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Schönheitspreis eines meisterlichen Schachspielers


Stadtteil: Steglitz
Bereich: „Paulsenviertel“
Stadtplanaufruf: Berlin, Fritschweg
Datum: 31. Juli 2017
Bericht Nr.: 594

Zwischen der offenen, landhausmäßige Bebauung am Fichtenberg und der geschlossenen Wohnbebauung an der Schildhornstraße liegt ein bürgerliches Steglitzer Wohnviertel, das ich "Paulsenviertel" nenne. Hier wird erfahrbar, wie die Entwicklung vom Villenvorort zum großstädtischen Quartier vor sich ging, Bauten aus beiden Phasen zeigen den allmählichen Übergang. Doch zunächst beschäftigen wir uns mit einem außergewöhnlichen Bau der Nachkriegsmoderne.

VW-Pavillon
An der Schloßstraße Ecke Grunewaldstraße ließ Eduard Winter 1951 einen gläsernen runden Pavillon mit einer Krempe erbauen, einem weit überkragenden Dach. Der äußere, den Pavillon umschließende Glaszylinder dient als Schaufenster. In einem weiteren kleineren Glaszylinder im Inneren befindet sich der Verkaufsraum. Es ist ein Bau der Nachkriegsmoderne, der bis heute die Blicke auf sich zieht. Der Berliner Eduard Winter war in den 1930er Jahren Europas größter Autohändler. Die amerikanischen Autos hatten es ihm angetan, er importierte US-Automobile und verkaufte als Berliner Generalvertreter Opel-Fahrzeuge. Opel war der größte Fahrzeughersteller im Deutschen Reich, verlor aber während der Weltwirtschaftskrise seine Selbstständigkeit und wurde von dem amerikanischen Konzern General Motors übernommen. Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs verkaufte Eduard Winter seinen Autohandel und ging nach Amerika. Von dort kam er 1951 zurück und übernahm die Generalvertretung von Volkswagen und Porsche.

Durch die Scheiben des Rondells konnte der VW-Käfer von allen Seiten bewundert werden. Es war schließlich jahrzehntelang das einzige Auto, das VW herstellte. Von 1946 bis 1974 liefen knapp 12 Mio. Käfer vom Band, danach begann die Produktion des Golfs, der immer noch "läuft und läuft und läuft". Dabei wäre VW fast unter die Räder gekommen, diese unglaubliche jahrzehntelange Monokultur umzustellen, forderte seinen Preis. Bis dahin waren kleine Korrekturen am Käfer stets wie neue Modelle angekündigt und gefeiert worden. Dem geteilten Rückfenster des „Brezelkäfers“ folgte ein einteiliges ovales Fenster, später ein rechteckiges. Die Stoßstangen wurden höher angebracht und die Rückleuchten vergrößert ("Bügeleisenleuchten"). Der Motor des Käfers leistete 30 PS, erst ab 1970 wurde die Leistung auf 50 PS erhöht.

Im Armaturenbrett gab es einen Tacho und eine eine Zeit lang eine Blumenvase, sonst nichts. Handschlaufen im Innenraum waren angeblich Paaren beim intensive Spielen im stehenden Auto hilfreich. Das Abbiegen signalisierte man bis 1960 durch einen innen beleuchteten Winker, der seitlich aus dem Holm hinter der Tür herausklappte. Wenn er nicht nach oben schnellte, musste man von innen gegen den Holm klopfen, sonst musste Fahrer oder Beifahrer den Arm heraushalten, um das Abbiegen zu signalisieren.

Villen an der Grunewaldstraße
Der Villenort wird am Beginn der Grunewaldstraße durch die Schwartz'sche Villa eingeleitet, die inmitten großstädtischer Bauten wie Rathaus, Einkaufszentrum "Schloss" und Kreisel erhalten geblieben ist. Kurz vor 1900 wurde das geräumige Landhaus mit schönem Garten als Sommersitz eines Bankiers erbaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien ihr Ende besiegelt, als in dem leer stehenden und verfallenden Bau das Bezirksamt Möbel von Obdachlosen unterstellte. Nur durch eine Kulturinitiative engagierter Bürger konnte das Haus wieder hergestellt und als Kulturzentrum eingerichtet werden.

Weiter unten an der Grunewaldstraße haben zwei Geheimräte - ein Schachmeister und ein Heraldiker - nebeneinander gleichzeitig 1883 ihre Villen von dem Architekten Max Nagel bauen lassen. Nagel hat eine Vielzahl von Landhäusern vor allem in Friedenau und Lichterfelde entworfen.

Emil Schallop, Stenograph und Schachmeister
Emil Schallop leitete als Stenograph beim Reichstag die Kurzschriftabteilung, die alle Reden mitstenographierte. Seine Leidenschaft aber gehörte dem Schachspiel, in dem er es zu meisterlichem Leistungen brachte. Als "Blindspieler" spielte er bis zu acht Partien simultan, dabei konnte er das Brett nicht sehen, sondern bekam die gegnerischen Züge angesagt.


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Früher wurde bei Turnieren nicht nur die Leistung, sondern auch die Ästhetik des Spiels gewürdigt. 1886 gewann Schallop diesem "Schönheitspreis", als er einen "Schwarzsieg" über einen englischen Meister errang. Er spielte die schwarzen Figuren, die wegen der Eröffnung durch weiß einen halben Zug im Hintertreffen sind. Er gewann trotzdem, und das in vorzüglicher Haltung.

Schallop verfasste Handbücher über Schach und Meisterturniere und bearbeitete Schachkolumnen in Zeitungen. Sein Haus an der Grunewaldstraße 19 ist überwiegend aus gelbem Backstein gebaut. Mit dem Stufengiebel zur Straßenseite hat der Architekt sich an gotische Formen angelehnt.

Maximilian Gritzner, Heraldiker und Schriftsteller
Das Steglitzer Bezirkswappen geht auf einen Entwurf von Maximilian Gritzner zurück, Er war als Geheimrat im Berliner Innenministerium für preußische Wappen zuständig. Gritzner verfasste ein Handbuch der Ritter- und Verdienstorden und überarbeitete das "Große Wappenbuch". In seiner Tätigkeit als Heraldiker trat er einigen Hochstaplern auf die Füße, deren selbstgemalte Wappen ohne historische Bezüge auskamen. Von seiner Nebentätigkeit als Schriftsteller werden mehrere Dramen genannt, die aber die Zeitläufte nicht überdauert haben. In der Grunewaldstraße 20 auf einem Eckgrundstück ließ Gritzner von Max Nagel einen roten Backsteinbau errichten, der nicht die Leichtigkeit des Nachbarhauses hat, sondern eher einen Festungscharakter aufweist.

Franz Kafka
___Die Guten gehn im gleichen Schritt.
___Ohne von ihnen zu wissen,
___tanzen die anderen um sie
___die Tänze der Zeit.

(private Gedenktafel Grunewaldstraße 13)

Der Schriftsteller Franz Kafka bezog 1923 für einen Winter zusammen mit seiner Freundin Dora Diamant zwei Zimmer in der Villa Grunewaldstraße 13. Die Wohnung war bescheiden, hatte aber Zentralheizung und elektrisches Licht. Aus seiner vorherigen Wohnung in der Muthesiusstraße (damals Miquelstraße) war er ausgezogen, weil die Vermieterin ihm wegen seiner "wilden Ehe" so zusetzte, dass er sich zum Schluss "nicht im Besitz aller Geisteskräfte" wähnte und den Umzug als "ungeheures Ereignis" beschrieb.


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Von hier aus ging Kafka - schwer tuberkulosekrank - gern im Stadtpark Steglitz spazieren. Einmal traf er ein weinendes kleines Mädchen. Es hatte seine Puppe verloren und war sehr verzweifelt. Kafka erzählte dem Mädchen, dass die Puppe ihm geschrieben hätte, dass sie verreisen würde, den Brief hätte er zu Hause. Seine Freundin Dora Diamant hat in einem Interview beschrieben, wie es weiter ging: Die Korrespondenz soll drei Wochen gedauert haben, in denen die Puppe größer wurde, in die Schule kam, neue Leute kennen lernte - und das Mädchen immer wieder ihrer Liebe versicherte. Am Ende soll Kafka sogar ein Happy End geschrieben haben, sein einziges: Die Puppe hatte einen Mann kennen gelernt und geheiratet und konnte deshalb nicht zu dem Mädchen zurückkehren.

Paul Lincke
Den Musikverlag "Apollo-Verlag Lincke & Rühle“ hatten der Musikverleger Richard Rühle und der Operettenkomponist Paul Lincke ("Das ist die Berliner Luft") gemeinsam gegründet. Rühle bewohnte eine Villa in der Grunewaldstr. 22, in die Paul Lincke ebenfalls einzog und dort "seine zugkräftigsten kompositorischen Leistungen" vollbrachte.

Haus der Forschung
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft war 1939 durch die "Germania"-Planungen vom Matthäikirchplatz im Tiergarten verdrängt worden. An der Grunewaldstraße 35 Ecke Schmidt-Ott-Straße baute sie im "Märkischen Herrenhausstil" ihr neues Haus der Forschung. Wie passend, Schmidt-Ott hatte einst die "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" mit begründet, aus der die Forschungsgemeinschaft hervorgegangen ist. Die mächtige dreiflüglige Gebäudeanlage ist in einer Kurve der Grunewaldstraße hinter der vorgelagerte Auffahrt zurückgesetzt.

Nach Kriegsende belegte die amerikanische Besatzungsmacht den Bau mit 60 Sitzungszimmern als Nebenstelle ihres Hauptquartiers. Danach war vorübergehend das Verwaltungsgericht dort untergebracht, heute nutzen die Theaterwissenschaftler der Freien Universität das Gebäude.

Wohnanlage Fritschweg
Am Fritschweg hat der Architekt Paul Mebes - der gleichzeitig Vorstandsmitglied des Beamten-Wohnungsvereins war - die Wohnanlage Steglitz II gebaut, die wie eine Passage zwischen zwei Straßen liegt. Hier ist der Übergang zum großstädtischen Bauen bereits vollzogen, nur ein Platz innerhalb der Anlage könnte als Zitat eines Dorfangers gemeint sein. Die Häuser aus rotem Backstein sind entlang einer Innenstraße angeordnet, die an einem Innenplatz seitlich verspringt.


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Hier herrscht nachmittags um halb fünf eine Stille, dass man glauben könnte, die Gebäude seien unbewohnt. Doch dann rechts aus einem Haus ein unflätiges Niesen, dem von links ein "Gesundheit" nachgerufen wird. Unser Mitflaneur entdeckt noch eine telefonierende Frau hinter einem offenen Fenster, aber sonst bleibt weiterhin alles still.

"Viktoriapark"
Eine weitere Passage gibt es zwischen Zimmermannstraße und Ahornstraße, den Viktoriapark. Doch dieser Name ist weitgehend unbekannt, nur die Denkmaldatenbank verwendet ihn. Es ist keine einheitliche Anlage, die Bürgerhäuser liegen an einem linear durchgehenden gepflasterten Weg mit üppigem Grün vor den Häusern und einzelnen Bäumen. Hier herrscht großstädtisches Leben, keine gespenstische Stille.

Harry-Bresslau-Park
Hinter dem größten Steglitzer Einkaufszentrum Boulevard Berlin an der Schloßstraße liegt der Harry-Bresslau-Park, flankiert von der Treitschkestraße. Der Historiker Heinrich von Treitschke polarisierte gern, Objektivität lehnte er bewusst ab. Treitschke propagierte die deutsch-französische Erbfeindschaft, seine antijüdischen Aussagen ("Die Juden sind unser Unglück") stärkten den latenten Antisemitismus. Zu einer Umbenennung der Straße - die mehrfach beantragt wurde - konnte sich das Bezirksamt nicht durchringen. Deshalb hat man wenigstens dem Park den Namen des Historikers Harry Bresslau verliehen, des politischen Widersachers Treitschkes, und dort die umgangssprachliche Bezeichnung "Treitschkepark" gelöscht.


Nachwuchs der Flaneure? Heute sind wir eine flanierende "Dreierbande". Meine Enkelin Anna-K. (11) hat ihre Kamera dabei und findet mit wachem Blick nach kurzer Zeit ihr eigenes Thema. Die Häuser schauen wir zusammen an, bald fotografiert sie mehr die Blumen am Wegesrand (in der Galerie habe ich ihre Bilder gekennzeichnet).

Zum abschließenden Flaniermahl sitzen wir drei an der Markelstraße beim Italiener. Anna-K. findet, sie hätte schon bessere Pizza gegessen. Die Bedienung ist nicht auf Draht, muss an den Tisch gelockt oder gebeten werden, vergisst ein Getränk und legt auch nach dem Absacker vom Haus die Rechnung nicht vor. Fast werde ich zum Zechpreller, im Herausgehen steht plötzlich der Chef mit der Rechnung da.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route:
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Fingerübungen späterer Stararchitekten