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Wie kommt der Kaiser aufs Pferd


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Chamisso-Kiez
Stadtplanaufruf: Berlin, Willibald-Alexis-Straße
Datum: 30. Juni 2014
Bericht Nr.: 468

Um zur Parade auf dem Tempelhofer Feld zu gelangen, ließ Kaiser Wilhelm I. seine Kutsche beim Stadtschloss vorfahren, dann ging es nach Süden, Mehringdamm Ecke Kreuzbergstraße stieg er aus. Dort kletterte er auf einen Findling, genannt "Kaiserstein", schwang sich auf sein kaiserliches Pferd und ritt weiter südlich zum Paradeplatz. Sein Nachfolger Kaiser Wilhelm II. dürfte diese Aufstiegshilfe wohl nicht benutzt haben, denn er hatte einen verkrüppelten Arm und kam nur mit einer Leiter aufs Pferd. Der Paraden gab es viele, bei beiden Kaiser Wilhelms: Zum Sedantag, zu Kaisers Geburtstag, Herbstparade des Gardecorps, Parade der Luftschiffer-Abteilung, Dreikaiser-Parade nach dem Sieg über Frankreich (Wilhelm I., Franz Joseph v. Österreich, Zar Alexander II.). Bilder dieser Ereignisse zeigen das nationale Pathos des preußischen Militärs.

Und was geschah auf dem Paradeplatz, wenn keine Paraden stattfanden? Man glaubt es kaum, aber die Freizeitvergnügen der Berliner auf diesem Gelände haben eine längere Geschichte, als man jetzt bei dem Ringen um die Nachnutzung der größten Berliner Freifläche vermuten könnte: Wenn kein Militär auf dem Platz war, kamen damals die Berliner zu Tausenden hierher, bauten ihre Liegestühle auf, machten Picknick, spielten Fußball, Tennis oder Cricket. Ein Bild von Hans Baluschek von 1910 ("Auf dem Tempelhofer Feld") zeigt, wie rummelig es hier zuging. Fußballvereine nutzten das Feld, sie zogen mit Toren und Fahnen dorthin, um sich ein Spielfeld zu markieren. Im Laufe der Zeit kamen als feste Anlagen Tennisplätze, eine Schlittschuhbahn, eine Minigolfanlage, eine Pferderennbahn, eine Radrennbahn hinzu. Der Werner-Seelenbinder-Sportpark am äußersten südöstlichen Ende ist das letzte Überbleibsel eines Sportparks nach dem Bau des Großflughafens in den 1930er Jahren.

Rummelplätze entstanden im Umkreis des Tempelhofer Feldes, Zirkusse richteten sich ein, Gaststätten und Etablissements waren von Vergnügungswilligen belagert. Da wundert es nicht, dass an der Schwiebusser Straße ein Gastwirt 1888 Tribünen zur Frühjahrs-Parade-Besichtigung aufbaute, das Paradefeld hatte man damals von dort aus noch direkt im Blick. Er verkaufte Platzkarten für das Event, den Bauantrag vergaß er wohl darüber. Die Baupolizei handelte unnachgiebig preußisch korrekt, sie ließ die Tribüne vor Beginn der Parade abbrechen und verhinderte auch das Besteigen der Tische durch die Gäste. Ein Jahr später stand die Tribüne wieder, sie war anhand ordnungsgemäßer Bauzeichnungen genehmigt worden. Allerdings musste die Genehmigung zur Parade-Besichtigung jährlich neu beantragt werden, wohl ein kleiner Nadelstich der verärgerten Bürokraten. Ein paar Jahre später musste der Nachfolger eine Kaffeeküche mit zwei Herden wieder beseitigen, auch er hatte ohne baupolizeiliche Genehmigung gebaut. In dem Haus - erst als Gartenlokal, später als ganzjähriges Restaurationsgebäude genutzt - wurde vielfach aus- und umgebaut. Ein überdachter Vorgarten, eine Kegelbahn, eine Buffet-Halle, eine Schießbude, eine Eisbahn, Pferdeställe, Garagen entstanden, obwohl die Nachbarn sich über Lärm und den Gestank von Pferdemist und Benzin beschwerten.

Das Haus steht heute noch, weil die Schwiebusser Straße erst ganz spät gepflastert und an die Kanalisation angeschlossen wurde, ein Neubau an dieser Stelle hätte keine Rendite gebracht. Wie auf anderen Grundstücken der Tempelhofer Berge stand auch hier zu Anfang eine Windmühle, der Mühlenmeister mit Familie wohnte im Haus. Danach zog hier ein Bäckermeister mit seiner Familie ein, seine Backstube betrieb er im Keller. Im Dritten Reich wurden die beiden jüdischen Hauseigentümer verdrängt, nach dem Krieg bekamen ihre Erben das Grundstück zurück und verkauften es an die Stadt. 1989 wurde das 1843 errichtete, baufällige Haus unter Denkmalschutz gestellt und anschließend vollständig restauriert und mit einem Kita-Neubau verbunden. Ein kleines Haus spiegelt die Kulturgeschichte von mehr als hundertfünfzig Jahren, wie schön, dass es erhalten blieb und seine Entwicklung vom Bezirksamt ausführlich dokumentiert wurde.

Das Haus mit der bewegten Geschichte und dem Denkmal-Happyend gehört zum Chamissokiez, dem unser heutiger Stadtspaziergang gilt. Die Stadt Berlin hat sich 1861 die "Tempelhofer Vorstadt" zwischen Landwehrkanal und Tempelhofer Feld - also eigentlich die "Kreuzberger Vorstadt" - einverleibt und den Hobrechtschen Stadtgrundriss (1) entsprechend erweitert. Vorher wurde bis 1740 auf den Bergen südlich der Bergmannstraße Weinbau betrieben (2). Auf dem Kreuzberg (vorher „Runder Weinberg“ oder „Götzes Weinberg“) entstand 1818 Schinkels Denkmal für den Sieg über Napoleon, aus der "Weinmeisterstraße" wurde die Kreuzbergstraße, der "Weinbergsweg" wurde nach der Eigentümerfamilie in Bergmannstraße umbenannt. Die Bergmannschen Erben verkauften nach der Eingemeindung nach Berlin einen Großteil ihres Landbesitzes, Terraingesellschaften und Immobilienentwickler tummelten sich jetzt hier (3). Das Stadtadressbuch von 1878 nennt Kaufleute wie Spielhagen, Stresemann, Kunheim als Eigentümer der im Bau befindlichen Gebäude. Friedrich Spielhagen legte neue Straßen an (Arndt-, Nostitz- und Schenkendorfstraße), die "Belle-Alliance, Berliner Baugesellschaft" vermarktete den Marheinickeplatz und andere Grundstücke im Chamisso-Kiez. Die Häuser wurden vielfach von Maurermeistern und Bauhandwerkern entworfen und errichtet. Die Ausbildung an Baugewerkschulen ermöglichte es den Bauhandwerkern, sich ein umfangsreiches Wissen anzueignen, mit dem sie ähnliche Tätigkeiten wie Architekten ausführen konnten (4). Sogar ein eigener Wasserturm wurde in der Fidicinstraße für die Wohnungen auf dem Berg errichtet und in den 1920er Jahren wurde für die Stromversorgung ein Umspannwerk in der Bergmannstraße gebaut (5). Rund um den gärtnerisch angelegten Chamissoplatz entstand ein gründerzeitliches Wohnquartier mit den typischen historisierenden Fassaden, die die Stile vergangener Epochen wie Barock, Rokoko oder Klassizismus zitierten.

Im Zweiten Weltkrieg gab es kaum Bombenschäden im Chamissokiez, obwohl der Flughafen als potenzielles Bombenziel direkt angrenzte. Dass nach dem Krieg aus dem Kiez wieder ein vorzeigbares Quartier wurde, ist den Hausbesetzungen zu verdanken. Die wilhelminischen Mietskasernen galten den Stadtplanern als Ursache sozialer Konflikte wegen der Überbelegung der Wohnungen, deshalb wollte man die Architektur schleifen und neue Wohnungen bauen. Erst der Paradigmenwechsel zur "behutsamen Stadterneuerung" führte dazu, dass man den vernachlässigten Altbaubestand wieder instand setzte. Heute ist der Chamisso-Kiez das größte zusammenhängende und unter Denkmalschutz stehende Gründerzeit-Gebäude-Ensemble Berlins.

Allerdings hat durch die Umwandlung in Eigentumswohnungen und die oft spekulativ steigenden Preise für Gebäude und Wohnungen ein Verdrängungswettbewerb eingesetzt, mehr als dreißig Jahre nach den Hausbesetzungen müssen die Mieter wieder um ihre Wohnungen fürchten. "Die alten Parolen sind wieder angesagt", titelt die Tageszeitung "taz". An Hauswänden finden wir Losungen wie "Spekulanten raus, das ist unser Haus" oder "Empört Euch!". Das Wohnhaus Willibald-Alexis-Straße 34 steht als Beispiel für diese Entwicklung: Der Bau aus der Entstehungszeit des Chamisso-Kiezes hat den Krieg überlebt, das vernachlässigte Haus wurde 1981 besetzt und danach saniert. Vor wenigen Jahren ist es mehrfach hintereinander mit Profit verkauft und dann in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. "Das denkmalgeschützte Objekt ist wohl einzigartig in Berlin. eine architektonische Perle", schreibt der Projektentwickler, nachdem er dem Haus einen "zeitangemessenen Look und Wohnstandard" verliehen hat. Die Hausgemeinschaft dagegen beklagt illegales Eindringen in eine Wohnung, Abmahnungen, Zwangsräumungen und Verdrängung.

Einen Teil des Bergmannschen Landbesitzes hatte das preußische Militär erworben, auf dem Straßenkarree Jüterboger Straße/Friesenstraße/Columbiadamm/Golzener Straße errichtete es für Regimenter von Soldaten zu Fuß (Grenadiere) und zu Pferde (Kürassiere) die heute noch vorhandene Kaserne. In der Nazizeit wurde ein Teil des Gebäudes am Columbiadamm ("Columbia-Haus") zum Konzentrationslager, ein Mahnmal mit stilisierten Gefängniszellen erinnert daran. Heute wird der Gebäudekomplex von der Polizei genutzt, in der Jüterboger Straße arbeitet die meist überlastete Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle. Für viele Bürger, die ein Auto anmelden wollen, liegen die Nerven blank angesichts der Wartezeiten, auch eine Massenschlägerei unter den Wartenden hat es hier schon gegeben.

Auf unserem Spaziergang begegnen wir im Kiez vielen Kindern mit ihren Eltern (vor allem Müttern), vom Babytragetuch über den Kinderwagen bis zum Kinderfahrrad. Der Chamissokiez ist beliebt bei Familien, obwohl die Wohnungen nur durchschnittlich nur 2 bis 3 Zimmer groß sind. Entscheidend ist das Umfeld, wie eine soziologische Studie der Humboldt-Uni festgestellt hat. Man lebt hier quasi im Herzen Berlins, die soziale Infrastruktur mit Kindergärten und Kultureinrichtungen und Nachbarschaftskontakten ist gut. Ich bin selbst erstaunt, beim Fotografieren der Häuser mehrfach freundlich-bestätigend angesprochen zu werden. Die Gesprächspartner identifizieren sich mit ihrem schönen Umfeld, während bei anderen Spaziergängen misstrauische oder ablehnende Kommentare kommen, wenn wir überhaupt angeredet werden. Der Charakter des Kiezes ändert sich völlig, wenn man die Bergmannstraße betritt. Das ist ein zu schmal geratener Kiezboulevard, wuselig, laut, viel Kommerz - kleinteilig, aber eben kommerziell - Kneipen, Restaurants, Höfe, ein ausladendes medizinisches Zentrum, viele Menschen zu Fuß und auf dem Fahrrad schieben sich hier den Gehweg entlang.

Für unser abschließendes Flaniermahl ziehen wir uns an eine ruhige Ecke zurück, das "Restaurant Z" an der Friesen- Ecke Fidicinstraße bringt griechisches Essen in Bioqualität auf den Tisch, falls gewünscht auch in einer "Mikro-Portion". Wir genießen es und ich mache gern unbezahlte Schleichwerbung für diese Adresse, die mein Mitflaneur schon kannte wie viele Restaurants, die wir besucht haben. In seinem Kopf sind offensichtlich nicht nur die Straßen Berlins planmäßig verdrahtet, sondern auch die gastronomischen Einrichtungen.

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(1) Hobrechts Stadtgrundriss: Hobrecht, James
(2) Weinbau in Berlin: Zu Pferde durch die Havel
(3) Mehr über Terraingesellschaften: Terraingesellschaften
(4) Baugewerkschulen: Doppel-Dorf überwindet zweifelhaften Ruf
(5) Umspannwerke: Umspannwerke/Abspannwerke


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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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