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Die zärtliche Melodie in einem Glas Wodka


Stadtteil: Hellersdorf
Bereich: Kaulsdorf
Stadtplanaufruf: Berlin, Brodauer Straße
Datum: 3. Mai 2023
Bericht Nr.:805

Die Dörfer Hohenschönhausen – das wir zuletzt besucht hatten – und Kaulsdorf, in dem wir heute unterwegs sind, haben erstaunliche Ähnlichkeiten. Beide sind während der Ostkolonisation im 13. Jahrhundert gegründet worden, beide sind Straßendörfer. Auf den Angern stehen Dorfkirchen aus der Zeit der Ortsgründung. In beiden Orten haben sich Likörfabriken angesiedelt. Und beide Dörfer sind beim Kampf um Berlin am 22. April 1945 erobert worden, woran in jedem Dorf ein sowjetisches Ehrenmal erinnert. Die dort zunächst beerdigten Soldaten wurden später zu größeren Ehrenmalen umgebettet.

Wuhletal
Damit enden dann die Gemeinsamkeiten. Während der Dorfcharakter von Hohenschönhausen zerstört wurde durch Hauptverkehrsstraßen und Plattenbauten, ist Kaulsdorf als dörfliche Ansiedlung sichtbar geblieben. Angelehnt an das Wuhletal bieten die Häuser auf der Westseite des Dorfes einen weiten Blick in die idyllische Landschaft. Gerade an einem Frühlingstag wie heute ist das ein stimmungsvoller Spaziergang. Das historische Dorf liegt zwischen der Trasse der S-Bahn und Ostbahn und im Süden der Bundesstraße von Berlin-Mitte nach Frankfurt/Oder.

Dorf zwischen Bahntrasse und Bundesstraße
Der Bahnhof Wuhletal - an dem S-Bahn und U-Bahn an demselben Bahnsteig halten - liegt direkt oberhalb des Kaulsdorfer Friedhofs. Auf dem Weg zwischen Friedhof und Wuhletal kommt man landschaftlich eingestimmt in das Dorf. Ein krasser Kontrast zu der südlichen Einfassung des Dorfes an der Bundesstraße, auf der die Autos - durch Ampeln in Kolonnen zerhackt - als stetiger Strom Unwirtlichkeit verbreiten. Wer möchte dort wohnen oder im Freien in einem Café sitzen? Mehrere verfallende Bauten zeigen die zerstörerische Kraft der Ausfallstraße. Dorfkrug und Kino werden schon lange nicht mehr bespielt.

Die Dorfstraße zeigt eine fast lückenlose Reihe alter Dorfhäuser, wie man sie so vollständig nicht oft in den Berliner Dörfern findet. Manche ebenerdig, andere mit Obergeschoss, meist mit klassizistischen Elementen, mit Tympanon, Fensterüberdachungen, Pilastern, Gesimsen, Ornamenten.

Tatsächlich aber sind hinter den Häusern die Bauernhöfe verschwunden mitsamt dem größten Teil der alten Hofbebauung. Die früher unterschiedlich tief Richtung Wuhletal reichenden Grundstücke sind wie mit einem Lineal hinten abgeschnitten und nach der Wende im Hof mit Wohnhäusern vor der neuen Grenzlinie bebaut worden. Die dahinter liegenden Flächen sind heute Teil des Landschaftsschutzgebietes Wuhletal.


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Dorf als verdichtete Wohnsiedlung
Aus dem Dorf ist so nach der Wende durch Verdichtung eine Wohnsiedlung geworden. Die alten Wirtschaftsgebäude blieben nur stehen, wenn sie dem Ausbau der Höfe zu Wohngebäuden nicht im Wege standen. In die Bauernhäuser und Nebengebäude wurde eine Vielzahl von Wohnungen hineingedrängt. Die weitgehende Einheitlichkeit der Bauausführung bei einigen Neubauten lässt darauf schließen, dass deren Bebauung in einem Zuge erfolgte.

Andererseits ist ein individuelles Projekt - der Kastanienhof - mit einem "Bauen-Award" ausgezeichnet worden. In dem Bauernhaus und der 30 Meter lange Scheune sowie einem Neubau auf dem ungewöhnlich großen Grundstück sind 10 Wohnungen entstanden für eine Baugemeinschaft. Der Neubau besteht aus massivem Mauerwerk, eine Hülle aus grauem Holz kleidet das Haus ein. Es hat dieselbe Höhe wie die alte dreigeschossige Scheune.


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Auf einem Nebengrundstück entsteht gerade ein weiterer Ausbau in einem anderen Projekt, dort sollen 16 Wohnungen hineindrückt werden. Im Bauernhaus werden 6 Wohnungen entstehen, in der Scheune 3 Wohnungen und in Neubau-Reihenhäusern auf dem Hof 7 Wohnungen. Ein Beispiel dafür, wie extrem die Wohnbebauung die Bauernhöfe in Kaulsdorf verdichtet. Die neuen Hausnummern in der Dorfstraße sprechen Bände: Beispiele Hausnummern 4 a-g, 12 a-g, 21 a-g, da sind jeweils 7 Wohnungen auf einem Bauernhof entstanden, bei Hausnummer 31 a-n sind es sogar 14.

Davidstern am Bauernhaus?
An einem Backsteinbau der Dorfstraße findet sich ein großer sechszackiger Stern, der aus zwei ineinander verwobenen Dreiecken gebildet wird. Ist dort das Symbol des Judentums abgebildet? Tatsächlich wird dieses Hexagramm als Symbol in mehrfacher Bedeutung verwendet, nicht nur als Zionsstern. Auch an Bauernhöfen im Umland haben wir dieses Sinnbild gesehen. Es soll die Höfe vor Feuer schützen, böse Geister und Dämonen abwehren, möglicherweise sogar Engel herbeirufen. Das ist ein Aberglaube, der magische Kräfte fürchtet und sich davor schützen will.


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Das Gut Kaulsdorf
Kaulsdorf hat einen Gutshof, der aber nicht zu einem Rittergut gehörte, sondern ein Freigut war. Ein solcher Gutsbesitzer übte keine Gerichtsbarkeit über seine Untergebenen aus, musste keine Frondienste ("Hand- und Spanndienste") leisten und keine Abgaben entrichten. Der Gutshof liegt am südlichen Ende der Dorfstraße an der Ecke zur Straße Alt-Kaulsdorf. Nicolao de Caulestorp war der erste Gutsbesitzer (1285). Der Forscher Franz Carl Achard erwarb das Gut 1782. Sein Name wird auch François Charles Achard geschrieben, er war ein Nachkomme der Hugenotten, der französischen Glaubensflüchtlinge.

An gesellschaftliche Grenzen stieß Achard mit seiner Partnerwahl nicht nur in seiner hoch angesehenen Familie. Um eine nicht standesgemäße, ältere, geschiedene Frau mit Kind zu heiraten, wandte er sich sogar an Friedrich den Großen, der aber befand, dass es die Majestät gar nichts angehe, sondern "dass er es halten kann, wie er will", und das machte Achard dann auch. Sieben Jahre später wurde seine Ehe geschieden, es folgte illegitimes Zusammenleben mit seiner Stieftochter und schließlich einer Hausangestellten, beide "schenkten" ihm Kinder.

Zucker aus Runkelrüben
Mit seinem Kaulsdorfer Projekt, der Gewinnung von Zucker aus Runkelrüben, hatte Achard mehr Glück. In den Jahren davor hatte er als Mitglied der “Gesellschaft naturforschender Freunde” mit unterschiedlichem Erfolg Experimente durchgeführt wie: mit elektrischen Stromstößen Taubheit zu heilen; mit Sauerstoffgebläsen Metalle zu schmelzen, die Luft in Krankenzimmern zu verbessern, Platin zu schmelzen, heimische Pflanzen zum Färben von Textilien zu verwenden, Nachrichten mit einem Feldtelegrafen zu übermitteln.

Mit den von ihm in Kaulsdorf angebauten Runkelrüben kam er auf einen Zuckergehalt von 5 %, heute beträgt der bereinigte Zuckergehalt (BZG) 16 % und mehr. Er konnte den König von der Sinnhaftigkeit seines Tuns überzeugen. Mit dessen finanzieller Förderung kaufte Achard in Odernähe ein weiteres Gut und baute dort die von ihm entwickelten technischen Anlagen einer Zuckerrübenfabrik ein. Es war die erste funktionsfähige Rübenzuckerfabrik der Welt.

Bereits 1786 war das Gut Kaulsdorf abgebrannt, Achard wich mit den Forschungen nach Französisch Buchholz aus. Im Jahr 1807 brannte auch seine Fabrik an der Oder ab, vielleicht fehlte es doch an Hexagrammen? Wieder veranlasste der König eine finanzielle Unterstützung, diesmal zum Aufbau eines Lehrbetriebs an einer Musteranlage. Als billigerer Kolonialzucker den Rübenzucker verdrängte, wurde der Betrieb eingestellt. Achard starb verarmt und vergessen. Erst in den 1830er Jahren wurde die Zuckerherstellung nach dem Verfahren von Achard wieder aufgenommen und industriell vorangetrieben.

Spirituosenfabrik Sergej Schilkin
Eine Branntweinbrennerei gab es schon einmal fünfzig Jahre lang ab 1640 auf dem Kaulsdorfer Gut, bevor Achard seine Versuche zur Rübenzuckergewinnung begann. Ab 1890 wird von einer Schnapsbrennerei im Dorf Kaulsdorf berichtet. In den 1920er Jahren flüchtete die Familie des Spirituosenfabrikanten Schilkin aus St. Petersburg nach der russischen Oktober-Revolution nach Berlin. Auf dem Gut Kaulsdorf fand die Branntwein-Firma 1932 eine neue Heimat. Der Sohn Sergej übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg das Unternehmen und machte es zum fünftgrößten Spirituosenhersteller der DDR. Heute leitet die Enkelgeneration den Betrieb und ist mit ihrem Pfefferminzlikör "Berliner Luft" gerade in den Schlagzeilen wegen eines Preiskampfes mit Edeka.

Der Wodka, mit dem schon der Zarenhof beliefert wurde, war zu Beginn in Kaulsdorf das Basisprodukt: "In einem Glas Wodka liegt all die zärtliche Melancholie, die dem russischen Volk so eigen ist", schwärmte der Senior. Nach der Wende wurde mit dem "Zarenwodka" ein 40%iger Wodka zum Hochpreisprodukt stilisiert. Der heutige Betriebsleiter, der "gegen das Saufen" ist, sinniert darüber, ob irgendwann einmal der Alkohol als Suchtmittel verboten wird, reagiert aber gelassen darauf: "Vielleicht produzieren wir in 20 Jahren Limonade".

Die drei Kirchen von Kaulsdorf
Alle guten Dinge sind drei? Dann wäre Kaulsdorf vollkommen, hat es doch drei Kirchen. Aber das ist eher ein Zufall, es gibt kein Hinweis auf einen inneren Zusammenhang. Wobei es schon ungewöhnlich ist, dass die Gotteshäuser von drei verschiedenen Religionsgemeinschaften innerhalb einer Entfernung von 400 Metern beieinander liegen. Die Dorfkirche steht seit Jahrhunderten dort, Johannische Kirche und "Ev. Freikirche Leuchtturm" sind erst nach der Wende hinzugekommen. Eine ähnliche Konzentration von Glaubensgemeinschaften hatten wir schon einmal in Britz im Umkreis des Kranoldplatzes beobachtet.

Johannische Kirche
Zu der ehemaligen Scheune eines alten Bauernhofes an der Dorfstraße führt ein Wegweiser: "Gemeindehaus der Neuapostolischen Kirche". Die Johannische Kirche hat dort ihr Domizil, ein ungewöhnliches Ambiente für ein Gotteshaus. "Wohnhaus, Scheune, Stall und Kirche" beschreibt die Denkmaldatenbank das 1888 erbaute bäuerliches Anwesen.


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Die von dem Heiler und Propheten Joseph Weißenberg 1926 gegründete Kirche stützt sich auf drei statt zwei christliche Testamente: Mose (Zehn Gebote), Jesus Christus (Gebot der Nächstenliebe) und Joseph Weißenberg (Gesetz des Geistes). Offensichtlich war der Glaube des Religionsstifters an sich selbst unerschütterlich. In Berlin hatte Weißenberg vorher ab 1902 als Heilmagnetiseur in eigener Praxis in der Gleimstraße gearbeitet: Heilen durch Handauflegen, als Geistheiler betreute er 50 Patienten pro Tag.

In der Johannischen Kirche wird starke Jenseitsbezogenheit des Glaubens beispielsweise sichtbar bei "Geistfreundreden, mit denen sich Engel des Lichts an die Gläubigen wenden". Und bei der Reinkarnation, dem Glauben an die Wiedergeburt. Die Religionsgemeinschaft mit 30 Kirchengemeinden in Deutschland ist keine Sekte, sondern eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Das Berliner Zentrum befindet sich im Grunewald im St.-Michaels-Heim.

Evangelische Freikirche Leuchtturm
Südlich der Bundesstraße Alt-Kaulsdorf liegt an der verlängerten Dorfstraße - Chemnitzer Straße - das dritte Gotteshaus, die "Evangelische Freikirche Leuchtturm". Gott habe den Menschen erschaffen, damit der Mensch Gott verherrlicht, lesen wir. Göttlicher Narzissmus als Religion? Jeder Gläubige sei Gottes Eigentum. Die Freikirche existiert, "um Jünger zu machen, die wiederum Jünger machen", und "auf neue Gemeindegründungen hinzuarbeiten, denn Gemeinden gründen Gemeinden". Wachstum um des Wachstums willen, viele Zellteilungen scheint es noch nicht gegeben zu haben.

Die vier Umspannwerke von Kaulsdorf
Vier Bauten für die Stromversorgung im Dorf? An der Bahnstrecke im Norden des Dorfes versorgen zwei Gleichrichterwerke die S-Bahn und U-Bahn mit Strom in der bahnüblichen Konfiguration. Dafür muss Wechselstrom, der von den Kraftwerken geliefert wird, in Gleichstrom umgewandelt werden. Der Hausarchitekt der S-Bahn, Richard Brademann, hat in den 1920er Jahren an ausgewählten Punkten des Bahnnetzes 50 Stromversorgungsbauten entlang der Gleise erbaut. Seine Gleichrichterwerke sind ein einheitlichen Bautypus, der für das geübte Auge sofort erkennbar ist. Der Kaulsdorfer Bau steht südlich des S-Bahnhofs Kaulsdorf am Wilhelmsmühlenweg.

Das U-Bahn-Gleichrichterwerk Wuhletal liegt als unscheinbarer Bau südlich des Bahnhofs Wuhletal am Münsterberger Weg. Die U-Bahn trifft an diesem Bahnhof mit der S-Bahn zusammen, beide benutzen dieselben Bahnsteige mit eigenen Gleisen. Für den Betriebsstrom nutzt die U-Bahn ein eigenes Gleichrichterwerk.

Die beiden Umspannwerke an der Bundesstraße Alt-Kaulsdorf und am Münsterberger Weg sind gebaut worden, um die privaten, öffentlichen und gewerblichen Verbraucher im Stadtgebiet mit Elektrizität zu versorgen. Der von den Kraftwerken gelieferte Hochspannungsstrom (30 kV Spannung) wird in den Umspannwerken auf Mittelspannung (6 - 10 kV) umgeformt und gelangt von dort über Unterstationen an die Endverbraucher.

Der kubische Bau mit Rauputzfassade an der Straße Alt-Kaulsdorf wurde von der DDR im Jahre 1951 zur Ertüchtigung der Elektrizitätsversorgung in Ost-Berlin errichtet. In dem symmetrischen Bau sind zwischen den erhöhten Transformatorenkammern an beiden Seiten die Schaltanlagen in einem niedrigeren Mitteltrakt angeordnet. Der zweigeschossige Bau im Hintergrund enthält Werkstatträume und drei Wohnungen.


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Das Gebäude ist nur noch eine Hülle, die technischen Anlagen wurden ausgebaut. Seine Funktion übernahm das in den 1970er Jahren erbaute Umspannwerk am Münsterberger Weg auf einem Nachbargrundstück des U-Bahn-Gleichrichterwerks. Und auch dieses Umspannwerk ist schon wieder überholt, gerade wird ein Neubau mit modernen Schaltanlagen erstellt. Er wird ein Drittel weniger Platz brauchen: "Was bisher Platz in einem Schrank braucht, passt dann in einen Schuhkarton".

Freileitungen
Gleichzeitig sollen wieder Strommasten verschwinden, mit denen immer noch im Ostteil der Stadt Strom in Gebiete am Stadtrand geleitet wird. In Marzahn-Hellersdorf gibt es noch vier Freileitungen, eine führt von diesem Umspannwerk Münsterberger Weg nördlich zum Netzknoten Malchow. In vier Jahren sollen alle Freileitungen in unterirdischen Kabeltrassen verschwunden sein.



Für das abschließende Kaffeetrinken sind wir auf eine ortstypische Alternative zu nicht vorhandenen Cafés ausgewichen. Das Biesdorf-Center am Elsterwerdaer Platz mit seinen großen Freiflächen bietet die Gelegenheit, vor einem Bioladen in der Sonne zu sitzen.
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Unsere Route:
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Daran wollen wir gemessen werden