucht die Pilgerherbergen bei den Kirchengemeinden und bittet um den Stempel in seinem Pilgerpass, damit er zeigen kann: Ich war da. Die gelbe Muschel auf blauem Grund markiert den Weg und ist Erkennungszeichen der Pilger. In der freien Natur sind es landschaftliche Reize, die den Kick ausmachen, in der Stadt die markanten Punkte, die sich zu einer Stadtführung eigener Art verbinden.

Sparen wir uns also die Anreise und gehen direkt vor der Haustür los auf einen Berliner Jakobsweg. Dann brauchen wir kein wochenlanges Training vor der Abreise, keinen extra Arzt- und Zahnarztbesuch, keine Schmerztabletten und Spezialpflaster für Blasen an den Füßen. Wir haben uns heute den Ost-West-Pfad im Süden der Stadt vorgenommen. Anders als auf dem Nord-Süd-Weg gibt es hier noch keine Markierungen und keine Stempelstation. Die mehr als 50 km lange Route sind wir nicht gelaufen - auch wenn die GPS-Tracks das vermuten ließen - sondern haben sie aus dem Einblick früherer Stadtwanderungen heraus beschrieben.

Hessenwinkel
Von Erkner kommend, begleitet der Pilgerweg in Hessenwinkel den Nordrand des Dämeritzsees auf der Lindenstraße und Kanalstraße. Ein Pilger wird nicht versäumen, die Waldkapelle "Zum anklopfenden Christus" zu besuchen. Dass Christus nicht einfach erscheint, sondern vorher anklopft, wird in der Offenbarung des Johannes erzählt: "Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten".



Für den an Architektur interessierten Wanderer liegen zwei interessante Villen am Weg: eine Backstein-Burg mit Zinnen ("Villa Burgfrieden") und eine prächtige weiße Villa, die Kronprinz Wilhelm von Preußen, Sohn des letzten Kaisers Wilhelm II. erbaut haben soll.

Bei einem Abstecher zum Friedhof Wilhelmshagen kann man am Grab Gramatté einer ungewöhnlichen Dreiecksgeschichte nachspüren. Gramatté war ein Maler, der mit 32 Jahren starb. Die Witwe hat wieder geheiratet. Der zweite Mann, ein Kunsthistoriker, betreute den malerischen Nachlass des ersten Mannes. Als sie 45 Jahre später in Kanada starb, ließ sie sich überführen und neben ihrem ersten Mann in Wilhelmshagen begraben. Weitere 21 Jahre später starb in Kanada auch ihr zweiter Mann, er liegt jetzt als Dritter in der Grabstätte Gramatté.

Müggelheim, Friedrichshagen
Im weiteren Verlauf wird das Südufer des Müggelsees erreicht. Zwei Siedlungen, in denen die Preußenkönige Zuwanderer aus Böhmen und der Pfalz ansiedelten, liegen am Weg: Das Dorf Müggelheim, das später noch einmal vertriebenen Menschen Zuflucht bot, als im Zweiten Weltkrieg Berliner in der Innenstadt durch Bombenangriffe ihre Wohnungen verloren. In Müggelheim wurden Notunterkünfte erbaut, standardisierte Holzhäuser, die den Gartenlauben der Kleingärtner ähnelten und auch in ähnlicher Siedlungsform gruppiert wurden.


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Im Kolonistendorf Friedrichshagen entwickelte sich später durch zugewanderte Intellektuelle ein Dichterkreis, der Impulse gab für den Naturalismus in der Literatur, für die Lebensreformbewegung, für die Volksbühnen- und Volkshochschulentwicklung. Strenggläubige katholische Pilger werden sich den Abstecher nach Friedrichshagen sparen, weil dort ein Hygieneartikel hergestellt wurde, der dem päpstlichen Verbot künstlicher Empfängnisverhütung zuwiderlief: Julius Fromm stellte dort bis zum Zweiten Weltkrieg in der Fromms-Fabrik Präservative her.

Wendenschloß, Grünau
Vom Müggelsee ist es nicht weit bis zur Villensiedlung Wendenschloß in Köpenick. Das Wendenschloß machte Weltgeschichte: Das "Schloß" war eine Waldgaststätte, in der mit Ende des Zweiten Weltkriegs das Sowjetische Oberkommando seinen Sitz nahm. Am 5. Juni 1945 proklamierten die vier Siegermächte dort mit der "Berliner Erklärung" den Beginn des Besatzungsstatus für Deutschland. Der historische Bau ist nicht erhalten, er war verfallen und wurde nach der Wende abgerissen.


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Der Pilgerweg überquert vom Wendenschloß aus auf der Fähre die Dahme und kommt nach Grünau, wo die Friedenskirche auf Gläubige wartet. Wie so oft bei evangelischen Kirchen um die damalige Jahrhundertwende hatte die Kaiserin Auguste den Kirchenbau unterstützt, die Berliner nannten sie deshalb liebevoll "Kirchenjuste". Die Friedenskirche bekam 1906 ihren Namen auf Vorschlag ihres Pfarrers. War es nur ein frommer Wunsch oder bezog es sich auf den Frieden zwischen Japan und Russland, für dessen Vermittlung der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt den Friedensnobelpreis bekommen hatte?

Außergewöhnlich ist die Gestaltung der Fassade und des Kirchenschiffs mit Blumen und Pflanzen, in Holz geschnitzt, gemalt, in Sandstein gehauen, in Kupfer getrieben. In ihnen zeigt sich die Schönheit der Schöpfung, mit ihrem Verwelken erinnern sie uns gleichzeitig an die Vergänglichkeit.

Auch in Grünau wurden Kolonisten angesiedelt, genau wie in Müggelheim und Friedrichshagen. Der Ort wurde später zum Erholungsgebiet der Berliner, die Reste des Gesellschaftshauses und Hotels Riviera konnten gerade vor der vollständigen Zerstörung gerettet werden.

Die Regattastrecke Grünau wurde 1868 mit einer privaten Segelregatta eröffnet, 1936 fanden Wettkämpfe der Olympischen Spiele dort statt. Die Wasserkampfbahn ist die älteste Sportstätte Berlins, die immer noch genutzt wird.

Rudow
Der Pilgerweg umrundet in seinem weiteren Verlauf Rudow, Marienfelde und Lichtenrade und passt sich dabei an alle Ecken und Verläufe der Stadtgrenze an, mal auf Berliner, mal auf Brandenburger Gebiet verlaufend. Der mittelalterliche Weg für die Pilger ist sicher nicht exakt so verlaufen, man hat bei der Neufestlegung der Route Grünflächen, Uferwege und andere fürs Wandern geeignete Pfade gewählt und vielbefahrene Straßen möglichst vermieden. Dagegen ist der Pilgerweg über die mittelalterlichen Straßen Via Regia und Via Imperii weitgehend authentisch.

Die Grenze Rudow umrandet in einem spitzen Winkel die Erhebung "Dörferblick". Der Wanderer kommt dort an einem Trümmerberg vorbei, der 1954 dann auch noch zur Müllkippe wurde. Im äußersten Winkel der Stadt gelegen, man ahnt, was sich West-Berlin dabei gedacht hat, als sie der DDR das vor die Tür gesetzt hat. Heute ist es ein Naherholungsgebiet, von dort kann man die umliegenden Brandenburger Dörfer sehen („Dörferblick“) oder nach Berlin gewandt die Gropiusstadt.

Lichtenrade, Marienfelde
In Lichtenrade hätte man "Berlins griechische Morgengöttin" Hermione von Preuschen besuchen können, solange ihre Villa in der Prinzessinnenstraße noch stand. Die Malerin hatte mit dem Gemälde "Mors Imperator“ (Der Tod ist der Herrscher) Aufsehen erregt. Sie hatte ein "Skelett mit prächtigem Hermelinumhang gemalt, auf dem Totenkopf eine Krone, die Skeletthand gestützt auf einen Thron, der in sich zusammenfällt". Die weitgereiste Weltbürgerin hat nicht nur gemalt, sondern war auch Schriftstellerin, Lyrikerin, Frauenrechtlerin.


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Der gottesfürchtige Pilger findet in allen Dörfern auf dem Wege Dorfkirchen, die vielleicht während der mittelalterlichen Pilgerbewegung Herbergen vermitteln konnten. Viele Dörfer wurden für Flüchtlinge oder Zugewanderte angelegt. In die Reihe der Orte, die vertriebenen Menschen Zuflucht boten, gehört das Notaufnahmelager Marienfelde für Flüchtlinge aus der DDR.

In Marienfelde befand man sich im Herrschaftsbereich der Tempelritter. Der Kreuzritterorden nahm an den Kreuzzügen zur Befreiung des Heiligen Landes von den "Ungläubigen" teil. Die Templer hatten nach 1200 die Dörfer Tempelhof, Mariendorf und Marienfelde gegründet und Verwaltung ihrer Dörfer in der Komturei Tempelhof konzentriert. Es war eine Niederlassung des geistlichen Ordens, die vor allem der Bewirtschaftung ihrer Güter diente, aber auch die Bankgeschäfte der Kreuzritter im Heiligen Land regelte. Nach der Auflösung des Templerordens übernahmen die Johanniter dessen Besitz und Güter.

In Marienfelde wäre ein Abstecher zum "Kloster Vom Guten Hirten" möglich, aber was der Wanderer dort erfährt, wird ihn nicht erfreuen. Im Kloster wurden sittlich gefährdete Mädchen vor dem vermeintlich schädlichen Einfluss der Großstadt wie Gefangene gehalten. Das Kloster war baulich um einen Beobachtungsturm gruppiert, von dem man in alle sternförmig angeordneten Zellentrakte sehen konnte. (Eine ähnliche Anlage gegenüber dem Hauptbahnhof ist als "Zellengefängnis" bekannt). Am Beobachtungspunkt des Klosters stand der Hochaltar, der Priester war gleichzeitig Wärter der Anlage und blickte als Voyeur in die Mädchenkammern. Den Mädchen war der Kontakt untereinander verboten, die "Fürsorge" beruhte auf Isolierung.

Steinstücken
Südlich des Teltowkanals geht es an Lichterfelde vorbei, erst in Steinstücken erreicht der Pilgerweg wieder für ein paar Meter den Berliner Stadtraum. Der Ortsteil war eine Exklave, gehörte seit 1787 zum Zehlendorfer Dorf Stolpe, war aber räumlich nicht mit ihm verbunden. Wie alle Exklaven war auch Steinstücken der DDR ein Dorn im Auge. Nach dem Mauerbau marschierte die DDR-Volkspolizei in Steinstücken ein, zog aber nach deutlichen Protesten wieder ab. Sofort ließ der Stadtkommandant Lucius D. Clay dort einen Hubschrauber-Landeplatz anlegen und stationierte drei amerikanische Soldaten. Ein Denkmal aus zwei Rotorblättern erinnert an Clay, der Berlin schon mit der Luftbrücke gerettet hatte.


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Der Pilgerweg verläuft über die Eisenbahnbrücke der Strecke von Wannsee nach Potsdam. Beim Gebietsaustausch 1971 wurde zwar ein Straßenzugang zur Stadt geschaffen, die DDR war aber nicht bereit, das Bahngelände abzugeben. Deshalb wurde für die Straßenbrücke über der Eisenbahn eine Sonderregelung getroffen: die Schienen und der Luftraum von 4 Metern darüber bis zur Brückenunterkante gehörten zur DDR, die Brücke und der Luftraum darüber zu Berlin.

Damit sind wir auf unserem Pilgerweg durch den Süden Berlins am Ziel angekommen. Für den Wanderer geht es weiter durch Brandenburg auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Die durch Berlins Mitte führende Pilgerroute haben wir uns für einen weiteren Bericht aufgehoben.

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(+) Ein dritter Pilgerweg führt über Heiligensee zur Kirche in Wilsnack. Dort wurden drei mit Blut befleckten Hostien magische Kräfte zugeschrieben. Nach der Reformation war es mit dem Wunder der Bluthostien vorbei, der evangelische Pfarrer hatte sie vernichtet. Mehr dazu können Sie hier lesen:
Ich bin dann mal weg
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