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Ein Villenviertel wandelt sich


Stadtteil: Zehlendorf
Bereich: Zehlendorf-West
Stadtplanaufruf: Berlin, Kaunstraße
Datum: 6. April 2022
Bericht Nr.:768

"Das Schlafzimmer dieser Villa hat Anschluss an die Speisekammer", steht in einem Exposé über das Haus Guardini in der Niklasstraße. Ist das Haus für Naschkatzen gebaut worden? Wohl nicht, eher handelt es sich bei dieser Beschreibung um misslungene Maklerprosa. Bei der Erwähnung "einer Nische mit Badewanne und Durchlauf-Erhitzer" verliert sich die Beschreibung des 9-Zimmer-Hauses in kleinste Einzelheiten, "Weinkeller und Werkstatt" können da eher anlocken, aber wozu braucht ein Villenbesitzer eine Werkstatt? "Bodentiefe Terrassentüren" stellen die Blickverbindung mit dem Garten her, eine Idee aus der englischen Landhausarchitektur.

Das englische Landhaus
Der Architekt Hermann Muthesius hatte als Attaché an der deutschen Botschaft in London in amtlichem Auftrag "das englische Haus" erforscht und in einem mehrbändigen Werk seine Forschungsergebnisse veröffentlicht. Werkspionage der Deutschen kannten die Engländer schon länger, das Know-How der Dampfmaschinen und Webereitechnik war bereits früher auf diesem Weg nach Deutschland gelangt. Muthesius hat mit seinen Publikationen und Vorträgen die deutsche Architekturentwicklung beeinflusst: Er propagierte zweckmäßige, funktionale, am Grundriss orientierte Bauten, die in vornehme Zurückhaltung Gediegenheit, Wohnlichkeit und Gemütlichkeit ausstrahlen. Der Garten wird als erweiterte Wohnfläche in die Architektur mit einbezogen.

Wir sind heute in der Villenkolonie Zehlendorf-West im Umkreis des Mexikoplatzes unterwegs. Herrschaftliche Landhausbauten flankieren die Lindenthaler Allee, in der unsere Stadterkundung beginnt. Dem Bautyp des englischen Landhauses entspricht beispielsweise das 1906 an der Lindenthaler Allee 5 erbaute Haus mit einem Doppelgiebel, einem weiteren Giebel an der Seite und einem vorgewölbten Erker. Das Haus mit einem Sockelgeschoss aus Naturstein liegt auf einer leichten Anhöhe des Geländes und reicht rückwärtig an die Grundstücke der Dubrowstraße heran.


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Gründungsphase der Villenkolonie
Eine Villenkolonie ist ein lebender Organismus, in Zehlendorf-West sind von der Gründungsphase 1904 bis heute verschiedene Entwicklungsphasen sichtbar. Das Ortsbild wird geprägt durch vielfältige Landhäuser, die unterschiedliche Strömungen aufnehmen. Es gibt konservative Architektur und baukünstlerische Häuser mit Doppelgiebeln, Türmchen, Erkern mit Dachhelmen, fließenden Dachübergängen sowie unkonventionellen Ausprägungen wie geschwungene Dachformen, überbreite oder sehr spitzen Giebel, Säulen, Putzflächen.

Aus den Gründungsjahren um 1910 sind mehrere Einflüsse sichtbar: Neben dem englischen Landhaus haben Bauten der Heimatschutzbewegung und der Landhaustyp des englischen Cottages Spuren im Ortsbild hinterlassen. Die preußischen Gemeinden hatten seit 1907 die Handhabe, bauliche "gröbliche Verunstaltungen" zu untersagen. Das wird die Bauherren und Architekten ermuntert haben, sich dem Ortsbild anzunähern.

Englisches Cottage
Der Denkmalschutz rechnet das Haus Argentinische Allee Ecke Forststraße dem Landhaustyp des englischen Cottages zu. Das Haus liegt über Eck, die symmetrische Fassade wird durch die überdachten, vorspringenden Seitenbereiche geprägt, die eine Wirkung wie Doppelgiebel erzeugen. An den ländlichen Charakter eines Cottages erinnert die dunkle Holzverkleidung. Die Symmetrie in der Außenansicht und im Grundriss unterscheidet dieses Haus von den Landhäusern, die Muthesius' funktionaler Herangehensweise entsprechen.

Bauten der Heimatschutzbewegung
Andere Architekten knüpfen an die Heimatschutzbewegung an und ihre regionalen Traditionen und Baustile wie Fachwerk und Schnitzereien. Diese Bewegung begann bereits um 1900 und damit Jahrzehnte vor den völkischen Bestrebungen der Nazis. Ein Beispiel ist das Haus Lindenthaler Allee 3 der vor allem in Zehlendorf tätigen Architektengemeinschaft Bastian und Kabelitz. Es hat einen Fachwerkgiebel, der Erker ist mit Schnitzereien verziert. Als hätte es noch einer Bestätigung bedurft, trägt das Haus die programmatische Inschrift: "Am guten Alten in Treue halten".


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Das Haus ist gerade von einem Baugerüst umgeben, Inschrift und Schnitzereien sind aber sichtbar geblieben.

Eckhäuser
Die beiden gegenüberliegenden Eckhäuser an der Beeren- und Karl-Hofer-Straße sind sich ihrer Wirkung für das Stadtbild bewusst. 1906 von verschiedenen Architekten entworfen, betonen sie die Ecklage mit überhöhten Ecktürmen. Die korrespondierenden Baumassen sind mit ganz individueller Handschrift modelliert. Die Betonung von Eckhäusern ist sowohl im urbanen städtischen Geschosswohnungsbau als auch in suburbanen Siedlungen eine Aufgabe, der sich Architekten gern annehmen, Beispiele habe ich hier gesammelt: Architektonische Herausforderung Gebäudeecke.


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Manche Architekten scheitern auch daran, ein Gebäude um die Ecke zu denken. Eine solche Verirrung ist uns heute im Siedlungsbau an der Bergengrün- Ecke Niklasstraße begegnet.

Bauten der klassischen Moderne
In den 1920er Jahren entstanden sachliche, funktionalistische Bauten wie das erste von Walter Gropius entworfene Einfamilienhaus Wolzogen- Ecke Niklasstraße. Die straßenseitigen Fassaden sind schlichte verputzte Flächen mit Fensteröffnungen. Das streng geometrische, graue Zeltdach hat seitliche Dachüberstände. Erst auf der Innenseite des Grundstücks erschließt sich der Eingangsbereich, der aus zwei gebäudehohen Kuben und einem vorgesetzten liegenden Erdgeschosskubus gebildet wird.


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Nahe dem Mexikoplatz an der Beerenstraße baute der Architekt Arthur Korn ein Einfamilienhaus, das als prägnantes Beispiel der klassischen Moderne gilt: Ein rechteckiger weißer Kubus, aus dem sich außerhalb der Mitte das Treppenhaus mit einer leichten vertikalen Biegung herauswölbt. Die Kiefern im Vorgarten wirken mit ihrem Kontrast, als würden sie zur Architektur dazugehören. Korn baute mehrere Wohnhäuser und Villen in Westend. Wie die Präservativ-Fabrik Fromms in Köpenick wurden die meisten seiner Bauten kriegszerstört, oder man hat sie nach Kriegsbeschädigung abgerissen.

Eine ganz andere Außenwirkung als die weiß verputzten Bauten haben zwei schlichte, ebenfalls kubische Häuser aus Backstein mit Zeltdach und leichtem Dachüberstand, die Otto Rudolf Salvisberg 1922 in der Forststraße erbaute. Er verzichtet auf Fassadenschmuck, nur die Backsteine bilden Ornamente: Tiefe Fensterschlitze, Backsteinbänder mit schmalen Einlagen oder abgestufte Backsteinlagen, die waagerecht oder über einer Eingangstür wellenförmig verlaufen.

Nachkriegsmoderne
In der Nachkriegszeit kam zur Villenkolonie der schlichte weiße Kubus des Hauses Blacher in der Kaunstraße hinzu. Das Untergeschoss des von Paul Baumgarten entworfenen Baus gleicht die Geländeunterschiede aus, auf ihm scheint das Wohnhaus zu schweben. Diese Abgrenzung des Sockelgeschosses vom Wohnbereich ist eine elegante Architekturvariante, Günter Hönows Bungalow in Stolpe ist ein weiteres Beispiel dafür.


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Boris Blacher
Mit Mathematik und Architektur hatte das Studium von Boris Blacher begonnen, doch die Musik wurde seine Berufung. Der Jazz begeistert ihn, andererseits komponiert er Konzertstücke, Kammeropern und Opern, lehrt als Professor für Komposition an der Hochschule für Musik (heute Teil der UdK) und wird schließlich ihr Direktor. 1968 wird er zum Präsidenten der Akademie der Künste berufen.

In seinem Haus wohnte 1962 vorübergehend sein Schüler, der österreichische Komponist Gottfried von Einem. Nach dem Tod seiner ersten Frau hatte von Einem eine Zuneigung zu seiner 15jährigen Nichte entwickelt und sie bedrängt, heiratet dann aber eine andere Frau. Die Nichte hatte ihn durchschaut, sie schrieb ihm: "Du Umgetriebener, ich wußte es, ahnte es, fühlte es. Aber dieses Grünholz liebt Dich dennoch, falls man es wirklich das »lieben« nennen kann. Schreib doch besser gleich: »Ich lieb eine andere.« Das ist etwas mutiger, finde ich. Du Vertriebener, Umgetriebener." Von Einem galt als ehelicher Sohn eines österreichischen Ehepaares, bis er erfuhr, dass sein Vater und Erzeuger, ein ungarischer Graf, bei der Jagd von einem angeschossenen Löwen getötet wurde.

Marga-Meusel-Park
Die Karl-Hofer-Straße wird von einer Grünanlage begleitet, die der evangelischen Sozialfürsorgerin Marga Meusel gewidmet ist. Sie war Mitglied der evangelischen Bekennenden Kirche, leitete unter Martin Niemöller die Zehlendorfer Inneren Mission. In der Nazizeit sorgte sie für "Nichtarierinnen" und christliche Frauen jüdischer Herkunft, vermittelte von Deportation bedrohten Frauen sichere Unterkünfte, besorgte Lebensmittel und Ausweispapiere. Sie erhielt nach dem Krieg in Israel den Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern", mit dem Menschen ausgezeichnet wurden, die in vielfältige Weise ohne an sich selbst zu denken während des Holocausts Juden geholfen haben.


Für unseren abschließenden Cafébesuch bietet uns die Villenkolonie das stilvolle Quartier im Museum Haus am Waldsee in der Argentinischen Allee. Ein Museumscafé hat immer sein ganz eigenes Flair, man kann die Ausstellung nachwirken lassen, auch wir mit unserer "Architektur-Präsentation". In diesem Café ist man auf Brownies spezialisiert, die in Vielzahl nebeneinander ausgebreitet sind. Aber auch ein Scone für den davon abweichenden Geschmack ist vorhanden.
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Berichte zu diesem Quartier mit anderen Schwerpunkten finden Sie hier:
Das Innenleben der Litfaßsäulen
Holländerhäuser im Villenviertel
Kiefern und Heidegestrüpp
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Unsere Route:
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Ein Freund, ein guter Freund
Bis zu den Zipfelmützen eingesunken