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Dorf ohne Bauernhöfe


Stadtteil: Zehlendorf
Bereich: Dahlem
Stadtplanaufruf: Berlin, Auf dem Grat
Datum: 21. Oktober 2013
Bericht Nr: 438

Wie kann es sein, dass ein Dorf keine Bauernhöfe hat? Dahlem - unser heutiges Flanierziel - war zu Anfang ein typisches märkisches Dorf, im 13.Jahrhundert im Zuge der Ostkolonisation (1) gegründet, mit einem adligen Grundherren und 52 Hufen Land, also mindestens 25 Bauernhöfen. Hufe, das war die Fläche, die ein Bauer mit seiner Familie bearbeiten und von deren Erträgen sie sich ernähren konnten. Es entspricht 30 Hektar, also etwas weniger als der Fläche des Zoos (35 Hektar). Gleichzeitig kann man aus der Anzahl der Hufe die Anzahl der Bauernhöfe ablesen, denn zu jedem Hof gehörten 1 bis 2 Hufe Land.

Die Gutsherren bauten ein Herrenhaus, das heute noch das Herzstück der Bauten auf der Domäne Dahlem ist, und weiteten ihren eigenen Hufeanteil immer mehr aus. Hundert Jahre lang waren die Wilmerstorffs Gutseigentümer, ihnen gehörten die Dörfer Wilmersdorf, Schmargendorf und Dahlem. Die Bauern lebten damals in Gutsuntertänigkeit, einer Form der Leibeigenschaft, die sie zu Diensten und Abgaben an den Gutsherren und auch in persönliche Abhängigkeit zwang. Erst 1810 wurden die Bauern durch die Stein-Hardenbergschen Reformen aus der Gutsuntertänigkeit entlassen, von da an gab es "nur noch freie Leute". Mit dieser Reform hatte Preußen sozusagen das Mittelalter verlassen und war in der Neuzeit angekommen. Effektive Staatsführung, Fachministerien, unabhängige Justiz, beschränkte Adelsprivilegien, Bürgerbeteiligung bei der Selbstverwaltung der Städte, einheitliches Steuersystem, Gewerbefreiheit, Agrarreform, Bildungsreform, Heeresreform, vieles wurde nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon auf den Weg gebracht.

Kurz vor dieser Reform wurden die Bauern aus Dahlem nach Schmargendorf und Wilmersdorf umgesiedelt. Die Gutsherren wollten ihr Landgut ausweiten, um dadurch höhere Einnahmen zu erzielen. Auch wenn man es damals nicht so bezeichnete, es war eine Form von Gentrifizierung, die die weniger Begüterten aus ihrem angestammten Gebiet verdrängte. Für die Arbeiter auf dem Gut wurden später südlich der Dorfaue Landarbeiterhäuser ("Insthäuser" für Gutstagelöhner) in einer gehöftartigen Anlage erbaut. Die Häuser an der Thielallee sind erhalten, mit ihrer schlichten Architektur werden sie kaum als letzte Repräsentanten eines besonderen Bautypus' wahrgenommen. Die Wohnungen in den Häusern bestanden aus Küche, Stube und Kammer. Der Hauseingang führte direkt in die Küche, von der auch die Treppen zum Keller und Dachboden abgingen.

Um 1840 später verkaufte der letzte Eigentümer das Gut Dahlem an den preußischen Staat. Nach weiteren 60 Jahren wurde die Staatsdomäne bis auf einen kleinen Rest aufgelöst. Ein ausgreifendes Baufeld war zu vermarkten, die staatliche "Kommission zur Aufteilung der Domäne Dahlem" traf sich jahrelang im Dahlemer Alten Krug, um die Bebauung der mehr als 5 Quadratkilometer großen Fläche zu organisieren. Zum einen war Dahlem als Forschungsstandort auserwählt worden, der Wissenschaftscampus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für eine zweckfreie Grundlagenforschung entstand an der Thielallee (2). Weiterhin wurde ein vornehmer Villenort angelegt, "da das Terrain für Arbeiterwohnungen zu teuer sei". Wasserläufe und Baumbestand wurden bei der Parzellierung und Anlage neuer Straßen einbezogen, eine U-Bahn wurde gebaut, ebenso Schulen und Kirchen, und vor allem Villen und Landhäuser. Als die Bebauung Dahlems begann, hatte es knapp 200 Einwohner, zehn Jahre später bereits mehr als 3.400. Die Bodenpreise stiegen im gleichen Zeitraum von 17 auf 27 Mark pro Quadratmeter.

In Dahlem begegnen uns auf unserem Weg mehrere Häusern der Architekten Otto Rudolf Salvisberg (3) und Bruno Ahrends (4), die in Reinickendorf gemeinsam mit Wilhelm Büning die Weiße Stadt (5) gebaut haben. Salvisberg hat in Dahlem mehrere Villen errichtet. An der Finkenstraße 19 ist nur eine Klinkermauer stehen geblieben, die das parkartige Eckgrundstück eingerahmt hat. Die repräsentative Villa wurde abgerissen, weil sich das Grundstück bei Ausnutzung der zulässigen Wohnfläche wesentlich ertragreicher bebauen ließ. Aber selbst die Mauer ist als besonderes künstlerisches Zeugnis als Denkmal eingetragen. Die ersten Eigentümer des Salvisberg-Baus, zwei jüdische Bankiers mit ihren Familien, wurden von den Nazis verdrängt, an ihrer Stelle zog der NS-Volksbildungsminister ein. Nach dem Krieg wurde es von einem Privathospital genutzt. Hinter der bastionsartigen Rundung der Straßenmauer hatte Salvisberg auf einem Plateau ein Gartenhäuschen als "Neugierde" errichtet, einen Aussichts-Pavillon des Typs, wie Schinkel ihn im Park Glienicke geschaffen hatte (6). In Dahlem erhalten geblieben ist eine Salvisberg-Villa Auf dem Grat 26, ein rot verputzter, breiter Baublock mit Walmdach und expressionistischen Details aus den 1920er Jahren.

Heinrich Schweitzer war einer der Architekten, die die Dahlemer Siedlungsstruktur mit einem Masterplan geprägt haben. Auch die erste öffentliche höhere Mädchenschule Dahlems - das Gertrauden-Lyzeum - ist nach seinem Entwurf gebaut worden. Das lang gestreckte Gebäude mit einem Turm über dem Eingang beherrscht den Platz Im Gehege. Schweitzer hat zusammen mit Bruno Ahrends eine Reihenhaussiedlung gebaut, die das Straßenkarree nördlich des Platzes umschließt. Mit "Reihenhaus" sind diese Bauten nur unvollkommen beschrieben. Zwar sind sie aneinander gebaut, jedoch individuell entworfen und mit Satteldächern, Gauben, Giebeln und teilweise Fachwerk eher dem Landhaustyp vergleichbar als einer seriellen Bauweise. Die Villa Im Gehege 9 ist einer der letzten Bauten von Hermann Muthesius, der das Englische Landhaus nach Deutschland geholt hat und in Dahlem mit vielen Bauten vertreten ist (7).

Zu den Architekten, die Dahlem geprägt haben, zählen auch die Gebrüder Hennings, die den U-Bahnhof Dahlem-Dorf auf Wunsch von Kaiser Wilhelm Zwo in Form eines (Niederdeutschen) Bauernhauses mit Reetdach gestaltet haben. Hier ist ein Superlativ angebracht, es ist tatsächlich der schönste U-Bahnhof Berlins. Der U-Bahnhof Podbielskiallee, an dem unser heutiger Spaziergang begann, ist wiederum von Heinrich Schweitzer entworfen worden. Es war der erste Bahnhofsbau, der 1911 an der Dahlemer "Einschnittbahn" (sie fährt in einer offenen Vertiefung) errichtet wurde. Mit zinnenartigem Stufengiebel und hohem Rundbogenportal ist auch er ein Blickpunkt an dieser Strecke, die von der Domänenkommission zur Erschließung des Villenorts konzipiert wurde.

An der Königin-Luise-Straße steht gegenüber der einmündenden Straße Vogelsang als weiterer Bau der Gebrüder Hennings ein historisierendes Gebäude mit hohem Uhrenturm, das wie ein Rathaus aussieht. Tatsächlich handelt es sich um das (Ernst-Moritz-)Arndt-Gymnasium, das 1908 als Landschulheim gegründet wurde. "Schülerheimkolonie des Kaisers" oder "Junkerschule" nannte die Presse das Projekt, das vor allem von Adligen besucht wurde. Am Grunewaldsee eröffnete die Schule mit kaiserlicher Gestattung eine eigene Badeanstalt, auf dem Wannsee war und ist sie mit einem eigenen Ruderclub vertreten. Auch einen Tennisplatz hatten die ausschließlich männlichen Schüler, Mädchen wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Schülerinnen zugelassen.

Wenn sich heute eine Gruppe von Lehrern, Schülern und Eltern zum Brainstorming über eine progressive Schule zusammen setzen würde, dann käme ungefähr das heraus, was das Arndt-Gymnasium sich als Leitbilder, Ziele und Schulstruktur in sein Schulprogramm geschrieben hat. Humanistisch und reformpädagogisch ist die Schule ausgerichtet mit ästhetisch-musischem, mathematisch-naturwissenschaftlichem und (alt-)sprachlichem Angebot. Der traditionelle Lehrer soll durch innovative Schulprojekte ein Teamplayer werden, hochbegabte Schüler werden durch fachübergreifende Enrichment-Kurse gefördert. Wieder hat die Schule eine herausragende Stellung. Als Außenstehender kann ich nicht beurteilen, inwieweit die Leitbilder tatsächlich realisiert werden und funktionieren.

Die Antennen der Mobilfunkbetreiber auf den Dächern sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Auch für die optische Übermittlung von Nachrichten wurden früher hohe Gebäude oder Berge genutzt. Für die 1832 eingerichtete preußische optische Telegrafenlinie von Berlin nach Koblenz wurde auf der Dorfkirche in Dahlem eine Station eingerichtet. "Im Abstand von durchschnittlich neun Kilometern - je nach geographischen Gegebenheiten - standen Zeigertelegrafen, die aussahen wie eine Ampel mit sechs Armen. Durch einen Code aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der sechs Zeiger konnten chiffrierte Nachrichten von Turm zu Turm übermittelt werden". Die Telegrafenlinie begann auf der alten Berliner Sternwarte in der Dorotheenstadt (8) und ging weiter zum Schäferberg in Wannsee und zum Telegraphenberg (!) in Potsdam. Insgesamt wurden 62 Stationen bis Koblenz eingerichtet. Eine Nachricht ließ sich in sieben Minuten übermitteln. Betrieben wurde der Telegraf vom preußischen Kriegsministerium, und damit wird auch die Zielsetzung klar: Bewegungen des französischen Erbfeindes sollten möglichst schnell nach Berlin übermittelt werden. 1849 wurde die optische Nachrichtenübermittlung eingestellt, durch die elektrische Telegrafie war sie technisch überholt.

Die St.Annen-Kirche, eine der ältesten Dorfkirchen Berlins, war im Dritten Reich ein Zentrum der Bekennenden Kirche, die sich gegen die Gleichschaltung mit der Nazi-Ideologie zur Wehr setzte. Der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller war ein führender Kopf in der Auseinandersetzung mit den Nazi-nahen "Deutsche Christen". Nachdem Niemöller verhaftet und ins KZ gebracht wurde, übernahm Helmut Gollwitzer als Gemeindepfarrer seine Funktion und Aufgabe. Während der Studentenbewegung in den 1960er Jahren war Gollwitzer ein enger Freund und Wegbegleiter Rudi Dutschkes. Beide Gräber - von Gollwitzer und Dutschke - finden sich auf dem Kirchhof der St.Annen-Kirche. Neben dem Kirchhof und räumlich in diesen übergehend wurde später von der Gemeinde der Friedhof Dahlem angelegt, die Gebrüder Hennings gestalteten das Eingangstor und die Trauerhalle. Die hereinbrechende Dunkelheit verwehrte uns einen Überblick über die Gräber von rund 70 Prominenten, die hier ihre letzte Ruhe fanden.

Ein Dahlemer Spaziergang, der an der Königin-Luise-Straße endet, muss natürlich in den Alten Krug führen. Die Straße wurde übrigens nicht unmittelbar nach der Königin benannt, sondern in Anlehnung an das Dahlemer Luisenstift, das den Namen der Königin führt. Verantwortlich für die Straßennamen war ganz überwiegend die Domänenkommission. An der Dorfaue vor dem Krug befindet sich unter einem ringförmigen Erdhügel ein Eiskeller, der 1709 für das Rittergut Dahlem angelegt wurde. Eisblöcke, die im Winter aus dem nahe gelegenen Grunewaldsee gesägt wurden, konnten in dem unterirdischen Raum bis in den Sommer hinein kühl gelagert werden, das war die gebräuchliche Methode zur Konservierung von verderblichen Waren (9). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die amerikanische Besatzungsmacht hier vorübergehend Champignons gezüchtet.

Beim Einkehren in den Krug wollen wir keine Champignons auf dem Teller haben und bestellen ganz bescheiden Flammkuchen. Um uns herum ist der Krug mit Gästen gefüllt, als würde hier noch die Domänenkommission tagen.

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(1) Ostkolonisation: Ostkolonisation
(2) Wissenschaftscampus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an der Thielallee: Amerikanische Vorbilder
(3) Otto Rudolf Salvisberg: Salvisberg, Otto Rudolf Architekt
(4) Bruno Ahrends: Ahrends, Bruno
(5) Weiße Stadt: Ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft
(6) Schinkels "Neugierde" im Park Glienicke: Park des Vergnügens mit Havelblick
(7) Hermann Muthesius: Muthesius, Hermann
(8) Berliner Sternwarte in der Dorotheenstadt: Berliner Nullpunkte
(9) historische Eisherstellung: Eis in Scheiben und in Blöcken


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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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Von der Lampe zum Schwan
Mit der Klampfe durch das Land