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Eine Windrose aus Gräbern


Stadtteil: Tempelhof
Bereich: Lichtenrade
Stadtplanaufruf: Berlin, John-Locke-Straße
Datum: 17. Oktober 2016
Bericht Nr: 565

Ein Glasermeister in der Lichtenrader Prinzessinnenstraße sammelt besondere "Oldtimer", von der Music-Box über Tanksäulen bis hin zu alten Autos. Im Schaufenster stehen Teile seiner Sammlung. Als unser Interesse bemerkt wird, werden wir hereingebeten, können die Objekte fotografieren und ein bisschen über die Sammelleidenschaft erfahren. Manchmal werden wir als Flaneure argwöhnisch beäugt, hier können wir uns über die freundliche Geste freuen.

Bürgeramt im Krankenhaus
Die Berliner Bürgerämter stehen seit Monaten in herber Kritik, weil sie die Terminvergabe nicht in den Griff bekommen. Man muss Monate warten, um seinen Wohnsitz anzumelden oder einen Pass zu beantragen. Gehören sie deshalb auf die Krankenstation? In Lichtenrade könnte man diesen Zusammenhang herstellen, denn das Bürgeramt ist im ehemaligen Kinderkrankenhaus Christophorus untergebracht.

In ländlicher Umgebung ein Säuglings- und Kinderheim zu errichten, zu dem eine katholische Kirche mit Pfarrhaus hinzukommen sollte, diese Idee wurde Anfang der 1930er Jahre in Lichtenrade verwirklicht. Das Zentrum des Ortes hatte sich vom alten Dorfkern zum Bahnhof und der Bahnhofstraße hin verlagert, dort baute man das Christophorus-Kinderkrankenhaus und direkt angrenzend die katholische Salvatorkirche. Die "Schwestern von der Barmherzigkeit" übernahmen die Betreuung, ihr Orden war aus einer amerikanischen Stiftung hervorgegangen. Ein "Frühchen" brachte die offizielle Einweihung durcheinander, das Frühgeborene wurde schon vor der geplanten Eröffnung eingeliefert. Für Luft- und Sonnenbäder ("Liegekuren") hatte das Haus einen 75 Meter langen Südbalkon, der nach Kriegsende mit einer Glasfassade verkleidet wurde, die sich schwungvoll an die abgerundeten Gebäudeecken anschmiegt.

Die Frühchen bestimmten auch weiterhin den Schwerpunkt des Krankenhauses. Das Kinderkrankenhaus mit separater Abteilung für Frühgeborene bot eine beispielhafte medizinische Versorgung. Trotzdem musste es in diesem Gebäude schließen, als die Geburtenzahl zurückging und überlebte nur als Abteilung im Tempelhofer St.Joseph-Krankenhaus. Eine "Meldestelle" (Bürgeramt), das Jugendamt und eine Stadteilbibliothek zogen ein und bilden jetzt das Bürgerzentrum. Erschreckt lese ich auf dessen Internetseite "Schließung des Bürgeramtes in Lichtenrade", aber gottlob wird nur eine eintägige Fortbildungsabwesenheit der Mitarbeiter angekündigt.

Zwei Meister - Schlächter und Maurer - entwickeln eine Siedlung
Die Entwicklung der Berliner Siedlungen und Villenkolonien lag ganz überwiegend in der Hand von Terraingesellschaften. Sie erwarben die Grundstücksareale, sorgten für den Bahnanschluss und die weitere Infrastruktur, bauten Musterhäuser oder Häuser und Villen zum Verkauf. In Lichtenrade südlich der Bahnhofstraße waren es dagegen zwei Handwerksmeister, die die Parzellierung eines kleinen Siedlungsgebiets in die Hand nahmen.


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Dem Fleischermeister gehörte das Gelände, der Maurermeister baute ein Musterhaus in dem gerade erst erschlossenen Wohngebiet. Villa oder Landhaus? Ein aufwendig dekoriertes Gebäude mit zwei Giebeln zur Straße und zum Hof, sogar der kunstvoll geschmiedete Zaun ist noch original erhalten. Der Maurermeister wohnte selbst hier, und natürlich wurde die Krügerstraße nach ihm benannt.

Die Ziegel für den Hausbau wurden nicht aus der industriellen Fertigung in Ringöfen bezogen, sondern in Handarbeit hergestellt, und zwar auf dem Baugrundstück selbst. Der Ziegelbrenner strich den Lehm in eine Form. Die luftgetrockneten Ziegel schichtete er in einer Grube von drei Meter Tiefe hochkant auf. Mit Feuerholz in ausgesparten Feuerungslöchern wurden die Ziegel dann gebrannt. Das brauchte Zeit und Geduld, Monate vergingen, ehe ein Rohbau fertig dastand.

Hochhaus statt Bauer mit Pflug
Wie im Nachkriegs-Berlin eine Siedlung entstand, kann man in der John-Locke-Straße nachvollziehen. Die B.Z. veröffentlichte 1965 ein Foto, das einen Bauer mit Pferdefuhrwerk auf einem Acker zeigt, dahinter Baukräne und ein Hochhaus mit 18 Etagen. Auf diesem Bild sieht man exemplarisch den Wandlungsprozess am Südrand der eingeschlossenen Stadt West-Berlin: Auf den Lichtenrader Feldern entstanden 1.600 Wohnungen für 3.500 Menschen, dafür hatten Lichtenrader Bauern ihre Felder verkauft. In der Wahrnehmung traten diese Bauten hinter Großsiedlungen wie Märkisches Viertel und Gropiusstadt zurück, wer wusste schon von der John-Locke-Siedlung?

Jetzt soll die Idee einer "Stadtlandschaft" aufgegriffen werden und ein energiesparender Umbau der Gebäude erfolgen, die Sanierung ist ein Großprojekt der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Verwirklicht sind ein Stadtplatz im Zentrum mit Nilpferdbrunnen und einer riesigen Freifläche, die bewusst nicht als Parkplatz für den Verbrauchermarkt dient. Viele Gebäude sind eingerüstet, hinter Schutzfolien hantieren die Bauhandwerker. Damit die Bewohner dem Baulärm entfliehen können, erhalten sie kostenlos Eintrittskarten für den Britzer Garten.

Pumpwerk Lichtenrade
Parallel zur John-Locke-Straße verläuft der Lichtenrader Graben, der zu einem Spaziergang einlädt. Doch leider ist die John-Locke-Siedlung hier weitgehend eingezäunt, so dass viele Bewohner einen Umweg laufen müssen, um ins Grüne zu kommen. Der Graben war schon 1775 künstlich angelegt worden, um das Ackerland zu entwässern. 150 Jahre später benutzte man ihn kurze Zeit als Abwasserkanal für das neu geschaffene Pumpwerk, bis der Anschluss an das Radialsystem zum Rieselfeld nach Klein-Ziethen hergestellt war. Das Gebäude ist typisch für die Stadttechnikbauten der 1920er Jahre. Fensterachsen über die gesamte Gebäudehöhe belichten die Halle, in der die Pumpen standen. Die historischen Pumpen und Maschinen wanderten 1980 bei Stilllegung des Pumpwerks ins Technikmuseum.

Polizisten als Bombenleger
Eine Bombendrohung gegen den Ackerbauern Otto Kraatz machte ihn 1910 über Lichtenrade hinaus bekannt. "Weltbekannt", wie ein Chronist schreibt, ist wohl etwas übertrieben. Ein "Komitee der schwarzen Hand" forderte Kraatz auf, 3.000 Mark unter einer bestimmten Buche in der Goltzstraße zu deponieren, sonst würde eine Bombe sein Haus mitsamt seiner Familie zerstören. Nach Abstimmung mit der Gendarmerie enthielt die Konservenbüchse, die er dort versenkte, aber nur Papierschnipsel. Tagelang kam niemand, um die Beute abzuholen. Neugierig, ob der "Schatz" noch da sei, ging der Ackerbauer schließlich zur Buche und stocherte mit seinem Spazierstock nach der Büchse. Daraufhin explodierte eine Bombe, die ihn im Gesicht und an den Augen schwer verletzte.

Schaulustige pilgerten nach Lichtenrade, die Gaststätten hatten gut zu tun, der Erpresserbrief und Bombenteile wurden in einer Gaststätte ausgestellt. Wer waren die Bombenleger? Monate später kam es heraus: Die beiden Gendarmen, die den Tatort bewachen sollten, hatte sich eine neue Ermittlungsmethode ausgedacht. Sie zogen sich zurück und wollten den Erpresser stellen, wenn die von ihnen gelegte Bombe am Geldversteck explodierte. Ob sie wirklich mit einer Strafversetzung davonkamen, wie ein Ortschronist berichtet? Schließlich war das schwere Körperverletzung. Die Erpresser - ein Lichtenrader Schusterehepaar mit Geldsorgen - wurden verhaftet, nachdem ein aufmerksamer Polizeisekretär auf einer behördlichen Anmeldung die Schrift des Erpresserbriefes wieder erkannte.

Evangelischer Friedhof Lichtenrade
Die Goltzstraße, an der die Bombe explodierte, führt direkt am Lichtenrader Friedhof entlang. In der dörflichen Vergangenheit von Lichtenrade erfolgten Beisetzungen zunächst auf dem Kirchhof neben der alten Dorfkirche. Ich lese im Bericht eines Chronisten, die Gräber der Verstorbenen hätten in Richtung ihres jeweiligen Bauernhofes gezeigt. Wenn das stimmt, müssten die Grabstellen wie eine Windrose ausgerichtet sein.


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Auf einer ehemaligen Ackerfläche entstand dann 1906 der neue evangelische Friedhof. Der Totengräber war gleichzeitig Gemeindediener, Nachtwächter, Ortspolizist und Vollziehungsbeamter, schließlich war Lichtenrade immer noch ein Dorf. Ein Kriegerdenkmal erinnert heute an die Gefallenen beider Weltkriege. Das dreiteilige Mahnmal besteht aus einer dreistufigen Treppe als Basis, darauf erhebt sich ein hoher Gedenkstein, auf dem wiederum ein betender Soldat kniet. Mit seiner Höhe einem Turm ähnlich, beherrscht das Denkmal den Friedhof.

Die alte Mälzerei
Um 1900 entstand hinter dem Bahnhof Lichtenrade das Mälzereigebäude der "Schöneberger Schlossbrauerei". Der eindrucksvolle Industriebau ist hanseatischen Kontorhäusern nachempfunden und steht genauso leer wie das Landhaus Lichtenrade, in dem natürlich Bier der Schlossbrauerei Schöneberg ausgeschenkt wurde. Seit unserem letzten Besuch im Oktober 2012 hat sich hier nichts entwickelt, aber das Landhaus verfällt zusehends.


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Wegen der dunklen Jahreszeit flanieren wir nachmittags und treffen uns später abends in Schöneberg zum Flaniermahl, der Weg zum Stadtrand zweimal am Tag ist uns zu weit. Unser heutiges Lokal kürzt im Namen B34 seine Postadresse ab, es hat erst in diesem Jahr eröffnet. Das Essen ist gut, die Bedienung freundlich, doch ihre berufstypische Haltung des Wegschauens - der Gast könnte ja noch etwas bestellen wollen - stört uns.

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Frühere Spaziergänge in Lichtenrade:
> Dorf und Volkspark: Alt Lichtenrade
> Mälzerei und Bahnhofstraße: Lichtenrade

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route:
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Bebaute Zahnlücken, weichende Neubauten
Drei Eiszeiten - eine Stadt