Bezirke
  Straßenverzeichnis     Personen     Themen     Aktuell     Forum  
Charlottenburg-Wilmersdorf
Friedrichshain-Kreuzberg
Lichtenberg
Marzahn-Hellersdorf
Mitte
Neukölln
Pankow
Pankow, Weißensee
Prenzlauer Berg
Reinickendorf
Spandau
Steglitz-Zehlendorf
Tempelhof-Schöneberg
Treptow-Köpenick
Allgemein:
Startseite
Ich bin NEU hier
Hinweise
Kontakt
Impressum
Datenschutz
Links
SUCHEN
Sitemap

Die drei Leben eines Lichtspieltheaters


Stadtteil: Prenzlauer Berg
Bereich: Schönhauser Allee Ecke Gleimstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Gleimstraße
Datum: 21. Juni 2021
Bericht Nr.:740

Nach dem Abflachen der Pandemie werden gerade wieder die Kinos geöffnet. Der Sehnsucht nach Kultur wird erstmals wieder eine (Kino-)Tür aufgetan. Mit begrenzter Zuschauerzahl, also noch nicht wirtschaftlich tragfähig. Und man kann wieder Popcorn futtern, das bringt ein Zubrot für die Kinobetreiber. Kino ist mehr als Filme anschauen: Der gerade in den Ruhestand verabschiedete Berlinale-Direktor Dieter Kosslick, dessen Schwerpunkt die Filmauswahl war, würdigte in seinem Buch eine weitere Sichtweise: Kino ist Architektur.

Kino ist mehr als Filme anschauen
Kino ist ein einzigartiger Erlebnisraum, es hüllt den Besucher ein und führt ihn unmerklich in die Welt der Illusion hinüber. Bevor der Film beginnt, haben Architekten das Drehbuch geschrieben. Es beginnt bereits auf der Straße, das Signal "Kino" weckt Erwartungen, über das Foyer wird man sanft in eine andere Welt geschleust. Der Kinosaal schafft eine dichte Atmosphäre mit Farben und Lichtdramaturgie und Behaglichkeit mit komfortablen Sitzen. Man wird eingestimmt auf das, was kommt, und dann muss die Architektur auf einmal gänzlich verschwinden, unsichtbar werden, wenn der Gong den Film ankündigt, das Licht gedimmt wird. Von nun an wird auf dem Kinosessel geweint, gelacht, geknistert und gekrümelt.

Als neue Bauaufgabe wurde das Lichtspielhaus aus dem Theaterbau abgeleitet. Beide haben Kassenraum, Foyer, Zuschauerraum, Bühne/Leinwand, Technikraum, manchmal noch Logen und eine Empore. Besonders das Kino sorgt für das Wohlfühlen mit passendem Raumvolumen, günstigen Sichtbedingungen, bequemen Sitzen aus haptisch angenehmen Materialien, angenehmer Beleuchtung und unaufdringlicher Belüftung. Aufgrund des Baurechts müssen bei Kinos die Ausgänge regelmäßig räumlich getrennt von den Eingängen liegen. Dadurch ist das Foyer den Kinobesuchern vorbehalten, die auf den Einlass in den Saal für die nächste Vorstellung warten. Im Gegensatz zum Theater gibt es keine Pausen, das Sich-zur-Schau-stellen fehlt und auch die festliche Stimmung, Kino ist ein Massenphänomen.

Die Sessel im Kino werden immer mehr aufgepeppt, so gibt es VIP-Sessel mit einer Sitztechnologie, die den Lotus Sportwagen abgeschaut wurde, sich der Körperform anpasst und optimal das Becken und die Wirbelsäule stützen soll. Und es gibt Liebessessel (loveseats) für Paare. Die Aussage, viele der Kinobesucher seien "Liebhaber, die einen intimeren Raum benötigen", sollte man nicht zu wörtlich nehmen. Nüchtern betrachtet sind die loveseats "zwei Sitze, zwischen denen die Armlehne fehlt. Hilfreich beim Kuscheln, nervig, wenn man was zu trinken oder zu knabbern dabeihat, das man sich teilen möchte und es dann ständig hin und her reichen muss, statt es einfach zwischen sich abzustellen".

Kino Colosseum im Prenzlauer Berg
Wie wird es nach Corona weitergehen? Wird es ein Kinosterben geben? Ein Kino, das drei Leben gehabt hat, ist in dieser Zeit pleite gegangen, doch die Pläne zur Schließung wurden wohl schon vorher gefasst, weil das Kino heruntergewirtschaftet war. Ausgerechnet die Erben des in Berlin verwurzelten Filmproduzenten Atze Brauner haben das Kino Colosseum im Prenzlauer Berg aufgegeben, keine 800 Meter von dem Haus entfernt, in dem vor 129 Jahren bei den Gebrüdern Skladanowsky die Bilder laufen lernten.

Wagenhalle der Pferdebahn
Das Grundstück Schönhauser Allee Ecke Gleimstraße wurde 1894 für die Große Berliner Pferde-Eisenbahn AG mit einem Pferdebahn-Depot bebaut. Eine Wagenhalle und Ställe für mehr als 360 Pferde sowie eine Schmiede wurden errichtet. Später wurde ein Omnibusdepot daraus. Die Umfassungsmauern der Wagenhalle sind bis heute erhalten, ihr Mauerwerk aus Backsteinen umschließt heute - funktionslos geworden - das Foyer des Kinos. Auch einzelne eiserne Säulen aus den Pferdeställen wurden beziehungslos im Foyer aufgereiht.


mit KLICK vergrößern

(I) Das Colosseum wird eröffnet
1924 begann dann noch in der Stummfilmära die Zeit des Lichtspielhauses. Der Architekt Fritz Wilms war ein Experte des Kinobaus, die Liste seiner Schöpfungen ist lang: Er entwarf 2 Kinos im Filmatelierbezirk Weißensee (Antonplatz und Langhansstraße), in Charlottenburg das Alhambra, Piccadilly und Orpheum, in Moabit das Ufa-Theater Turmstraße, in Wedding und Neukölln je einen Mercedes-Palast, in Friedrichshain den Luna-Palast, in Wilmersdorf 2 Kinos am Kudamm und am Fehbelliner Platz - und das Colosseum in Prenzlauer Berg. Es eröffnete 1924 mit gut 1.100 Plätzen in dem - heute historischen - Kinosaal 1 hinter einer klassizistischen Fassade an der Schönhauser Allee.

1930 übernahm die UFA - Universum Film AG - das Filmtheater, dessen Fassade ein Jahr vorher im Stil der Neuen Sachlichkeit umgestaltet und mit einer Lichtreklame versehen worden war. Der Film veränderte sich: Die Nationalsozialisten unter Führung ihres Propagandaministers Goebbels ("Schirmherr des deutschen Films") hatten die suggestive Macht der Bilder erkannt und nutzten den Film als Instrument der Propaganda. Den Zweiten Weltkrieg überstand der Kinobau ohne Schäden, nachdem er zuletzt als Lazarett gedient hatte.

(II) Premierenkino der DDR in Totalvision
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Colosseum zunächst zur Notbühne eines ausgebombten Theaters, 1957 folgte der Ausbau zu einem DDR-Premierenkino. Der Kinosaal wurde dem Zeitgeist entsprechend neu gestaltet (gab es einen "Stil der 50er Jahre" in West und Ost?). Auch die Fassade und der Schriftzug wurden überarbeitet.


mit KLICK vergrößern

Es war die Zeit der Breitwand-Filme, im Westen wurden Filme in CinemaScope-Technik gezeigt, die von der 20th Century Fox entwickelt worden war. Der Osten setzte Totalvision dagegen, ein Breitwandformat, das dem CinemaScope entsprach, aber natürlich ohne Lizenzzahlungen an Fox auskam. Eröffnet wurde mit einer Operettenverfilmung der DEFA, "Mazurka der Liebe", einer Adaption des "Bettelstudenten".

In der Nachkriegszeit liefen hier DEFA-Filme wie "Nackt unter Wölfen" und "Berlin- Ecke Schönhauser", der die Halbstarken-Szene direkt vor der Tür zum Thema hat. Als die Kinos "International" und "Kosmos" in der Stalinallee mit besserer Projektionstechnik aufwarten konnten, wurde das Colosseum zur Nebenspielstätte.

(III) Das Colosseum wird zum Multiplex
Nach der Wende erwarb der Filmproduzent Atze Brauner 1992 das Colosseum aus dem Treuhandvermögen. 1996 begann unter der Regie der CinemaxX der Umbau zum Multiplex-Kino. Diese Großkinos mit mehreren Sälen hatten sich, aus den USA kommend, hier ausgebreitet. In mehreren Sälen kann parallel ein vielfältigeres Programm gezeigt werden, was den Innenstadt-Kinos einen Teil ihres Publikums wegnimmt. Und Filme können solange gespielt werden, bis ihr kommerzielles Potenzial erschöpft ist. Doch die hinter- und übereinander geschachtelten kleinen Kinoboxen sind selenlos, ihnen fehlt die Inszenierung, die den Besuch in den Filmtheatern zum Erlebnis macht: Es gibt keinen gestalteten Raum, keine Lichtdramaturgie mit langsam gedimmter Beleuchtung, keine Einstimmung mit einem Gong, kein Vorhang öffnet sich. Es ist wie Fernseher einschalten, nur der Bildschirm ist größer.

Dass die Kulturbrauerei in der Nähe ein weiteres Multiplex-Kino ausbaut, sah der neue Betreiber mit Sorge. Neun Jahre später stieg CinemaxX aus, die Multiplex-Kette UCI übernahm den Betrieb. Weitere 15 Jahre danach kam das Ende des Colosseums, die Brauner-Erben als Eigentümer meldeten Insolvenz an. Die Mitarbeiter versuchen mit einer Initiative, das Colosseum zu retten, der Bezirksbürgermeister zeigt seine Sympathie dafür, aber die Stadt wird das Kino wohl nicht kaufen.

Bei dem Umbau zum Multiplex wurde das Kino durch einen neuen gläsernen Eingang an der Gleimstraße erschlossen. Der Eingang zum alten Kino und dem alten Foyer von der Schönhauser blieb erhalten, Eintrittskarten konnte man hier nicht mehr kaufen. Zu den neuen Kinos muss man durch einen in Farben wechselnden Gang neben dem alten Kinosaal hindurchgehen. 2.800 Kinoplätze sind durch den Ausbau hinzugekommen. Die Wagenhalle wurde zum Foyer für neun zusätzliche Kinos, die den Platz der bisher als Garagen, Lager und Werkstätten genutzten ehemaligen Pferdeställe hinter den Backsteinwänden einnahmen. Im Erdgeschoss entstanden vier ähnlich große Kinoräume mit bis zu 150 Plätzen, Decken und Wände schwarz, die Filmleinewand ohne Vorhang als vierte Wand ("black box").

Fünf weitere Kinoräume sind im ersten Stock darüber eingebaut worden, erschlossen durch zwei in der Wagenhalle schwebende Freitreppen. Die Säle 6 bis 9 sind wieder dunkle black boxes, nur der Kinosaal 10 - mit 437 Plätzen der zweitgrößte des Hauses - ist ganz in rot gehalten.


mit KLICK vergrößern

In allen Vorführräumen wartet die Technik darauf, wieder eingeschaltet zu werden. Am Kassentresen steht das Kassenterminal bereit, man glaubt, die Frage "bar oder mit Karte" noch zu hören. Für März 2020 war der Bond-Film "Keine Zeit zu sterben" vorgesehen, doch der Start wurde immer wieder verschoben. Inzwischen hat die Schließung des Colosseums den Filmtitel widerlegt, das Kino ist tot, doch der Werbeaufsteller für den Film steht - wie makaber - immer noch im Foyer.

--------------------------------------------------------------
... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
--------------------------------------------------------------

--------------------------------------------------------------
... und hier sind weitere Bilder ...
--------------------------------------------------------------


Entwerfen, Gestalten und Konstruieren
Der Stadtraum innerhalb der Ringbahn