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Eine Kirche wie ein Förderturm


Stadtteil: Treptow
Bereich: Niederschöneweide
Stadtplanaufruf: Berlin, Hasselwerderstraße
Datum: 2. August 2023
Bericht Nr.:812

Niederschöneweide zwischen Spree und Bahntrasse ist unser heutiges Ziel, nachdem wir die "andere Seite" mit dem Bahnbetriebswerk Schöneweide und dem Bahnhof Johannisthal bereits vor zwei Jahren erforscht hatten. Der Bahnhof Schöneweide hatte früher fünf Bahnsteige für Fernbahn und Vorortverkehr. Angeschlossen war ein Güterbahnhof, mit der "Bullenbahn" wurden über ein weit verzweigtes Güterbahnnetz nahezu alle Fabriken der Umgebung versorgt. Heute halten am Bahnhof Schöneweide S-Bahnen an zwei Bahnsteigen. Ein weiterer Bahnsteig ist für Regionalzüge in Betrieb, der Güterbahnhof wurde nach der Wende stillgelegt und überbaut.

Bahnhof Schöneweide als Mobilitätsdrehscheibe
Der Bahnhof wird zurzeit restauriert und modernisiert. Der Bahnhofsvorplatz soll zu einem "zentralen Aufenthalts- und Begegnungsraum" werden, zur "attraktiven Mobilitätsdrehscheibe". Daran wird der lebendige Kiez zwischen Michael-Brückner-Straße und Schnellerstraße nicht teilnehmen. Alte und neue Wohnbauten, eine Wohnsiedlung, zwei Schulen, eine Kita, eine Schauspielschule, eine Kirche und das attraktive Umfeld der Spree werden von der BVG vernachlässigt. Busse nur alle 20 Minuten je Richtung auf den ersten Metern der Michael-Brücknerstraße und auf der Schnellerstraße parallel zur Spree. Der BVG-Slogan einmal anders gedeutet: Weil wir dich lieben, gehst du besser zu Fuß.

Bürgerliches Wohnviertel
Niederschöneweide war nicht nur ein Industrieviertel, sondern auch ein bürgerliches Wohnviertel, mehrere denkmalgeschützte Mietwohnbauten und eine Villa liegen an unserem Weg. Wie in anderen Gemeinden waren auch am Ort vor und nach 1900 Bauhandwerker gleichzeitig als Baumeister tätig. Diese Fähigkeiten einer architektenähnlichen Ausbildung konnten an einer Baugewerkschule erworben werden.

Der Zimmermann Carl Siebert hatte um 1900 mehrere freie Parzellen gekauft, die er mit Mietshäusern nach eigenen Entwürfen bebaute. Die individuell gestalteten Wohnhäuser haben reiches Dekor in den Formen des Jugendstils. Es sind Flachreliefs, Hochreliefs oder vollplastische Darstellungen mit figuralen, floralen oder abstrakten Motiven. Die aufwändige Gestaltung gilt als "herausragendes Beispiel der bürgerlichen Wohnkultur des frühen 20. Jahrhunderts".

Britzer Straße
Drei Häuser in der Britzer Straße 15 bis 17 von Carl Siebert weisen Jugendstil-Fassadenschmuck auf. Sie sind mit Erkern, Loggien, Fensteranordnungen, Giebel- und Dachformen unterschiedlich gestaltet. Die Darstellungen sind über die gesamte Fassade verteilt. Nackte Frauenkörper wenden sich dem Betrachter zu oder wenden sich von ihm ab, wobei manche Figuren sich einen Blick über die Schulter gestatten. Dieser herausfordernde Blick verstärkt die erotische Wirkung, die ohnehin von den Frauenfiguren ausgeht. Sie stehen auf Konsolen oder sitzen auf Girlanden. An der Kante eines Erkers drücken sich Frauenkörper in eine Nische. Andere sind mit Insignien versehen, halten eine Kirche in der Hand oder stützen ihren Fuß auf die Abbildung eines Kopfes. Die Reliefs stellen Geschichten aus Märchen und Sagen nach.

Schnellerstraße
Ganz anders das Haus Schnellerstraße 40, ebenfalls von Carl Siebert erbaut. Zwei Motive werden großflächig auf der Fassade ausgebreitet. Im Mittelteil der Fassade eine allegorische Gestalt der Musik, eine weibliche Figur mit Blumenkrone und Lyra, getragen von Löwenmasken.

Im Giebelbild sind Rücken an Rücken Allegorien des Morgens und des Abends zu sehen. Ein erblühender und verwelkender Baum, ein Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sowie die begrüßende und Abschied nehmende Haltung der Frauengestalten zeigen den Tagesrhythmus an. Ein architekturbezogenes Bildwerk von außergewöhnlicher Qualität.


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Zwangsarbeiterlager
Im Zweiten Weltkrieg wurden von den Nazis eine halbe Million Menschen in Berlin zur Zwangsarbeit gezwungen, vor allem um die Rüstungsproduktion aufrecht zu erhalten. Sie arbeiteten meist in der Industrie, aber auch im Handwerk, beim Bau, manche sogar in privaten Haushalten. Untergebracht wurden sie in 3.000 Lagern und anderen Unterkünften überall in der Stadt. Das alles geschah vor den Augen der Bevölkerung. Verschleppte Westeuropäer wurden besser behandelt als die in der rassistischen Hierarchie weiter unten stehenden Osteuropäer. Den Schluss bildeten "Ostarbeiter" aus der Sowjetunion, sie wurden als "rassisch minderwertig" angesehen.

Ein solches Zwangsarbeiterlager mitten in einem Wohnviertel ist in der Britzer Straße erhalten geblieben, dort hat heute das "Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit" seinen Sitz. Die zwölf eingeschossige Unterkunftsbaracken waren für mehr als 2.000 Zwangsarbeiter ausgelegt, vor allem Italiener wurden dort untergebracht. Als das faschistische Italien das Bündnis mit den Nazis 1943 beendete, wurden italienische Soldaten in Deutschland als "Militärinternierte" behandelt und zur Zwangsarbeit eingesetzt.

Das Lager erstreckt sich von der Britzer bis zur Rudower Straße. Dort wird ein ehemaliges Lagergebäude von Sportfreunden unter dem Namen "Völkerfreundschaft" nachgenutzt. Früher wurden dort Angehörige anderer Völker ausgebeutet, der Begriff Völkerfreundschaft - auch wenn er als Schlagwort aus DDR-Zeiten stammt -, wirkt wie bittere Ironie.


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Zweimal abgebaggert: Hasselwerder
Die Hasselwerderstraße führt zur Spree, ihren Namensgeber wird man vergeblich suchen. Hasselwerder war in Schöneweide eine Insel in der Spree, die schon in den 1860er Jahren zur Regulierung des Flusses abgebaggert wurde. Ein Horn in der Spree behielt den Namen, vielleicht war ein Rest der Insel mit dem Festland verbunden worden. Hundertzehn Jahre später musste man nochmal ran. Auf der gegenüberliegenden Seite war für einen Fabrikbau das Ufer in die Spree hinein aufgeschüttet worden. Das führte zu einer Enge für den Schiffsverkehr, die man wiederum am Hasselwerder ausgeglichen hat. Das Horn wurde abgeschliffen, Hasselwerder verschwand endgültig.

Zweimal neu gebaut: Kaisersteg
Auch der Kaisersteg, der am Ende der Hasselwerderstraße über die Spree führt, hatte mehrere Leben. Vom Bahnhof Schöneweide kommend konnte die Spree dadurch zu Fuß auf direktem Wege überquert werden, um Oberschöneweide zu erreichen. Dort hatte die AEG im Rahmen der Randwanderung der Industrie einen neuen Standort errichtet, ein Zentrum der Elektroindustrie Berlins, fernab der sich ständig erweiterten Stadt.

Die AEG finanzierte den Brückenbau mit, der mit Rücksicht auf die Schifffahrt besonders hoch über der Wasserfläche verlaufen musste, "um dem lebhaften, hier die Spree kreuzenden Dampferverkehr die Unbequemlichkeit des Schornsteinumlegens zu ersparen". Der Architekt wandte besondere Sorgfalt auf, um das "landschaftlich reizvolle Bild unserer schönen Oberspree" nicht zu stören.


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Der Brückenbau wurde im Baedecker Reiseführer erwähnt, er zählte zu den bedeutenden Leistungen der Ingenieurkunst um 1900. Im April 1945 sprengte die SS den Kaisersteg, die anrückende Rote Armee ließ sich dadurch nicht wirklich aufhalten. Erst 2007 wurde die Flussquerung dort wieder möglich auf einer neu gebauten Fußgänger- und Radwegbrücke. Die moderne Seilbrücke ist an einem 32 Meter hohen Pylon aufgehängt.

Hasselwerder Villa
Am Horn von Hasselwerder in der Fließstraße betrieben Alfred und Anton Lehmann seit 1880 eine Textil-Fabrik für "Mohair und Seidenplüschen, Nouveautes, Shawls und Wollenstoffen. Fabrik mit Spinnerei, mechan. Webstühlen, Färberei, Druckerei, Appretur". Das Unternehmen war sehr erfolgreich, wurde sogar auf der Gewerbeausstellung 1896 im Treptower Park ausgezeichnet.

In der nächsten Generation übernahm Richard Lehmann die Fabrik. Für ihn und seine Frau Else errichtete das Unternehmen 1909 eine Villa in der Hasselwerderstraße 22 in einem parkartigen Gelände. Während der Weltwirtschaftskrise mussten sie 1932 die Villa verlassen und weitervermieten. Im Bewusstsein ihrer Verankerung im Bürgertum glaubte Else Lehmann in der Nazizeit ihre jüdische Familie als sicher: "Uns werden die doch nichts tun", doch die Wahrheit war brutal, das Ehepaar wurde im KZ umgebracht.

Eine Projektgruppe der nahegelegenen Hochschule für Technik und Wirtschaft entwickelte 2011 ein nicht mehr vorhandenes Denkzeichen: Das Zitat von Else Lehmann wurde in großen Lettern auf der Hausfassade angebracht. Man musste um das Haus herumgehen, um den Text vollständig zu lesen.


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Spreesiedlung
An der Hainstraße wurde das städtische Wohngebiet Ende der 1920er Jahre durch die Spreesiedlung erweitert. Die Siedlung öffnet sich zum Wasser, die Architekten Mebes und Emmerich stellten mit kubischen Blöcken die Hauszeilen quer zur Straßenfront. Durchgrünte baumbestandene Wege führen zum Spreeufer. Die Wohnungen in den vier- bis fünfgeschossigen Wohnzeilen wurden mit Küche, Bad und Loggia ausgestattet. Die Siedlung erhielt ein zentrales Heizhaus und eine eigene Wäscherei.

Friedenskirche
Auch die Friedenskirche an der Einmündung der Britzer Straße in die Grünauer Straße ist wie die Spreesiedlung Ende der 1920er Jahre in Formen der Neuen Sachlichkeit erbaut. Kirchenbau und industrieller Großbau sind hier eine gestalterische Verbindung eingegangen, die Kirche zählt zur expressionistischen Architektur unter Verwendung von Backsteinen (Backsteinexpressionismus). Die Architektengemeinschaft Fritz Schupp und Martin Kremmer hat fast 70 Industrieanlagen entworfen, überwiegend für den Bergbau, wie die Schachtanlage Zollverein 12 in Essen (UNESCO-Weltkulturerbe).

"Der monumentale Westturm, ein ortsbildprägendes Wahrzeichen von Niederschöneweide, erinnert in seiner kubischen Form an Fördertürme von Bergwerken. Drei hohe verschattete Nischen verleihen der stereometrischen Baumasse räumliche Tiefe".


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Die Kirche ist im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt. In den 1950er Jahren wurde das erheblich beschädigte Kirchenschiff wieder aufgebaut. Eine Gedenktafel in der Kirche erinnert an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, sie verklärt den Opfertod: "Der Tod hat uns in die Erde gepflügt - nun erntet". Blutige Ernte, die niemand mehr haben will.

Neubauprojekt Weydenhof
Auf dem ehemaligen Fabrikgelände an der Villa Hasselwerder soll bis zur Spree herunter das Neubauprojekt Weydenhof entstehen mit 135 Eigentumswohnungen in vier "Villen" und einem Wohnriegel. Die Ausstattung ist zeitgemäß: Dachbegrünung, Fernheizung, Holzbeplankung an den Fassaden. Einige Wohnungen haben Wasserblick. Auch Tiefgaragen gehören zu den Wohnungen.


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Die "Villen" sind ziemliche Klötze, die etwas gefälliger wirken, weil ihre zurückspringenden Obergeschosse den Eindruck eines Bauwürfels vermeiden. Die Anbindung ist "hervorragend" - an die Stadtautobahn. Statt näherliegender öffentlicher Verkehrsmittel wird auf den Fußweg zum Bahnhof verwiesen. Auch zur Hochschule HTW Berlin auf der anderen Spreeseite kann man nur zu Fuß gelangen.

Der Gärtnerbursche ist wieder da
An der Spreepromenade parallel zur Hainstraße stand von 1966 bis 2006 die Bronzeskulptur "Der Gärtnerjunge" von Karl-Heinz Schamal. Kess auf einen Spaten gelehnt, die Schiebermütze in der Hand. Drei Abgüsse gab es insgesamt, auch in Potsdam und Blankenfelde steht der kecke Jüngling, doch dem Schöneweider Exemplar wurde übel mitgespielt, mal durch Diebstahl, mal durch Vandalismus.


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Schließlich holte das Grünflächenamt ihn zu sich nach Baumschulenweg. Doch seit vier Monaten steht er wieder auf dem Grünstreifen am alten Platz, eine Bewohnerin hatte für die Rückführung gekämpft.

Zum Flaniermahl kehren wir im Café in der Schnellerstraße ein. "Ein wunderbarer Platz zum Verweilen. An der Kuchenvitrine sollte man nicht vorbeigehen". Das steht im Internet auf der Seite "Megaschöneweide" über das, "was wir an Schöneweide lieben". Und tatsächlich: Modernes Design, großzügiger Raum, New Yorker Cheesecake. Hier bestätigt es sich, der Ortsteil ist ein bürgerlicher Wohnbezirk auf der Höhe der Zeit mit einer mehr als hundertjährigen Geschichte.
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Angrenzende Ziele:
> Bahnbetriebswerk Schöneweide und Bahnhof Johannisthal:
__Das unbequeme Gefühl einer Fahrt in der Reichsbahn

> Industrierevier Niederschöneweide:
__Volkseigenes Bier
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Unsere Route:
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