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Wie riecht Berlin?


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Wittenau
Stadtplanaufruf: Berlin, Flottenstraße
Datum: 3. September 2012

Auf dem Weg durch die Kopenhagener Straße und Flottenstraße nehmen wir einen eindringlichen Geruch wahr, den die Nase nicht deuten kann. Er ist kompakt, es müssen mehrere Stoffe sein, und er nimmt zu und wird unangenehmer, je weiter wir kommen. An der Ecke Montanstraße finden schließlich die Augen die Lösung, die die Nase nicht bieten konnte: den ALBA-Recyclinghof.

Üble Düfte - Miasmen - wurden früher für eine Krankheitsquelle gehalten, als noch faulende Substanzen, Unrat, Verwesung, Kot und Urin den Geruch der Stadt bestimmten. Die Erkenntnis, dass der Geruch nicht selbst die Ursache ist, sondern als Wegweiser zu den Ursachen führt, war die Geburtsstunde der Stadthygiene. Die modere europäische Stadt sollte eigentlich eine Stadt ohne üble Gerüche sein. Umweltbelastende Betriebe wurden verlagert, Mülldeponien vor der Stadt errichtet, neue Energiearten (Elektrizität), Heizungssysteme und Brennstoffe verbesserten die Stadtluft. Dass heute noch ein Recyclinghof mitten in der Stadt schlechte Luft verbreitet, ist eine Zumutung.

Doch wie riecht die Stadt, wenn man sich von dem Geruchsbelästiger entfernt hat? Wien hat für mehr als 300.000 Euro eine Geruchsstudie in Auftrag gegeben und dabei herausbekommen: Rosen, Kaffeehaus, Fiaker, frische Wiesen, modrige Erde und Bratwurst-Duft bestimmen den Geruch der Stadt. Welche Überraschung! Das hätte man auch ohne Studie durch einfaches Brainstorming wissen können. Berlin riecht neutral, mit einer Prise Grün, sagt eine Duftforscherin, sie wohnt im beschaulichen Wilmersdorf. Im Wedding riecht es in der dunklen Jahreszeit meist verfault und modrig, meint eine Bewohnerin. In manchen Kiezen riecht es orientalisch mit Anklängen von Dönergewürz. Durch die Gitterroste drückt der Geruch von U-Bahn zur Straße hoch, wenn unten eine Bahn durchfährt. Manchmal steigt eine leichte Kopfnote aus der Kanalisation. Verallgemeinern kann man den Duft vor der Haustür nicht, aber was ist charakteristisch für Berlin? Geruch von Leder, Titan, Starbucks-Kaffee, Polyester, Essen, Solarium, Sonnencreme und Geld, steht in einer Publikation der Sparkasse (Geld - Achtung Schleichwerbung!). Strassendreck, U-Bahn, Döner-Bude, Curry-Wurst, ungewaschen, trockener Staub, sagt eine andere Quelle. Die Duftforscherin Sissel Tolaas hat differenzierte Gerüche für verschiedene Stadtteile erschnüffelt. Im Märkische Viertel riechen die Hausflure nach dem Schmierfett und Gummi der Aufzüge. Mitte riecht nach feinen Lederschuhen und dem Röstaroma der Coffee-Shops, Charlottenburg nach teurer Seife und Geld, Neukölln nach Polyester, Reinigungen und Kebab. Den Duft der DDR entdeckte sie an der Jannowitzbrücke: Kohlenkeller, scharfe Putzmittel und alter Stein.

Wir Flaneure haben schon viele Kieze gerochen, wir folgen dem Vorschlag des Riechforschers Hanns Hatt aus Bochum ("Duftpapst"), uns in neuer Umgebung nicht nur umzusehen, sondern auch "umzuriechen": "Wer mit 'offener Nase' durch den Alltag geht, dem eröffnen sich neue Welten und viele neue Eindrücke – das ist auf jeden Fall spannend."

Und noch in anderer Hinsicht "stinkt" die Flottenstraße. Der Straßenname verbindet sich mit der Kriegs- und Kolonialpolitik des Kaiserreiches (--> 1). Der ursprüngliche Name "Flottwellstraße", den sie bis 1903 trug, ehrte den Finanzminister, Innenminister, Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, Berliner Ehrenbürger Heinrich Eduard von Flottwell. Mit der Umbenennung der Straße wurde der 1898 gegründete Flottenverein propagandistisch unterstützt, um den Aufbau der Kriegsflotte voranzubringen. Um mit den Seemächten England und Japan mitzuhalten, betrieb das Kaiserreich eine gigantische Aufrüstung, begleitet von Propagandakampagnen des Flottenvereins. Das gab dem Kaiser die Möglichkeit, 1911 mit dem "Pantherspung nach Agadir" den anderen Großmächten seine Kolonialansprüche in Afrika deutlich zu machen, das deutsche Kriegsschiff "Panther" ankerte vor dem nordafrikanischen Hafen. Es herrschte Kriegsstimmung, die deutsche Öffentlichkeit wurde durch die Zeitungen mobilisiert, aber der deutsche Kaiser und sein Reichskanzler schreckten vor der konsequenten Haltung Frankreichs und Englands zurück und begnügten sich mit einer schwachen Verhandlungslösung. Trotzdem steuerte die Welt durch die dilettantische Machtpolitik Deutschlands weiter auf den ersten Weltkrieg zu.

An der Flottenstraße hatten sich um 1900 mehrere Industriebetriebe angesiedelt: zwei Eisenwerkstätten, eine Maschinenfabrik und die Argus-Motoren-Gesellschaft, die einen ganzen Straßenblock bis zur Ecke Kopenhagener Straße umfasste. Die Maschinenfabrik C.L.P. Fleck Söhne stellte Sägen und Holzbearbeitungsmaschinen her, aber auch Maschinen zur Bearbeitung von Granit, Sandstein und Schiefer. Sie war von der Chausseestraße hierher in die zweigeschossigen Montagehallen aus gelbem Klinker mit angedeutetem Renaissance-Schmuck gezogen. Werkstätten für Eisenbau und Eisenkonstruktion betrieben Hein, Lehmann & Co, und H.Gossen, deren noch vorhandene Industriegebäude heute unter Denkmalschutz stehen. Die Argus-Motorenwerke bauten ab 1908 Flugmotoren in Serie und wurden damit ein wichtiger Rüstungsbetrieb. Als nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg der Versailler Vertrag diese Produktion untersagte, stellte man sich auf Fahrzeugmotoren um. Die heimliche Aufrüstung vor dem Zweiten Weltkrieg ließ die Flugmotorenfertigung wieder aufleben. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurden die Werksanlagen demontiert. Heute nutzen Mieter in der üblichen Mischung von Dienstleistung und Kleinproduktion die ehemaligen Industriegebäude an der Flottenstraße. Der Straßenname - der auf deutsche Kriegstreiberei verweist - aber ist geblieben.

Unser weiterer Weg führt uns durch die Oranienburger Straße nach Alt-Wittenau. Über die ehemalige Irrenanstalt Dalldorf, die später Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik hieß, hatte ich bereits berichtet (--> 2). Heute sucht man eine Klinik dieses Namens vergebens: weder auf dem U-Bahnhof noch auf dem S-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik findet sich ein Hinweis auf die Lage des Krankenhauses. Steht man vor dem Eingang zum Klinikgelände an der Oranienburger Straße, fehlt auch hier ein Schild. Nur zum "Maßregelverzug" für psychisch Kranke und Suchtkranke zeigt ein bescheidener Hinweis. 1988 gab es hier eine Ausstellung "Totgeschwiegen - Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten". Schweigen - sollte dies inzwischen zum Programm geworden sein? Der Name ist jedenfalls der Klinik abhanden gekommen, seit sie im Januar 1997 mit dem Humboldt-Krankenhaus fusionierte und jetzt nur "Humboldt-Klinikum" heißt.

Der S-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik gibt sich als Empfangsgebäude der Kremmener Bahn aus, "Wittenau Kremm.B." steht an der gelbgeklinkerten Hauswand, ein kleineres blaues Schild mit dem heutigen Namen findet man erst Richtung Aufgang zum Bahnsteig. Ein rotes Klinkergebäude links vom Bahnhof trägt die verwitterte Schrift "Volksgaststätte Mitropa". Die Mitropa - nach dem Zweiten Weltkrieg in DDR-Hand - betrieb nicht nur Schlaf- und Speisewagen auf DDR-Strecken, sondern im späteren West-Berlin bis zur Teilung der Stadt auch beispielsweise das Bunker-Hotel Lankwitz. Es ist vorstellbar, dass hier in Wittenau von der Ost-Mitropa eine Gaststätte betrieben wurde. Meine Recherchen hierzu brachten keine Ergebnisse, Hinweise unserer Leser sind willkommen.

Zwischen Oranienburger Straße und Rathauspromenade erstreckt sich eine Wohnanlage, die Einfamilien-Reihenhäuser, aber auch mehrstöckige Wohnblocks umfasst. Die Wittenauer Wohnungsbaugenossenschaft "Gewiwo" verwaltet die Wohnungen der "Siedlung Wittenau" von Hermann Muthesius (--> 2a). Die Häuser aus den 1920er Jahren stehen unter Denkmalschutz, Publikationen über den Landhausarchitekten Muthesius berichten aber kaum über dieses Werk. Bei den Einfamilienhäusern an der Oranienburger Straße ist der Denkmalschutz jedenfalls zu spät gekommen, die Häuser sind durch individuelle "Verschönerungen" überformt und kaum mehr als Gesamtwerk erkennbar.

Das Dorf „Dalldorf“ wurde erst im Kaiserreich in „Wittenau“ umbenannt, weil die Bürger die Gleichsetzung mit der Irrenanstalt scheuten. Es bestand seit mindestens 1322, die Dorfkirche wurde im 15.Jahrhundert gebaut und steht heute seltsam unausgerichtet ohne Bezug zur umgebenden Bebauung. Durch die Bahnanschlüsse 1877 an der Nordbahn (heute S-Bahnhof Wittenau) und 1893 an der Kremmener Bahn (heute S-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik) und die Randwanderung der Industrie (--> 3) erhielt das Dorf entscheidende Impulse. Die Siedlung Borsigwalde entstand, später wurde daraus ein eigener Ortsteil. Die Dorfaue - heute Alt-Wittenau - zeigte im Laufe der Zeit eine Mischung von dörflicher und beginnender städtischer Bebauung.

An der Ecke Alt-Wittenau und Eichborndamm verspricht uns eine Landhaus-Restauration in einem historischen Bau einen kulinarischen Abschluss unseres Rundgangs. Leider flockt das Bier im Glas, und der Schinken auf dem Flammkuchen wird mit den zwischengelegten Trennblättern aus Plastik auf den Tisch gebracht.

Abschließend hier noch die versöhnliche Grabsteininschrift einer 17jährigen (Dorfkirche Alt-Wittenau):
Du warst der Eltern Freude / Der Brüder größtes Glück
Gott aber hat dich lieber / Rief dich zu früh zurück.

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Rathaus Reinickendorf, Alt-Wittenau und die Bonhoeffer-Nervenklinik waren bereits 2006 Ziel eines Spaziergangs, siehe Wir kommen aus Dalldorf

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(1) Bei der Petersallee im Wedding wurde die Ehrung der Kolonialzeit geschickt entsorgt: Krauses Haar und schwarze Haut
(2) Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik: Wir kommen aus Dalldorf
(2a) Mehr über Hermann Muthesius: Muthesius, Hermann
(3) Randwanderung der Berliner Industrie: Randwanderung der Berliner Industrie

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Unsere Route
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