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Der janusköpfige Bahnhof


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Wittenau
Stadtplanaufruf: Berlin, Lübarser Straße
Datum: 15. Oktober 2018
Bericht Nr.: 633

Wie der römische Gott Janus mit dem Doppelgesicht hat auch der Bahnhof Wittenau zwei entgegengesetzte Antlitze. An der Oranienburger Straße steht ein historisches Bahngebäude von 1909, am Wilhelmsruher Damm ermöglicht nur eine schlichte Öffnung in dem Brückenaufleger von 1984 den Bahnhofszugang. Zwischen der Eröffnung beider Eingänge liegen 85 Jahre Stadtgeschichte, unterschiedliche Bautraditionen, zwei Weltkriege und die Errichtung der Trabantenstadt Märkisches Viertel angrenzend an Wittenau.

Bahnhof Wittenau
Früher gab es sogar zwei unterschiedliche Bahnhöfe mit dem Namen Wittenau an unterschiedlichen Bahnstrecken. Es gab ihn als Wittenau (Nordbahn) und als Wittenau (Kremmener Bahn). Der Bahnhof an der Nordbahn heißt heute Wittenau (Wilhelmsruher Damm), wobei der Klammerzusatz meist weggelassen wird, schließlich muss sich die Station nicht mehr von einer anderen unterscheiden, denn der Bahnhof an der Kremmener Bahn ist inzwischen umbenannt in Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Diese Anstalt, die die Berliner "Bonnies Ranch" nannten, hat heute keinen eigenen Namen mehr. Sie ist unselbständiger Teil des Vivantes Humboldt-Klinikums geworden und heißt nur noch "Standort Oranienburger Straße".

Dem Wunsch der Wittenauer, nicht mit der Nervenheilanstalt gleichgesetzt zu werden, wird das vielleicht langfristig helfen. Bis 1957 hieß die Institution "Wittenauer Heilstätten", danach verschwand der Ortsname aus dem Kliniknamen, sie wurde nach Karl Bonhoeffer umbenannt. Bis dahin waren "Wittenau" und "verrückt" fast Synonyme. Bis 1905 führte Wittenau den Ortsnamen Dalldorf, und auch damals hatte die "Irrenanstalt Dalldorf" die Bewohner umgetrieben, den Ortsnamen ändern zu lassen, um nicht als die "Irren" verspottet zu werden. Mit wenig Erfolg, weil der neue Ortsname Wittenau wieder in den Kliniknamen aufgenommen wurde, man hatte nichts gelernt.

Der S-Bahnhof Wittenau ist ein ganz normaler Umsteigebahnhof zur U-Bahn. In kühnem Schwung unterquert die aus Neukölln kommende U-Bahn den S-Bahnhof und bleibt dort stecken. Eigentlich sollte sie bis zum Märkischen Viertel verlängert werden, doch darauf warten die Bewohner der Trabantenstadt seit über 30 Jahren, und sie werden weiter warten müssen. Selbst bis zum Umsteigebahnhof Wittenau ist der U-Bahnverkehr ausgedünnt, teilweise enden die Züge schon am Paracelsusbad.

Industrieviertel Wittenau Nord
Das Gewerbegebiet im Einzugsgebiet der Wittenauer Straße hat keine eigene Identität gewinnen können, hat es wahrscheinlich nie versucht. Hingewürfelt stehen unterschiedliche Bauten ohne Bezug zueinander irgendwo im Raum. Kein Plan, keine Idee verbindet die Verkaufsgeschäfte mit Waren jeglicher Art, Autoplätze, Autodienste, Reifenhändler, Gewerbehöfe, Baumärkte und Einkaufscenter miteinander. Das angepriesene "WeltAuto" entpuppt sich als Gebrauchtwagen, ein Händler nimmt hier den Mund zu voll, das soll wohl Marketing sein. Die drei denkmalgeschützten Fabriken heben sich heraus, können den Gesamteindruck aber nicht korrigieren. Wenn wir schon hier sind, fühlen wir uns als Chronisten verpflichtet, das zu zeigen, was "auch Berlin" ist, hier ist unser Bericht.

Zwei Hochbunker
Vor zwei Wochen haben wir in Lankwitz einen Hochbunker gesehen, der nach Kriegsende zeitweise als Hotel genutzt wurde. Hier in Wittenau stehen zwei Bunker desselben Typs M500 für 500 Menschen direkt nebeneinander. Bei dem freistehenden Lankwitzer Bunker wirkten die antikisierenden Bauformen mit einem Konsolfries unterhalb des Dachs und Rundbögen aus Kunststein vor den Eingängen wie die Verzierungen eines Wohnhauses.

In Wittenau ist eine Lagerhalle zwischen die beiden Schutzbauten gesetzt worden. Die von der Straße zurückgesetzten Bunker werden durch einen Autohandel und Parkplätze praktisch unsichtbar gemacht. Dem gebührenden Umgang mit Denkmalen - auch wenn sie an dunkle Zeiten erinnern - wird das nicht gerecht.


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Umspannwerk Eichhorst, Fernheizwerk
Neben den Hochbunkern befindet sich ein Umspannwerk, das zur Straßenseite völlig unscheinbar ist, sich fast wie ein Behelfsbau auf dem Grundstück duckt. Seine Lage im Industriegebiet deutet darauf hin, dass es vor allem für die Stromversorgung der Industriebetriebe eingerichtet worden ist. Es ist weiterhin in Betrieb, nach seinem Ausfall im März 2018 sind 100 Gewerbeeinheiten und 600 Haushalte ohne Strom gewesen.

Schon von weither ist das Fernheizwerk Wallenroder Straße zu sehen. Sein hoher Schornstein macht dem Kirchturm der Felsen-Gemeinde am Eichhorster Weg nur dann Konkurrenz, wenn man ihn aus entsprechender Perspektive fotografiert. Den Fernheizbau hat der Berliner Architekt Fridtjof Schliephacke entworfen. An der Kleiststraße, wo die U-Bahn vom Untergrund an die Oberfläche wechselt, steht ein von ihm errichteter Terrassenbau.

Als Designer hat Schliephacke eine Stehleuchte entwickelt, die aus standardisierten Industrieteilen zusammengesetzt ist. Ein quadratischer Gussfuß, darauf ein Aluminiumstab, oben ein klappbarer runder Reflektor mit großem Durchmesser, fertig ist die "Berliner Bratpfanne" (so die heute allgemein übliche Produktbezeichnung).


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In dem Heizkraftwerk, das das Märkische Viertel versorgt, verfeuert Vattenfall Holzschnitzel. Jedes Jahr werden 70.000 Tonnen "Holzhackschnitzel aus Waldrestholz und naturbelassenem Holz anderer Herkunftsbereiche" verwertet. Man fragt sich erstaunt, wo so viele Holzreste vorhanden sind, dass jeden Tag 2.000 Tonnen davon zusammengebracht und angeliefert werden können.

Denkmalgeschützte Fabrikbauten
Zwei der drei denkmalgeschützten Fabriken in dem Wittenauer Gewerbegebiet wurden von dem Architekten Martin Punitzer errichtet. Er hat auch den Roxy-Filmpalast in der Rheinstraße in Friedenau entworfen, der durch den Bombenanschlag auf die Diskothek "La Belle" traurige Berühmtheit erlangte. Punitzer emigrierte in den 1930er Jahren nach Chile.

Maschinenfabrik Lindner
Auf einem parkartigen Grundstück hat Martin Punitzer in einem System eingeschossiger Hallen die Fabrikationssäle einer Maschinenfabrik untergebracht. Konstruktionssäle und Verwaltung befinden sich in einem vierstöckigen Gebäude. Der durchfensterte eingeschossige Bau zur Straße hin ist etwas zurückgesetzt gegenüber den dynamisch abgerundeten Endbauten, eine vollendete Harmonie von Neuer Sachlichkeit mit expressiven Einzelheiten.

Maschinenfabrik Queitzsch
Dagegen ist das Bürogebäude der Maschinenfabrik Queitzsch an der Oranienburger Straße so schlicht, dass man es vom reinen Anblick her nicht dem Architekten Martin Punitzer zurechnen würde. Ein langgestreckter Bau, zwei Stockwerke mit jeweils sechs Fensterachsen links und rechts des überdachten Eingangs, das ist wahrscheinlich der Bauzeit 1935 während des Dritten Reichs geschuldet. Vielleicht ist von der ursprünglichen Wirkung etwas verloren gegangen, als 2015 die Fassade "modernisiert und optisch hübsch gestaltet" wurde.

Fahrzeugfabrik Dittmann
Die Fahrzeugfabrik Dittmann hat von der Kutsche bis zum Automobil mit Benzin- oder Elektroantrieb und bei der Herstellung von Chassis und Aufbauten ein halbes Jahrhundert lang die Entwicklung der individuellen Fortbewegungsmittel mit geprägt. Merkantil gehörten die Übernahme durch ein anderes Unternehmen, eine Insolvenz in der Wirtschaftskrise, der Rückkauf aus der Insolvenzmasse und am Ende die Betriebsschließung mangels Aufträgen zur Firmengeschichte.

Der Architekt Bruno Buch hat 1914 die Fabrik errichtet als ein Ensemble aus Montagehallen und Verwaltungsgebäuden. Die Einfahrt in das Gelände erfolgt zwischen zwei Gebäudequadern, über denen ein Dach wie ein riesiges Tympanon (Dreiecksgiebel) schwebt - ein monumentaler Bau in Backsteinoptik. Heute prangt dort das Logo der Gewerbesiedlungsgesellschaft GSG, die die Gebäude größtenteils an kraftfahrzeugnahe Mieter vergeben hat. Hier finden sich Karosseriebauer, Lackierer, Fahrzeugpflege ("Autoaufbereitung"), Kfz-Werkstatt, Motorradhändler und ein Oldtimerclub.


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Unser Stadtrundgang ist mittags beendet. Wir trinken noch einen Milchkaffee in Wittenau im Café Junge, dessen Qualität ich seit Hamburg-Besuchen schätze. Angefangen haben sie in Lübeck als Dampfbäckerei ("Echter Genuss seit 1897"), jetzt dehnen sie sich auch in Berlin aus. In ihrer Filiale in der Rudi-Dutschke-Straße probieren sie aus, wie man den Biss in das belegte Brötchen eng mit der digitalen Welt verknüpfen kann. Dafür statten sie einen Bereich des Cafés mit immer wieder neuen Hintergründen für tolle Fotos aus. So kann man den "perfekten Junge-Moment" im Foto festhalten und über Facebook oder Instagram an alle Follower schicken. Denn nur was man selbst fotografiert und in die Welt geschickt hat, ist das wahre Leben. Glücklicherweise hat dieser abwegige Trend Wittenau noch nicht erreicht, wir beißen fotomäßig undokumentiert in unsere Backwaren.

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Krankenhaus, Hospital und Bürgeramt
Der falsche Sechser