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Glockengeläut in der Eigentumswohnung


Stadtteil: Pankow
Bereich: Weißensee
Stadtplanaufruf: Berlin, Tassostraße
Datum: 24. August 2022
Bericht Nr.:782

Urbanes Leben am Weißenseer Antonplatz. Mehrere Straßenbahnlinien wechseln sich an der Berliner Allee ab, auf den Bürgersteigen sind Stühle und Tische herausgestellt, Menschen eilen über die Straßen. In den 1920er Jahren war die Gegend um den Antonplatz wegen seiner Kinos und Filmstudios als "Filmstadt Weißensee" stadtbekannt. Nördlich des Platzes in der Langhansstraße hat sich eine kleinstädtische, meist dreistöckige Bebauung erhalten. Auch an der Behaimstraße finden sich Bauensemble aus den 1880er und 1890er Jahren. Zur gleichen Zeit entstanden in dem Industrieviertel an der Lehderstraße Gewerbehöfe, die nach und nach zu einem Industriepark ausgeweitet wurden.

Fischräuchereien
Mehrere Fischräuchereien gab es im Quartier, die Fischräucherei Altekrüger besteht jetzt seit mehr als hundert Jahren. Auch Max Steinke verarbeitete in der nach ihm benannten Straße Räucherware. Die Ehrung mit dem Straßennamen erfolgte, als er die Hälfte der Kosten der Straßenpflasterung übernahm. Auch zu DDR-Zeiten wurden dort noch Fische geräuchert. Nach der Wende übernahm eine Baugruppe den heruntergekommenen Gebäudekomplex und verwirklichte "junges Wohnen in alten Wänden", die Morgenpost sprach vom "Leben in der Räucherkammer".

In der parallel zur Max-Steinke-Straße verlaufenden Tassostraße ist ein kleiner Park mit Bezug auf Steinkes Betrieb "Grüner Hering" genannt worden, die Anwohner haben für diesen Namen gestimmt. Von einem aufrechtstehenden Fisch wird man am Eingang des Parks begrüßt, eine Kletterkombination auf dem Spielplatz heißt "Räucherkammer".


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Gemeindeforum am Kreuzpfuhl
Die Tassostraße windet sich zur Pistoriusstraße hoch. Dort beginnt eine in Berlin einmalige Stadtanlage: Das "Gemeindeforum am Kreuzpfuhl" ist ein harmonisches Ensemble aus Backsteinbauten mit Wohnanlagen, Schulen, Postamt, Ledigenheim, Stadthalle, Pumpwerk, eingebettet in eine Parkanlage. Carl James Bühring hatte ab 1905 als junger Gemeindebaurat von Weißensee das Begegnungszentrum für die Weißenseer Bürger entworfen. Nicht alles in diesem "Munizipalviertel" (städtischen Viertel) wurde realisiert, so fehlen Schwimmhalle und Feuerwache. Über Bührings Schaffen im Zusammenwirken mit dem Bürgermeister Carl Woelck hatte ich bereits unter dem Titel Weißenseer Bemühen ausführlich berichtet.

Der Architekt Josef Tiedemann ergänzte in den 1920er Jahren das Gemeindeforum um das Holländerviertel (das eigentlich ein Holländerhof ist). Die langgestreckten Wohnblocks aus Klinkern umgeben einen parkähnlichen Hof, Stufengiebel erinnern an holländische Bauten, einzelne Fenster sind mit Barockumrandungen umgeben. An der Tassostraße baute Tiedemann eine Schule als Lyzeum und Oberlyzeum.


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Realgymnasium am Kreuzpfuhl
Das Schulgebäude öffnet sich mit einem leicht abgewinkelten Grundriss zur Wasserfläche. Das Sockelgeschoss des roten Klinkerbaus ist mit Granit verkleidet. Mächtige Backsteingiebel finden sich an den beiden Enden des Gebäudes, das durch einen Doppeleingang in der Mitte erschlossen wird. Über den Türen die Eule als Symbol der Weisheit. Während wir fotografieren, werden wir von zwei Lehrern angesprochen, hier herrscht eine freundliche Atmosphäre.

Mit den Namen dieser Schule kann man lebendigen Geschichtsunterricht erteilen: 1910 wurde die von Carl James Bühring erbaute Schule als "Realgymnasium" eröffnet. 1933 endete die Weimarer Republik., in der Nazi-Zeit wurde sie zur "Günther-Roß-Schule". Namensgeber war ein Lehrer und SA-Mann, der vor der Machtübernahme bei Auseiandersetzungen mit kommunistischen Anhängern ums Leben kam und von der "Bewegung" als Märtyrer gefeiert wurde. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte Weißensee zur sowjetischen Besatzungszone, die Schule wurde in "Johannes-R.-Becher-Schule" umbenannt, der DDR-Minister für Kultur stand Pate. Noch während der DDR-Zeit erhielt sie 1960 als Erweiterte Oberschule den neuen Namen EOS "Paul Oestreich" nach einem Schulreformer, das Schulsystem war im sozialistischen Sinne neu geordnet worden. Nach der Wende wurde der Baumeister Bühring vorübergehend zur Schulbenennung herangezogen, von 1993 bis 2007 hieß sie "Bühring-Gymnasium". Dann erfolgte die Fusion mit dem Gymnasium an der Tassostraße, wieder gab es einen neuen Namen: "Primo-Levi-Gymnasium" nach einem italienischen Literaten, der den Holocaust überlebt hatte.

Drei politische Systemwechsel und zwei Wechsel im Schulsystem hatten der Schule neue Namen aufgedrückt, insgesamt ist sie in hundert Jahren fünfmal umbenannt worden. Die anliegende Straße machte die Umbenennungen nur teilweise mit. Bis 1967, also auch während der gesamten NS-Zeit, hieß sie "Am Realgymnasium". Nach der DDR-Schulreform erhielt sie den Namen Paul-Oestreich-Straße, und so heißt sie heute noch.

Paul Oestreich war ein Pädagoge, der in allen Systemen und zwischen allen Blöcken beharrlich dafür eingetreten ist, "eine neue Gesellschaft durch eine neue Erziehung zu schaffen". In der Weimarer Zeit engagiert er sich für Reformpädagogik. In der Nazizeit wird er verfolgt und hat Berufsverbot. In der Zeit, als die sowjetische Besatzungsmacht nach Kriegsende vorübergehend die gesamte Stadt beherrscht, wird er Hauptschulrat in Berlin-Zehlendorf. Er wird danach vom West-Berliner Senat wegen seiner SED-Mitgliedschaft entlassen, seine Ruhegehaltansprüche werden wegen beamtenwidrigen Verhaltens aberkannt. Oestreich arbeitet dann in Ost-Berlin als Dezernent für höhere Erziehung und engagiert sich für einheitliche Schulreformen in Ost- und West-Berlin - ein streitbarer Schulreformer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten. Die DDR zeichnet ihn als "Verdienten Lehrer des Volkes" aus, beerdigt wird er auf dem "Sozialistenfriedhof".

Wohnen im Kirchturm
Auf dem Mirbachplatz stand einst die evangelische Bethanienkirche, ein mächtiger gotischer Kirchenbau. Davon blieb nach der Bombardierung im Februar 1945 nur der Kirchturm stehen. Der ist jetzt von unten bis oben eingerüstet, er wird für den Wohnungsbau vorbereitet: In den Turm werden Eigentumswohnungen eingebaut, auf der ehemaligen Grundfläche des Kirchenschiffs wird ein Neubau errichtet.


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Wenn dem Pufferküsser (Eisenbahnfreak) das Geräusch vorbeirasender Züge wie Blut durch die Adern fließt, dann wird er gern an einer vielbefahrenen Eisenbahnstrecke wohnen. Ähnliche Begeisterung wird von den zukünftigen Bewohnern der Wohnungen im Kirchturm verlangt: Zwar werden die übereinandergestapelten Lofts ein luxuriöses Wohngefühl vermitteln, aber zweimal am Tag soll auch weiterhin die Kirchenglocke oben im Turm läuten. Atheisten werden sich hier nicht wohlfühlen. Besser man glaubt nicht den Architekten, die beteuern, die Glocken könnten nur geräuschgedämpft wahrgenommen werden. (Was ist "geräuschgedämpft"?) Aber wenn der Glaube Berge versetzen kann, dann kann er für Gläubige vielleicht das Geläut von Kirchenglocken zum himmlischen Gesang machen. Dann wären die richtigen Bewohner für den Glockenturm gefunden.

Die Stadthalle
Im Februar 1945, als Bomben auf die Kirche fielen, wurde auch die Stadthalle im Park vor dem Kreuzpfuhl zerstört. Die Gemeinschaftseinrichtung war eine Halle für Sport und Kultur und für Versammlungen. Sie enthielt kleinere Turnhallen (eine für Damen), Kegelbahnen, Brause- und Wannenbäder, ein Restaurant. Im Ersten Weltkrieg war ein Garde-Regiment dort einquartiert. In den 1920er Jahren gab es Theater- und Varieté- Vorstellungen und Boxkämpfe zu sehen. Von dem Bombardement blieb nur das Restaurantgebäude verschont, nach der Wende wurde es als Frei-Zeit-Haus zur neuen Begegnungsstätte.

Ledigenheim
In der Charlottenburger Danckelmannstraße wurde 1908 das erste deutsche Arbeiterwohnheim gebaut für unverheiratete junge Männer, die sonst auf Schlafstellen in fremden Wohnungen angewiesen wären. Während der großen Wohnungsnot in der Zeit der Industriellen Revolution mieteten sie die Schlafplätze fremder Familien in ohnehin überbelegten Wohnungen. Die Schlafgänger wurden zu einem Problem in "gesundheitlicher, sozialer und sittlicher Beziehung". Für das "Wohl der arbeitenden Klassen" hielt man es für sinnvoll, "das Schlafburschenunwesen zu steuern und für die unverheirateten Arbeiter besondere Herbergen zu errichten".

In der Pistoriusstraße errichtete Bühring 1913 ein Ledigenheim, das knapp vierzig Menschen in vier Wohngruppen Unterkunft gab. Es waren Dauerwohnplätze oder Wohnmöglichkeiten für den Übergang. Der Eckbau wird durch einen zweigeschossigen Vorbau mit Rundbögen architektonisch besonders hervorgehoben. Die Straße ist durch einen Grünstreifen erweitert und bildet mit einer kleinen Platzanlage den Eingang zu dem Gebäudeensemble an der Woelckpromenade gegenüber dem Kreuzpfuhl.


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Postamt
Im Jahr 1880 bekam Weißensee sein erstes Postamt, Telegrafenamt und Briefpost wurden dort vereint. Ein Jahr später wurden Hausnummern eingeführt, ein Muss für die Postzustellung. Mit steigender Einwohnerzahl brauchte die Post ein größeres Dienstgebäude, das dann 1915 an der Tassostraße errichtet wurde.

Realisiert wurde ein mächtiger Putzbau mit Segmentbogengiebel und Mansarddach (nicht von Bühring entworfen). Zur Ecke hin ist das Gebäude unter einem Walmdach um ein Stockwerk erhöht. Heute nutzt ein Integrationsbetrieb fast das ganze Haus, die Poststelle braucht nur noch einen kleinen Bereich.


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Wohnen auf dem Friedhof
Nach dem Wohnen im Kirchturm ist noch auf ein weiteres ungewöhnliches Bauvorhaben hinzuweisen. Bei unseren Rundgängen sind wir oft auf ausgedünnte oder entwidmete Friedhofsflächen gestoßen. Friedhofskultur war gestern, neue Bestattungsformen brauchen wenig, weniger oder garkeinen Platz. Grabwohngemeinschaften sind alltäglich, auch Urban Gardening auf Friedhofsflächen haben wir schon gefunden. In Weißensee mit drei Friedhöfen allein an der Roelckestraße hat man sich für einen radikalen Weg entschieden: Durch einen Bebauungsplan wird der Friedhof Georgen-Parochial III um fast die Hälfte verkleinert, das gewonnene Gelände soll dem Wohnungsbau dienen. Die Friedhofsmauer an der Roelckestraße steht noch, aber der Entwurf für ein städtebauliches Konzept liegt bereits vor. Es soll eine "durchmischte Siedlung" entstehen, in der Studenten und Senioren gemeinsam leben. Genossenschaften, eine Stiftung und private Bauträger sollen das Projekt realisieren.


Entspannt haben wir uns am Antonplatz vor einer Bäckerei zu Kaffee und Kuchen niedergelassen, als unsere "persönliche" Wespe auftaucht. Sie ist nicht nur lästig, sondern aufdringlich, und das unentwegt, lässt sich weder vom Körper noch vom Kuchen vertreiben, in den sie schließlich auch noch hineinkriecht. Ungehalten brechen wir unser Flaniermahl ab und suchen Trost bei Wilhelm Busch:

___Erquicklich ist die Mittagsruh,
___Nur kommt man oftmals nicht dazu.
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Unsere Route:
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Bilder von Mondlandschaften und faulen Fischen
Der grüne Jaguar vom Weißen See