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Hosenknöpfe im Münzeinwurf


Stadtteil: Neukölln
Bereich: Donaukiez
Stadtplanaufruf: Berlin, Donaustraße
Datum: 21. Dezember 2015
Bericht Nr: 531

Vom Eingang an der Straße führen zwei Säulenreihen zu einem römischen Tempel, die eine entlang der Straße, die andere parallel dazu als Kolonnadengang an einem Gebäude. Zwischen ihnen öffnet sich ein Platz mit einem segnenden Christus in der Mitte. Mit dem Rückgriff auf antike Formen hat der Baumeister Reinhold Kiehl 1911 dem Eingangsbereich des Friedhofs St. Jacobi am Hermannplatz und der Friedhofskapelle als Tempel ein anspruchsvolles, würdiges Gesicht gegeben. Nur zwei Jahre später wurde er selbst auf diesem Friedhof beerdigt, im Alter von 39 Jahren war er tot an seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Sein Grabdenkmal trägt einen Schmetterling im Dreiecksgiebel, das antike Sinnbild für die unsterbliche Seele, die den Körper nach dem Tod verlässt wie der Schmetterling seine leblose Puppe.

Der Friedhof St. Jacobi war in den Südhang der Rollberge eingepasst worden, vor der großstädtischen Besiedlung Neuköllns fanden sich hier Ackerflächen und Windmühlen. Später wurden in den Rollbergen Kies und Sand als Baumaterial für Berlin abgebaut, dadurch hat man die Berge nach und nach abgetragen. Bei der Verbreiterung der Karl-Marx-Straße und der Hermannstraße verlor der Friedhof Geländestreifen, aber die Erbbegräbnisse längs der Karl-Marx-Straße blieben erhalten, als die U-Bahn nach Rudow entlang der Friedhofsgrenze gebaut wurde. Diese Erbbegräbnisse zeigen, dass Neukölln eine großstädtische Oberschicht hatte, auch wenn die Rollberge selbst immer ein Arbeiterviertel waren.

Bei den Erbbegräbnissen findet sich auch das Grab von Max Sielaff, der den "selbstthätigen Verkaufsapparat" 1887 zum Patent anmeldete, zum Verkauf "beliebiger Gegenstände, welche entweder in dem Apparat auf einander geschichtet oder in einer mit Fächern versehenen Trommel untergebracht sind". Nach dem Einwurf eines bestimmten Geldstücks spuckt bis heute ein Automat nach Prüfung der Münze seine Ware aus, ohne dass wir auch nur darüber nachdenken, wer dieses hilfreiche Gerät wohl einmal entwickelt haben könnte. Ideengeber war der Schokoladeproduzent Ludwig Stollwerck, der in den USA erste Münzautomaten gesehen hatte.

Doch anfangs hatte Stollwerck wenig Freude an seinen gusseisernen Verkaufsautomaten. Kritiker machten sich Sorgen um die Volksgesundheit, die Kirche sah Sonntagsruhe und Fastenzeit durchbrochen. Kinder würden zur Kriminalität angestiftet, wenn sie versuchten, mit dem Einwurf von Hosenknöpfen an Schokolade zu gelangen. Aber Stollwerck ließ sich nicht beirren, exportierte seine Schokoladen-Automaten sogar in die USA und war dort jahrelang Marktführer.



Mit seiner neu gegründeten Automatengesellschaft entwickelte er weitere Verkaufsapparate, beispielsweise für Parfum, Toilettenpapier oder Fahrkarten. Stollwerck war zeitlebens von einer kreativen Unruhe ergriffen, er hatte er die Ideen für Sammelbilder als Produktzugabe zu Waren, für Emailschilder mit Reklamebotschaften oder Schallplatten aus Schokolade, die auf Spielzeuggrammophonen abgespielt werden konnten ("sprechende Schokolade"). Mit Edison zusammen präsentierte er das Kinetoskop, ein münzbetriebenes Filmbetrachtungsgerät, und förderte andere Entwickler, die an der Wiedergabe bewegter Bilder arbeiteten.

Unsere heutige Flanierroute entlang der Donaustraße beginnen wir am Grab von Reinhold Kiehl. Er hat als Stadtbaurat den Weg des Dorfes Rixdorf zur Stadt Neukölln (1912 erfolgte die Umbenennung) architektonisch mit seinen großstädtischen Bauten maßgeblich geprägt. "Stolz und wuchtig reckt sich der Turm des neuen Rathauses gen Himmel, ein neues Wahrzeichen in der aufstrebenden Großstadt" sprach der Bürgermeister hochgemut bei der Einweihung des Rathauses an der Karl-Marx-Straße, das bis zur Donaustraße herumreicht.

Im Donaukiez zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee fehlen Grünflächen und Kinderspielplätze. Die Bauten aus der Gründerzeit mit Wohnungen und Gewerbe lassen als Blockrandbebauung keine Freiflächen offen. Das Quartiersmanagement versucht, hier gegenzusteuern, der Schulhof der Rixdorfer Schule ist als pädagogisch betreuter Spielplatz für alle Kinder aus dem Donaukiez geöffnet worden. Reinhold Kiehl hatte den Schulhof direkt an der Straße angelegt und die Schule hinter den Schulhof zurückgesetzt. Dadurch war optisch der öffentliche Straßenraum um die Schulfreifläche erweitert worden. Die heutige Steinmauer an der Straßenfront lässt diesen Zusammenhang nicht mehr sichtbar werden, zur Bauzeit waren aber wie bei einem Vorgarten nur ein niedriger Zaun und eine Baumreihe vor dem Schulhof vorhanden.

Das Stadtbad Neukölln an der Donaustraße Ecke Ganghoferstraße hat Reinhold Kiehl entworfen, die Einweihung hat er aber nicht mehr erlebt. Außen ist das Gebäude mit Wandpfeilern und Rundbögen sparsam gegliedert, Jugendstillampen flankieren den Eingang. Antike Thermen waren das Vorbild für die Innengestaltung des Baus, der zu den größten und modernsten Europas gehörte. Die Innenausstattung mit Säulen, Wandelgänge, Nischen, Mosaiken und Skulpturen konnte man am Denkmaltag 2011 bestaunen, hier können Sie die Bilder ansehen: Gebaute Hygiene



Reinhold Kiehl ist heute weitgehend unbekannt, anders als die jungen Architekten, die eine Zeit lang in seinem renommierten Bauamt gearbeitet haben, wie Max Taut, Bruno Taut oder Ludwig Mies van der Rohe. Kiehl war in Danzig, München, Braunschweig, Dresden, Breslau, Hildesheim und Charlottenburg tätig, bevor er nach Rixdorf - das spätere Neukölln - kam. Zu seinen Bauten gehörten der S-Bahnhof Sonnenallee, das Krankenhaus Neukölln, die Kaskadenanlage im Körnerpark, aber auch Wohnanlagen wie die Siedlung am Dammweg. Für die Überbrückung des Neuköllner Schiffahrtskanals schuf er einen Typenentwurf, der mehrfach verwendet wurde, beispielsweise an der Neuköllnischen Brücke. Kiehls letzte Funktion war die eines verantwortlichen Planers beim Zusammenschluss der vielen Städte und Gemeinden zu Groß-Berlin, den er wegen seines plötzlichen Todes während der Arbeit auch nicht mehr erlebte.

In der Leinestraße steht die von Reinhold Kiehl entworfene Königlich Preußische Baugewerkschule, an der Maurer, Zimmerer und andere Bauhandwerker Entwerfen, Zeichnen, Materialberechnung und Kostenkalkulation lernen konnten. Mit diesem umfassenden Wissen konnten sie ähnliche Tätigkeiten wie Architekten ausführen. So werden in der Denkmaldatenbank bei Bauten jener Zeit oft Maurer- oder Zimmermeister als Architekten genannt. Bei dem renommierten Schulprojekt für den preußischen Staat musste Neukölln die Baukosten und den Unterhalt finanzieren. Heute nutzt die Carl-Legien-Oberschule das Gebäude.

Der Donaukiez ist als kommunales Zentrum von den üblichen Amtsgebäuden umgeben: In der Schönstedtstraße das Gericht mit Gefängnis und das Finanzamt, in der Wildenbruchstraße die Polizei, an der Anzengruberstraße die Post, an der Ganghoferstraße eine Reichsbankfiliale und die Sparkasse - alles Baudenkmale aus der Zeit, als Neukölln zur Großstadt wurde.

Das Gebäude in der Schönstedtstraße 7 war 1915 für ein Hauptzollamt errichtet worden und bis 1988 von ihm genutzt worden. Dann zog das Finanzamt Neukölln-Nord ein und konnte die Amtsstuben ohne Umbau weiter verwenden. Nach einer Zwischennutzung 1988 als Flüchtlingsheim und jahrelangem Leerstand wird es heute nach Modernisierung, dem Ausbau von Dachterrassen und der Aufteilung in einzelne Einheiten von dem üblichen Mix von Dienstleistungs- und Handwerksunternehmen sowie Kulturinitiativen genutzt. Wer zu Finanzamtszeiten beim Betreten des Gebäudes die Kette einer Fassadenfigur als Unheil verkündende Warnung deutete, hat sich unnötig gesorgt, denn hier wird ein Kaufmann mit seiner Waage dargestellt.

Kurt Berndt, der uns als Bauherr von Ensembles wie den Hackeschen Höfen bekannt, ist, hat an der Donaustraße einen Industriehof für eine Möbelfabrik errichtet. Wegen des dichten Gürtels aus Mietshäusern im Kiez ist der Industriehof hinter einem schlichten Wohnhaus verborgen. Eine breite Durchfahrt führt zu den Hinterhöfen mit Quergebäuden. Die Hofgebäude mit großen Fensteröffnungen sind mit weißen glasierten Steinen verblendet und teilweise mit gelben Umrandungen verziert. Die Etagen weisen große ungeteilte Räume auf, die nach Bedarf durch Zwischenwände untergliedert werden können. Treppen und Fahrstühle versorgen auch die aufgeteilten Raumeinheiten. Sanitäre Anlagen, Zentralheizung, Aufzüge und elektrisches Licht gehören zur Ausstattung.

Der kühne Schwung eines ausdrucksvoll abgerundeten Eckhauses an der Donaustraße Ecke Innstraße ist die Visitenkarte eines Wohnblocks, den Mebes und Emmerich in den 1920er Jahren für den Beamten-Wohnungsverein Neukölln errichtet haben. Eine weitere Wohnanlage an der Geygerstraße mit zur Straße offenen umbauten Höfen nimmt Reinhold Kiehls Idee von dem optisch erweiterten Straßenraum auf. Der Entwurf stammt von einem Amtsnachfolger Kiehls, der nach kurzer Berliner Tätigkeit nach Mannheim abwanderte und dort jahrzehntelang die städtebauliche Entwicklung der Stadt prägte.



Zwei Passagen können wir auf unserer heutigen Flanierroute durchqueren. Zwischen Fuldastraße und Weichselstraße liegt die Ideal-Passage, eine Wohnanlage mit vier gärtnerisch gestalteten Innenhöfen. Neben den sonstigen Vorzügen wie Zentralheizung, Warmwasserversorgung und Gas-Kohle-Herden ist eine zentrale Entstaubungsanlage eingebaut worden - ein solcher Zentral-Staubsauger ist auch heute noch nicht Standard und dürfte damals eine Sensation gewesen sein. Bauherr war die Baugenossenschaft Ideal, die für dieses Bauvorhaben gegründet wurde und seitdem tausende von Wohnungen überwiegend in Neukölln geschaffen hat. Eigentlich wollte die Allgemeine Ortskrankenkasse, der das Grundstück gehörte, die Wohnungen selbst bauen. Doch damit hätte sie ihre Befugnisse überschritten, die Aufsichtsbehörde unterband das Vorhaben. So gründete sie eine Genossenschaft und übertrug ihr das Grundstück, nun stand dem Ziel, vorbildliche Wohnungen zu schaffen, nichts mehr im Wege.

Die zweite Passage verbindet Richardstraße und Karl-Marx-Straße. Sie wurde - und damit schließt sich für uns der Kreis - von Reinhold Kiehl erbaut. Die "Welt" schreibt in ihrer Serie über 100 Berliner Bauten: "Kaum jemand vermutet, daß auch in Neukölln architektonisch herausragende Gebäude stehen". Das zeigt, wie unbekannt Reinhold Kiehl heute noch bei Welt(-stadt?)journalisten ist. Die Neuköllner Oper und das Passage-Kino haben ihre Spielstätten in den Gebäuden dieser öffentlichen Ladenpassage mit zwei Höfen. Kiehl hat hier ein kulturelles Zentrum geschaffen, das heute noch Anziehungspunkt ist.

Unser Flaniermahl nehmen wir nebenan im Café Rix ein. Nach anfänglichem Desinteresse der Bedienung an unserem Erscheinen in dem wenig besetzten Saal bekommen wir doch noch Speisen und Getränke nach Wahl und können versöhnlich unseren letzten Stadtspaziergang in diesem Jahr abschließen.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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Ein Mohr wird weggezaubert
Der Maler und sein Modell