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Steuererhebung am Straßenrand


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Residenzstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Franz-Neumann-Platz
Datum: 18. April 2016
Bericht Nr: 542

An einer "Residenzstraße" könnte man ein kurfürstliches oder königliches Schloss erwarten oder andere repräsentative Gebäude, in denen ein Herrscher sich niedergelassen hat. Die Residenzstraße in Reinickendorf enttäuscht diese Erwartungen. Ihr Name verweist nur auf das Ziel, das man über diese Straße erreichen kann: die kaiserliche Residenz Berlin. Kaiserlich deshalb, weil die Benennung 1875 erfolgte, zur Regentschaftszeit des ersten Kaisers Wilhelm.

Auch einen Boulevard darf man hier nicht erwarten. Die Straße ist eine Chaussee, die angelegt wurde, als man mit den Hardenberg’schen Reformen die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden in Preußen grundlegend neu ordnete. In der Landwirtschaft gab es bis dahin vielfältig gemeinsam genutzte Flächen, die im Gemeinschaftseigentum standen, beispielsweise Weiden, Wald, Torf oder Schilf. Außerdem hatten die Bauern Feudalabgaben an die Grundherren zu leisten. Im Zuge der "Separation" ab 1821 wurden die Flächen privatisiert und die darauf ruhenden Nutzungs- und Abgabenrechte gegen Entschädigung aufgehoben. Zersplitterte Felder fasste man im Flurordnungsverfahren zusammen. Die Moderne hielt Einzug in Preußen, bereits 1807 war durch „Allerhöchste Cabinetsordre“ die Erbuntertänigkeit - eine Art Leibeigenschaft - abgeschafft worden.

Der mittelalterliche Handelsweg von Berlin Richtung Ostsee wurde so zur preußischen Chaussee, später zur Reichsstraße und ist heute die Bundesstraße 96, die von der Oberlausitz bis nach Rügen führt. Die Bauernhäuser und Stallungen wurden durch niedrige Vorstadthäuser und später durch Ansätze großstädtischer Geschäftsstraßenarchitektur verdrängt. Eine einheitliche geschlossene Randbebauung gab es allerdings nicht. Dem feiergeneigten Berliner Publikum gewidmete Ausflugslokale verschwanden wieder. Auch die Vorgärten vor repräsentativen Miethäusern sind nicht mehr vorhanden.

Zum 140. Jubiläum der Residenzstraße in diesem Jahr wird aus Mitteln der Städtebauförderung am Erscheinungsbild des Straßenzugs gearbeitet. Wo das Vereinsheim eines stadtbekannten Rockerclubs steht, der mit blauen Bohnen und blinkenden Messern von sich reden macht, wird man sicher keine Flaniermeile erwarten können. Die Bestandsaufnahme im Quartier, die dem Entwicklungskonzept vorausging, hat bei den Läden eine Vielzahl von Textilgeschäften und Handyshops ermittelt, aber auch Blumenläden und eine Buchhandlung. Leerstehende Geschäftsräume gibt es in jedem Straßenkarree, Wettbüros und Spielhallen verteilen sich gleichmäßig entlang der Residenzstraße.

Unzureichender Branchenmix und hohe Fluktuation sind auch in anderen Zentren zu finden, die kein positives Standortimage und eine schwierige Sozialstruktur haben. Noch sind die Bemühungen nicht über PR-Aktionen wie Straßenfeste, Gratisbroschüren, Verteilen von Ostereiern oder einen Tanznachmittag im Seniorenzentrum hinausgekommen. Aber unser Stadtentwicklungssenator Geisel überlegt schon laut, den Zaun auf der Mittelinsel der Residenzstraße an einigen Stellen durchlässig zu machen, "damit man von einer Straßenseite auf die andere wechseln kann". Auch Parkplätze und Parkzonen kann er sich vorstellen, "um den Einzelhandel zu fördern". Ob so ein bisschen Window-Dressing reicht? In der Turmstraße in Moabit beispielsweise wird mehr getan, um den Standort von innen heraus attraktiv zu machen.

Drei nackte Damen sitzen und liegen auf dem Franz-Neumann-Platz, eine an jeder Ecke des Platzes. Sie sind Teil eines Brunnens von Karol Broniatowski, und wenn der sprudelt, das Wasser über die Beckenränder fällt und vielleicht noch die Scheinwerfer leuchten, dann herrscht hier nicht diese Leere, die wir im Trockenen erlebt haben.

Am Franz-Neumann-Platz ist die Residenzstraße unterbrochen. Sie ist nach Süden nur mit einem Bogen über die Holländerstraße erreichbar.


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Dort zeigt sich dann an einem Ensemble von wenigen Häusern wie im Brennglas die Entwicklung von der vorstädtischen Baustruktur zum Großstadtbau. Schon die Anzahl der Geschosse gibt einen Hinweis darauf, zu welcher Phase der Stadtentwicklung die Bauten gehören. Zweigeschossig in den 1870er Jahren, dreigeschossig um 1880 und viergeschossige großstädtische Miethäuser mit Balkons nach 1900. Die nicht öffentlich zugänglichen Höfe mit Remisen, Werkstattgebäuden und alten Obstbäumen führen in eine frühere Zeit zurück. Nebenan hatten die Metallwerke A. Laue & Co bis in die 1950er Jahre hinein ihre Zink-, Kupfer- und Messingplattenfabrik, eine Backsteinmauer in der Straßenfront hat davon bis heute überdauert.

Mit der Akzisemauer hatte die Stadt Berlin sich die Möglichkeit geschaffen, den Warenverkehr zu kontrollieren und dort Steuern zu erheben. Als diese Zollmauer 1865 rechtlich aufgehoben wurde, weil Berlin sich immer weiter ausgedehnt hatte, entstanden weit vor den Toren der Stadt Steuerhäuser, an denen nun der Zoll bezahlt werden musste. Und es gab Mautstellen - an Chausseehäusern musste Wegegeld entrichtet werden, um den Straßenbau zu finanzieren. In Reinickendorf standen drei dieser Chausseehäuser, die aber nicht mehr vorhanden sind.

An einem Reinickendorfer „Steuerhaus“ - dessen Gebäude von 1865 an der Residenzstraße Höhe Mittelbruchzeile erhalten blieb - wurde die Mahl- und Schlachtsteuer erhoben. Diese Verbrauchsteuer auf unentbehrliche Lebensmittel erhöhte die Preise für Brot und Fleisch und traf natürlich Minderbemittelte härter als die Oberschicht. Außerdem verringerte sie die Nachfrage bei Berliner Betrieben, weil Mehl in Bromberg oder Stettin billiger bezogen werden konnte und Fleisch von Schlachtbetrieben außerhalb der Stadt preiswerter war. Auf die von der Gemeinde Reinickendorf kassierte Steuer erhob die Stadt Berlin einen Zuschlag, der bis zu fünfzig Prozent betragen durfte.

Als die Verantwortlichen die negativen Wirkungen realisierten, ersetzten sie diese Verbrauchsteuer durch eine Einkommensteuer, für die die Bürger nach Herkommen und Einkommen in drei Klassen eingeteilt wurden. Eine Steuer, die auch noch den Vorteil hatte, dass sie erhöht werden konnte, ohne dass die verheerenden Wirkungen wie bei einer Anhebung der Verbrauchsteuer eintreten würden. Heute geht man in der Steuerpolitik umgekehrt vor, da erhöhte man die Mehwertsteuer, die alle Verbraucher zu tragen haben, und senkt die Einkommensteuer. Bei der Einführung der Einkommensteuer musste damals allerdings die Steuerverwaltung personell erheblich verstärkt werden, weil man die Städter in ihrer Beweglichkeit mit häufigen Umzügen im Blick behalten musste - die Bürokratie erhielt neue Nahrung.

Nur zehn Jahre diente das Steuerhaus seinem ursprünglichen Zweck, dann wurde es wegen Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer entbehrlich. Die Eisfabrik Mudrack, die aus dem zugefrorenen Schäfersee Natureis herstellte und später auf Kunsteis umstieg, übernahm das Gebäude. Der Backsteinbau war ursprünglich - anders als heute - nicht verputzt und zeigte damit mehr Präsenz. Heute ist das Steuerhaus zwischen Gewerbebetrieben und deren Firmenschildern und Auslagen so eingezwängt, dass seine Bedeutung als Solitär sich nicht mehr vermittelt.

An der Residenzstraße Ecke Pankower Allee ist das Ausflugslokal "Kastanienwäldchen" von 1860 erhalten geblieben, ein einstöckiges ehemaliges Büdnerhaus aus der dörflichen Phase des Quartiers. Das ländliche Flair ist verschwunden, und auch den mit Kastanien bepflanzten Restaurationsgarten entlang der Pankower Allee gibt es nicht mehr.

Nur wenige Schritte sind es von hier zum Schäfersee und seiner Promenade. Dort haben Bewag und Stadtreinigung 1955 gemeinsam ein „Pinkelumspannwerk“ gebaut, einen Kiosk, der nicht nur als Zeitungsladen fungiert. Für die Bewag wurde eine Netzstation und für die Stadtreinigung eine öffentliche Toilette integriert. Nur die Fliesen-Rückseite mit dem überkragenden runden Dach ist noch ansehnlich, alles andere ist heftig bekritzelt.


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Die trapezförmig auf die Residenzstraße zulaufenden Flächen zwischen Mittelbruchzeile und Emmentaler Straße vermitteln einen Eindruck, wie die Ackerflure bei der Separation (Flurordnung, siehe oben) gebildet wurden. Als in der Hausotterstraße die Bebauung mit vierstöckigen Wohnhäusern einsetzte, errichtete die Bewag 1910 hier ein kleines Schalthaus. Der beauftragte Architekt Oskar Springmann war zu jener Zeit mehrmals für die Bewag tätig. Er hatte aber nicht so umfangreiche Aufgaben wie Hans-Heinrich Müller zu bewältigen, der innerhalb von weniger als 10 Jahren mehr als 40 Elektrizitätsbauten wie Umspannwerke und Schaltstationen schuf, die oft heute noch im Stadtbild sichtbar sind.

Im Jahre 1950 öffnete die Residenzhalle ihre Pforte, eine Markthalle mit 30 Ständen und den typischen Angeboten wie Fleisch, Gemüse, Blumen, Brot, Käse, Tee, Kaffee, Tierfutter. Im Mai 2001 brannte sie komplett aus durch eine nie aufgeklärte Brandstiftung. Anstelle der "in die Jahre gekommenen Markthalle mit den offenen Ständen" wurde ein kleines, eingeschossiges Einkaufszentrum in Fertigbauweise errichtet, das jetzt Resi-Passage heißt. Begeistert waren die Kunden nicht, viele hätten sich wieder eine richtige Markthalle gewünscht.

An der Residenzstraße Ecke Emmentaler fasste der Architekt Erwin Gutkind den Bau des Postamts 51 mit zwei Wohnhäusern ein, die ein Stockwerk niedriger bleiben mussten als das Amtsgebäude. Die Reinickendorfer Baubehörde hatte das angeordnet, denn "öffentliche Gebäude müssen sich im Stadtbild hervorheben". Das war preußische Amtsherrlichkeit. Gutkind rächte sich mit einem Fachartikel unter der Überschrift "Die Baupolizei als Architekt".

Die "Hilfestellung" der Baupolizei hatte das Postgebäude gar nicht nötig, denn seine expressionistische Fassade hebt sich deutlich von Wohngebäuden in der Straße ab. In den über die gesamte Gebäudehöhe vorspringenden Dreieckspfeilern sehen Architekturkritiker Ähnlichkeiten mit den Strebebögen gotischer Kathedralen.


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Mit einem Schlenker durch die Paddenpuhl-Siedlung kommen wir zum U-Bahnhof Residenzstraße, den der Berliner Stadtbaurat Rainer G. Rümmler gestaltet hat, wie viele U-Bahnhöfe auf der Linie 8 Richtung Wittenau. Jeder Bahnhof ist ein Einzelkunstwerk, das seine Gestaltungsidee möglichst aus dem Stationsnamen bezieht und in Pop-Art-Design umsetzt. Auf die Residenzstadt wird mit alten Stadtplänen auf den Wandfliesen Bezug genommen, und auch die Karyatiden - antike weibliche Figuren in Gewändern - haben hier nichts zu stützen, sondern sind nur Dekoration.

Da uns bei unserem Rundgang kein Lokal begegnet, das für das Essen der Flaneure geeignet scheint, fahren wir nach Mitte und werden dort beim Preis des Weines heftig dafür gestraft, dass wir nicht im Reinickendorfer Lokalkolorit geblieben sind.

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Räumlich angrenzende Stadtspaziergänge:
> Hausotterstraße, Provinzstraße: Wurzelberg - Wiesenberg - Granatenberg
> Schäfersee: Eis in Scheiben und in Blöcken
> Siedlung Paddenpuhl: Ostwind und Nordlicht
> Emmentaler Straße, Weiße Stadt: Ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft
> Alt-Reinickendorf: PLOBS ist auf der Höhe der Zeit

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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Wurzelberg - Wiesenberg - Granatenberg
Kleingärtner auf der Hallig