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Radioempfang im Spülbecken


Stadtteil: Neukölln
Bereich: Britz
Stadtplanaufruf: Berlin, Backbergstraße
Datum: 6. Juli 2020
Bericht Nr.:703

Man könne eigentlich niemandem raten, Neukölln "seiner selbst willen" aufzusuchen, schrieb der Flaneur Franz Hessel, er selbst sei "immer nur rasch mit der Tram durch Neukölln gefahren, um wo anders hinzukommen". Dann hat er aber doch mit der Hufeisensiedlung in Britz eine "glückhafte kleine Stadt" entdeckt. Über Britz schreibt der Heimatforscher Kurt Pomplun ("Kutte kennt sich aus"), es gehöre zu den Ortsteilen, die von den Berlinern vernachlässigt werden, weil „dort nischt los ist", nennt dann aber doch das „Britzer Blütenfest" als Event und die Britzer Dorfkirche als eines der sehenswerten Ziele. Das ehemalige Rittergut mit dem Schloss und Gutshof Britz sind in unserer Zeit lohnenswerte Ziele, die man auf der Straße Alt-Britz erreicht.

Aber wo ist das dazugehörige Bauerndorf? Gegenüber dem Schlosspark und nördlich davon umschließen die Straßen Alt-Britz und Backbergstraße auf gut 400 Meter Länge ein Gebiet in Form einer Linse, das die Dorfaue gewesen sein könnte, aber vollständig bebaut ist. Als Baudenkmale erhalten sind in Alt-Britz nur ein Bauernhaus und in der Backbergstraße drei Bauernhäuser. Außer diesen vier Dorfhäusern und der alten Pflasterung der baumbestandenen Dorfstraßen ist hier nichts dörfliches erhalten geblieben. Die Dorfhäuser sind in ihrem Wesen verändert beispielsweise durch Dachgauben oder angebaute Fertiggaragen. Nur ein kleines Gehöft "vermittelt noch einen Eindruck von den agrarisch geprägten Grundstücken des 19. Jahrhunderts", bedauert der Berliner Dörferführer.

Im Jahr 1868 hatte Britz rund 1.000 Einwohner, darunter 10 Bäckermeister mit 14 Gesellen. Für die Bedarfsdeckung am Ort war das etwas viel, wurden die Bäcker durch die Mühlen in der Umgebung angezogen und produzierten für ein weites Einzugsgebiet? Die Backbergstraße bezieht ihren Namen von einem historischen Flurnamen. Hatte der Backberg etwas mit den Britzer Bäckern zu tun?

Drei Kirchen
Die Dorfkirche steht völlig untypisch außerhalb der Dorfaue auf einem Hügel am Dorfteich. Man führt das darauf zurück, dass dort ein slawisches Vorgängerdorf gestanden hat.

In den Dorfbereich sind zwei weitere Kirchen hineingedrängt worden, eine Neuapostolische in der Backbergstraße und die katholische Kirche "Heiliger Schutzengel" in Alt-Britz. Die Schutzengel-Kirche ist 1961 an die "International Christian Church" verkauft worden. Die Nachkriegs-Saalkirche aus Beton mit hohem Glockenturm sprengt jeglichen dörflichen Maßstab. Auch der ausladende Neuapostolische Kirchenbau mit Satteldach nimmt keine Rücksicht auf die dörfliche Umgebung.


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Dorfkirche Britz
Eine weiße Grabplatte an der Dorfkirche ehrt den dort ruhenden Rittergutbesitzer Jouane und seine Gemahlin. So nah waren sich die Kirche in Gestalt des Pfarrers und der Gutsbesitzer zu seinen Lebzeiten nicht. Der Patron hatte ein Auge geworfen auf die wertvollen Steine der Friedhofsmauer, die seine marode Dorfstraße schmücken sollten, doch der Pfarrer hatte sich entrüstet vor das Kircheneigentum gestellt und das Ansinnen abgelehnt. Als der Pfarrer zur Landessynode abwesend war, setzte der Gutsbesitzer doch seinen Willen durch und ließ die Straße mit den Steinen aus der Friedhofsmauer neu pflastern. Doch das ließ den Pfarrer nicht ruhen, er erreichte bei der Obrigkeit, dass zur Sühne für die Freveltat eine neue Mauer aus bestem Material um den Kirchhof gezogen werden musste. Und da steht sie immer noch, eindrucksvoll massiv.

Baumschule Späth
Franz Späth hatte sich erfolglos bemüht, das Rittergut Britz zu kaufen. Trotzdem blieb er dem Ort treu und legte 1864 auf den Wiesen zwischen Britz und Johannisthal eine Baumschule an, die das vom "Kunstgärtner" Christoph Späth 1720 vor dem Halleschen Tor als Gärtnerei gegründete Unternehmen fortsetzte und zur größten Baumschule der Welt wurde. Heute ist nur jenseits der Spree ein Baumschulengelände vorhanden, in Britz blieb nur die Späthstraße als Erinnerung an den "Ökonomierat" und sein Wirken.

Straßenbahnbetriebshof Britz
Unser Stadtspaziergang begann nördlich des Dorfes am Betriebshof der Straßenbahn, der 1910 an der Gradestraße von der Großen Berliner Straßenbahn AG errichtet worden war. 200 Wagen konnten hier abgestellt werden. Genutzt wurde der Betriebshof anfangs von der „Südlichen Berliner Vorortbahn A. G.“, die Britz und umliegende Gemeinden verband und später in der Großen Berliner Straßenbahn aufging. Seit den 1960er Jahren fuhr keine Straßenbahn mehr in West-Berlin, der Betriebshof wurde für die BVG-Busse umgerüstet.

Der Betriebshof ist von einer mehrere hundert Meter langen Wohnanlage umgeben, die der Straßenbahn-Architekt Jean Krämer ab 1928 für die Angestellten der Straßenbahn errichtet hat. Die weiß verputzten langgestreckten Bauten haben dunkle Klinkersockel, die Eingangstüren werden von breiten Klinkerfeldern eingerahmt, die Loggien sind paarweise angeordnet. Die drei- und viergeschossigen Zeilenbauten lassen offene Gartenhöfe frei.


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Sender Britz des RIAS
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Sowjetische Besatzungsmacht den Rundfunk in eigene Regie genommen, auch das im Britischen Sektor belegene Funkhaus in der Masurenallee. Von dort aus sendete der (Ost-)"Berliner Sender", die anderen Siegermächte hatten keinen Zugriff. Daraufhin gründeten die Amerikaner den Sender RIAS ("Rundfunk im amerikanischen Sektor"), der zunächst seine Sendungen als Drahtfunk ("DIAS") über unterirdische Telefonkabel von der Winterfeldtstraße aus verbreitete. 1946 stellte die amerikanische Besatzungsmacht auf ehemaligem Baumschulen-Gelände am Britzer Damm provisorische Sendeanlagen für den RIAS auf, der Sendebetrieb zog in das Funkhaus in der Fritz-Elsass-Straße um.

Auf der Ladefläche eines Militär-LKWs stand in Britz die erste bescheidene Sendestation. Es folgte ein fahrbarer Mittelwellensender der Wehrmacht, genannt "Lilli Marleen". Im Laufe der Jahre wurden die Anlagen immer wieder durch neue Technik ersetzt, bis dann 2013 der Sender Britz abgeschaltet wurde, der nach der Wende für das Deutschlandradio gesendet hatte. 2015 wurden die 160 Meter hohen Sendemasten gesprengt. In "einer der größten Grundstückstransaktionen in Berlin" verkauften die Amerikaner das Gelände, das so groß ist wie der Viktoriapark in Kreuzberg, und setzten den Erlös beim Bau ihrer Botschaft am Pariser Platz ein.

Und dann kommt der typische Nachwende-Horror mit Investoren, die nicht investieren, sondern spekulieren wollen. Immer wieder trifft man in diesen Fällen auf Verträge, die keine durchsetzbaren Sanktionen und keine wirkmächtige Rückfallklauseln vorgesehen haben. Die Spekulanten können Substanz verfallen lassen und zerstören, Verwaltungen fühlen sich unzuständig oder überfordert, tatenlos wird der Ausbeutung zugeschaut. Das Gelände am Britzer Damm war kein Baugebiet, sondern Landwirtschaft, für eine Bebauung fehlt ein Bebauungsplan. Trotz Naturschutz rodete der Investor ein Wäldchen und ließ Gebäude abreißen. Inzwischen ist darüber buchstäblich Gras gewachsen, das aus Überwachungskameras auf dem eingezäunten Gelände beobachtet wird.

In der Zeit des Britzer Senders gab es eine kuriose Situation, die mich an meine Tante erinnert, die aus einer Steckdose schrecklichen Gestank wahrnahm und damit Familie, Hausverwaltung und Ämter nervte, ohne dass jemand ihr in ihrer Verwirrtheit helfen konnte. Beim Sender beschwerte sich eine ältere Berlinerin aus der Nachbarschaft, dass sie Radiosendungen aus ihrer Küchenspüle hörte, ohne ein Radiogerät eingeschaltet zu haben. Es war keine Einbildung, das dünne Blech der Spüle wirkte wie eine Antenne, die Mittelwelle war klar und deutlich zu hören. Erst wenn sie Geschirr in der Spüle abstellte, verstummte der Sender. Mit einer neuen Küchenspüle und einem Radio als Draufgabe konnte die Sendeanstalt ihr helfen.

Völkerwanderung in Britz
Vor vier Jahren waren wir in Neukölln auf Spuren der Völkerwanderung gestoßen: Am Körnerpark war beim Straßenbau ein Reitergrab entdeckt worden. Dort war im 6.Jahrhundert in 2,50 Meter Tiefe ein Reiter mit seinem Pferd beerdigt worden. Einen weiteren Fund gab es am Buschkrug in der Nähe des Dorfes Britz. An der Blaschko- Ecke Buschkrugallee fand man 1951 zwei weitere Gräber eines 30-jährigen Mannes und einer 16-jährige Frau aus dem 6.Jahrhundert. Die Frau ging als "Britzer Prinzessin" in die Geschichte ein. Als Gabe für den Fährmann, der die Toten ins Jenseits rudert, soll sie eine Goldmünze zwischen den Lippen gehabt haben. Zu ihren Grabbeigaben gehörten ein Kamm aus Hirschhorn und ein Goldgeschmeide.

Im Jahr 2018 stellte sich heraus, das feingliedrige vermeintliche Mädchenskelett gehörte einem Jungen. Den kleinen Unterschied hatte man nicht auf Anhieb feststellen können, erst ein Y-Chromosom bei der DNA-Analyse ergab, dass die Prinzessin ein Prinz war. Zu diesem Zeitpunkt war eine feministische Abhandlung über "Wegweisende Neuköllnerinnen: Von der Britzer Prinzessin zur ersten Stadträtin" bereits erschienen. So wurde ein Mann zum gedanklichen Ausgangspunkt der Neuköllner Frauenbewegung.

Alter Britzer Friedhof Koppelweg
Der Alte Britzer Friedhof liegt am Britzer Damm dem Schlosspark gegenüber und erstreckt sich bis zum Koppelweg. Schon im Eingangsbereich stehen Kolumbarien in Säulenform, eine befremdliche Bestattungsform. Eine Mauer mit Erbbegräbnissen steht verwaist, davor eine große Freifläche. Das Gräberfeld nördlich der Mauer wird noch genutzt.



Hier lesen wir auf einem Grabstein:
___Ich dacht noch weit zu sein / von meiner Grabestür
___doch da zerbrach mein Wanderstab / und nun ruh ich schon hier

Direkt angrenzend an den Friedhof liegt das Gelände des Senders Britz, es erstreckt sich nach Norden bis zur Umladestation der Stadtreinigung an der Gradestraße.

Beim Verlassen des Friedhofs die böse Überraschung: Der Friedhofsausgang am Britzer Damm ist mehr als eine Stunde vor der angeschriebenen Schließungszeit abgeschlossen, wir sind gefangen. Der Anrufbeantworter der Friedhofsverwaltung weiß auch keine Lösung. Also suchen wir nach einem Schlupfloch, das vor uns Besucher in ähnlicher Situation geschaffen haben könnten. An einem Pfeiler ist der Zaun etwas beiseite gebogen, hier können wir uns durchschlängeln.

Zum Schluss suchen wir doch Neukölln "seiner selbst willen" auf und nehmen in der Karl-Marx-Straße im Saalbau Neukölln unser Flaniermahl ein. Der historische Saal mit stilvollem Ambiente ist nur schwach besucht. Bis hier nach Corona wieder fröhliches Stimmengewirr herrscht, wird es wohl noch etwas dauern.
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Unsere Route:
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Gottesfürchtiges Neukölln
Mit Wasser und Dampf gegen Krankheitserreger