Bezirke
  Straßenverzeichnis     Personen     Themen     Aktuell     Forum  
Charlottenburg-Wilmersdorf
Friedrichshain-Kreuzberg
Lichtenberg
Marzahn-Hellersdorf
Mitte
Neukölln
Pankow
Reinickendorf
Spandau
Steglitz-Zehlendorf
Tempelhof-Schöneberg
Treptow-Köpenick
Allgemein:
Startseite
Ich bin NEU hier
Hinweise
Kontakt
Impressum
Datenschutz
Links
SUCHEN
Sitemap

Gemeinsam Gärtnern auf dem Friedhof


Stadtteil: Neukölln
Bereich: Böhmisches Dorf, Friedhöfe an der Hermannstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Rübelandstraße
Datum: 27. Juli 2022
Bericht Nr.:779

Der Norden Neuköllns ist nicht nur dicht bebaut, auch viele Grünflächen finden sich dort, Parks, Gärten und Friedhöfe. Die grünen Lungen haben für das Stadtklima eine große Bedeutung. Unser heutiger Stadtrundgang führt zu bisher nicht besuchten grünen Orten, an anderen haben wir schon früher beim Flanieren vorbeigeschaut (+).

Comeniusgarten
Der Comeniusgarten im Böhmischen Dorf ist unser erstes Ziel. Aber der Herrscher über dieses Paradies - mit Rauschebart und ergrauter Künstlermähne - ist heute nicht aufgelegt, Besucher in seinen Garten einzulassen. Er mag sich lieber den beiden Monteuren widmen, die auf der Wiese herumlümmeln. Das entspricht dem Zeitgeist, Handwerker sind schwerer zu bekommen als Besucher. Mehrere Überredungsversuche hört er sich an, dann wendet er sich ab.

Unser Interesse am Comeniusgarten ist dadurch nicht erloschen, virtuell und digital gibt es für uns mehr Möglichkeiten. Obwohl genau das den Ideen von Comenius zuwiderläuft, der dafür eintrat, alles mit den eigenen Sinnen aufzunehmen anstelle auf fremde Zeugnisse und Beobachtungen zurückzugreifen. "Die Lust zum Ergründen" wollte er als Pädagoge fördern, leider fühlen wir uns dabei ausgebremst. Johann Amos Comenius war böhmischer Theologe und Pädagoge, in seiner Heimat war er Bischof der Brüdergemeine (eine Gemeinde ohne das "d"), bevor er 1628 aus Glaubensgründen ins Exil ging. Das ist die geistige Verbindung zum benachbarten Böhmischen Dorf, in dem der Soldatenkönig seit 1737 Glaubensflüchtlingen aus Böhmen Zuflucht geboten hat.

Comenius verstand die ganze Welt als Garten, in einer Ordnung der Erde, wie Gott sie vorsieht. Der Comeniusgarten will dieses Weltbild mit christlicher Symbolik nachzeichnen. Mit dem "Auge Gottes" am Eingang. Das Gottesauge, das auch den amerikanischen 1-Dollar-Schein ziert, wird als Symbol für die göttliche Allmacht verstanden, Gott sieht alles. Und weiteren Bereichen wie Seelenparadies, Mosaisches Becken, Weltenmeer, Adamitischer Kreis. Die Adamiten waren eine in Böhmen verbreitete christliche Sekte, deren Anhänger eine religiöse paradiesische Nacktkultur leben wollten. Natürlich fehlt eine Comenius-Statue nicht im Garten.


mit KLICK vergrößern

Mietskaserne Richardsburg
Auf dem Grundstück des Comeniusgartens stand von 1905 bis 1971 eine der übelsten Mietskasernen der Stadt, die Richardsburg. Die Gebäuderiegel umschlossen fünf Hinterhöfe, in den 144 Wohnungen lebten 500 Menschen. Die Kneipe im Vorderhaus war Treffpunkt kommunistischer und sozialistischer Arbeiter. Die Nazis verdrängten die Arbeiter und richteten noch vor der Machtübernahme ein SA-Sturmlokal dort ein. Es kam zu Unruhen mit einem Toten. In den folgenden "Richardstraßenprozessen" wurden die Arbeiter zunächst freigesprochen, nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten dann nachträglich verurteilt und verfolgt.

Permagarten Richardstraße
Der Comeniusgarten schaut in philosophischer Sicht auf seine in der Natur verwirklichten Bilder. In der Richardstraße gibt es einen weiteren ungewöhnlichen Garten ganz anderer Art, der sich als Nutzgarten selbst reguliert, obwohl daraus geerntet wird. In einem Garten im Hinterhof zwischen Mietwohnhäusern baut das Café Botanico 200 verschiedene Kräuter an und erntet sie für ihre italienisch inspirierten Speisen: Von Bergamot Minze über Frühlingsbarbarakraut, Indianernessel, Sibirisches Tellerkraut bis Zitronenmelisse.


mit KLICK vergrößern

Kulturpflanzen werden nach der Ernte nicht sofort entfernt oder durch neue ersetzt, sondern bleiben auch nach der Ernte stehen. Der Platz zwischen den Pflanzungen wird durch andere Kulturen oder Biomasse bedeckt, auch ausgerissenes Unkraut wird zur Biomasse. Manche Pflanzenarten wachsen am besten, wenn man sie in Ruhe lässt, andere brauchen sehr viel Pflege und Aufmerksamkeit. Es gibt keine Pflanzenschutzmittel, gedüngt wird mit Kompost und Pflanzenjauche.

Zwei Australier haben die Idee der Permakultur entwickelt. Bill Mollison, einer der beiden, hatte beobachtet, wie achtsam die australischen Ureinwohner Aborigines mit der Natur umgehen. Permakultur ist eine nachhaltige Kultivierung des Bodens mit Rücksicht auf die Kreisläufe in der Natur. Aus einer landwirtschaftlichen Gestaltungsmethode wurde eine Lebensphilosophie, eine Gegenbewegung zur immer stärkeren Ausbeutung unseres Planeten, die gerade wieder im "Erdüberlastungstag" sichtbar geworden ist, der Jahr für Jahr immer früher eintritt.

Urban Gardening
In den 1970er Jahren hatten Anwohner in New York mit einer Guerilla-Aktion begonnen, der steinernen Stadt privates Grün abzuringen. Sie warfen "Seed Grenades" (Samenbomben) auf Brachen und diese Flächen begannen zu blühen. Die Idee setzte sich durch, mitten in Manhattan wurde aus einer riesigen Brachfläche der ersten Gemeinschaftsgarten New Yorks.

Daraus entwickele sich eine Bewegung, die sich über viele Länder ausbreitete. In England waren es der "Robin Hood der Blumenbeete" und Initiativen wie die "Wilderer in vergessenen Gärten". Das "Urban Gardening" war nicht mehr aufzuhalten. Auch in Berlin hat die Idee des gemeinschaftlichen Gärtnerns von Städtern großen Anklang gefunden. Heute sind vielfach in der Stadt gemeinsam bewirtschaftete Gärten zu finden, meist mit Hochbeeten, jeder kann mitgärtnern und Ideen einbringen. Und sei es nur, dass er eine Blühpatenschaft für Beete übernimmt.

Zu dem Selbermachen und Experimentieren kommt gemeinsames Lernen hinzu über Anbaumethoden, Verarbeiten, Kompostieren. Einem "Urban Gardening Manifest" haben sich deutschlandweit Initiativen angeschlossen, die die Bedeutung von Stadtnatur sehen und gleichzeitig das "Recht auf Stadt" einfordern mit frei zugänglichen, öffentlichen Räumen. Dem Manifest haben sich beispielsweise angeschlossen der Gemeinschaftsgarten "Himmelbeet" im Wedding am nördlichen Ende der Gartenstraße und in Neukölln der "Prinzessinnengarten", den wir bei diesem Rundgang besuchen werden. In der Nachbarschaft des Böhmischen Dorfs dient der Karma-Garten an der Böhmischen Straße als Gemeinschaftsgarten dem Urban Gardening der Bewohner im Quartier.

Jenseits der Karl-Marx-Straße kommen mit der Lessinghöhe und der Thomashöhe weitere Grünflächen in den Blick. Beide hatten wir schon früher besucht. Der Rübelandpark ist ein Entree zum Körnerpark, zu dem uns ebenfalls frühere Spaziergänge geführt haben. Trotzdem können wir uns an diesem Sommertag der Harmonie der Wasserkaskaden nicht entziehen und gehen in den Park hinunter. Zu den Friedhöfen an der Hermannstraße ziehen uns heute zwei Gartenprojekte an, der Prinzessinnengarten und ein Heilkräutergarten.

Prinzessinnengarten, Heilkräutergarten
Ein Friedhof als Raum für gemeinsames Gärtnern? Wer den Neuen St. Jacobi Friedhof betritt, sieht sofort, wie bitter nötig diese ausgedehnte Begräbnisfläche neue Ideen braucht, um als Naturerfahrungsraum zu überleben. Die Friedhofsfläche sieht gerupft aus, vereinzelte Grabsteine inmitten ungepflegter Flächen, manche Steine krumm und schief, dazwischen einzelne gepflegte Gräber als Inseln inmitten des Wildwuchses.


mit KLICK vergrößern

Auch Grabsteine sind gestorben, liegen auf einem Berg aufgeschichtet kreuz und quer. Der Steinmetzbetrieb neben dem Friedhofseingang hat längst aufgegeben, hier kommen keine Kunden mehr.

Sieben Friedhöfe gibt es an der Hermannstraße. Sie wurden damals vor den Toren der Stadt angelegt. Wenn alle Begräbnisplätze belegt waren, eröffnete die Kirche den nächsten Friedhof. So folgten dem St. Thomas Friedhof und dem St. Jacobi Friedhof jeweils der "Neue" Friedhof gleichen Namens an der Hermannstraße. Inzwischen hat sich die Friedhofskultur gewandelt, mehr als die Hälfte der Verstorbenen wird in Krematorien verbrannt, Gemeinschaftsgräber und anonyme Bestattungen verdrängen die Einzelgräber, künstlerische Grabgestaltungen sind kaum noch zu finden. Teile von Friedhöfen werden aufgelassen und zur Bebauung freigegeben. Da ist ein Gemeinschaftsgarten auf einer Friedhofsfläche eine Nachnutzung, die keine Pietät verletzt und die Fläche der Natur erhält.

Der Prinzessinnengarten ist vom Moritzplatz hierher umgezogen. Am Friedhofseingang wurde ein Gartencafé eingerichtet. In einem "grünen Klassenzimmer" auf dem Friedhof können Schüler an die Natur herangeführt werden. In der Nachbarschaft baut die "Band of Sisters" einen Kräutergarten auf, der das tradierte Wissen von Frauen aus dem Iran, Afghanistan, Syrien, Kurdistan - das orientalische Know-How - weitergeben soll. So wird ein Garten mitten in Neukölln zum Ort für Frauen, die ihre Heimat aufgeben mussten.

Musik Bading
Auf unserem Weg Richtung Hermannstraße haben wir die Karl-Marx-Straße überquert. Das ist ein ganz eigener, fremdländischer Kiez, der eigenen Regeln folgt. Nur wenige traditionsreiche Läden wie Koffer-Panneck oder Musik-Bading konnten sich dort halten, inzwischen sind beide Institutionen verschwunden. 1888 eröffnete der Sattlermeister Panneck sein Geschäft Ecke Uthmannstraße, 1919 Bading seine Musikalienhandlung eine Ecke weiter an der Thomasstraße. Während die Panneks ihr Geschäft 1997 aufgaben, wurde Musik-Bading Silvester 2017 durch einen Brandanschlag zerstört.


mit KLICK vergrößern

Saba, Telefunken, Grammophon, diese Leuchtschriften stehen heute noch an der Fassade, aber Abspielgeräte und Schellackplatten gehören einer untergegangenen Epoche an, heute bestimmen Elektronik-Discounter den Markt. Und dass man vom Verkauf von Notenblättern heute nicht mehr existieren kann, hat der Ausverkauf der Musikalienhandlung Riedel in der Uhlandstraße gezeigt. So war der Brandanschlag das Ende für Musik Bading, der Laden wurde nicht wieder eröffnet.
--------------------------------------------------------------

(+) Frühere Stadtrundgänge im grünen Nord-Neukölln:
> Schillerkiez: Eine Überdosis Leben
> Körnerpark: Völkerwanderung in Neukölln
> Thomashöhe , Lessinghöhe : Wasserturm und König-Friedrich-Wilhelm-Denkmal
--------------------------------------------------------------

--------------------------------------------------------------
Unsere Route:
--------------------------------------------------------------

zum Vergrößern ANKLICKEN



Eine Überdosis Leben
Luftgüte - alles im grünen Bereich