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Zuviel Fläche und zu wenig Räume


Stadtteil: Wedding
Bereich: Gesundbrunnen
Stadtplanaufruf: Berlin, Böttgerstraße
Datum: 25. November 2020
Bericht Nr.:719

Dieser Kiez hat es in sich, auch wenn man es auf den ersten Blick nicht sieht: 3 Umspannwerke, 3 unterirdische Schutzräume, darunter 2 Atombunker, 3 Schulstandorte, 1 neuer Typus von Terrassenhaus, und das alles in einem Gebiet von nicht viel mehr als einen Kilometer im Quadrat. Dabei haben wir heute den namensprägenden Teil von Gesundbrunnen mit seiner Geschichte als Kurort ausgelassen, der schon mehrfach unser Ziel war.

In den 1920er Jahren wurde für die Stromversorgung in Berlin eine Vielzahl von Umformwerken gebaut, die den von den Kraftwerken im Hochspannungsnetz bezogene Strom für die Haushalte, Betriebe und Behörden sowie für die S-Bahn und U-Bahn transformierten. Es war die Zeit von "Elektropolis", Berlin war das europäische Zentrum der Elektroindustrie. Nach der Bildung von Groß-Berlin mussten unterschiedliche Systeme der Stromerzeugung und Stromverteilung mehrerer lokaler Versorger in ein neu zu schaffendes einheitliches Netz eingebunden werden.

Stromverteilung im Stadtraum
Für die Stromverteilung im Stadtraum errichtete der Hausarchitekt der Bewag, Hans Heinrich Müller, 40 Neubauten, darunter 11 Abspannwerke, die den in Hochspannung mit 30 Kilovolt ankommenden Strom auf Mittelspannung von 6 Kilovolt umformten und an lokale Übergabestationen weitergaben. Der für die S-Bahn erforderliche Gleichstrom wurde in den Gleichrichterwerken ihres Hausarchitekten Richard Brademann erzeugt, 50 Stromversorgungsbauten hat er entlang der Gleise im Stadtgebiet errichtet. Für die U-Bahn hat Alfred Grenander von den Bahnhofsbauten über die U-Bahnwagen bis zum Kassenhäuschen eine Corporate Identity entwickelt, ein einheitliches Erscheinungsbild für die 70 Betriebsgebäude und Stationen. Dazu gehören 5 Umformwerke entlang der U-Bahnstrecken.

S-Bahn Schaltwerk und Gleichrichterwerk
Die architektonischen Lösungen der drei Architekten haben kaum Ähnlichkeiten, jeder hat für den neuen Bautypus eine ganz eigene Lösung gefunden. Müller hat die Bewag-Bauten von der äußeren Erscheinungsform her entwickelt und dabei einen unglaublichen Ideen- und Gestaltungsreichtum bewiesen. Richard Brademann entwickelte die S-Bahn-Bauten von ihrem inneren Aufbau her, der nach außen vermittelt wird. Hierfür hat er für jede Aufgabe einen Prototyp entworfen, der in Serie an den S-Bahnstrecken gebaut wurde. "Wieder ein Brademann", weiß der Eingeweihte, wenn er ihrer ansichtig wird. Am Bahnhof Gesundbrunnen kreuzt die Nord-Süd-Bahn die Ringbahn, dort stehen von Brademann ein Schaltwerk an der Böttgerstraße und ein ihm technisch nachgeordnetes Klein-Gleichrichterwerk im Einschnitt der Bahngleise am Humboldthain. Das Schaltwerk thront auf einer Anhöhe, die nachträglich mit viel Beton abgefangen wurde.

Angrenzend an das Schaltwerk ist nach der Wende die "Abnehmeranlage Nord" gebaut worden, mit der der Strom aus der städtischen Versorgungsleitung in das Versorgungsnetz der S-Bahn eingespeist wird, quasi eine Fortsetzung der Brademannschen Aufgabenstellung. Insgesamt sind in diesem Zusammenhang 181 Ingenieurbauwerke entstanden, um die zu DDR-Zeiten teilweise stillgelegte S-Bahn wieder als vollständiges Netz betriebsfähig zu machen.

U-Bahn Gleichrichterwerk
Zwischen einer Reihe von Wohngebäuden in der Bastianstraße - kaum 200 Meter vom U-Bahnhof Pankstraße entfernt - hat Alfred Grenander ein Gleichrichterwerk für die U-Bahn erbaut, das sich mit seiner ungewöhnlich gegliederten sachlichen Straßenfassade von den historisierenden Fassaden der Nachbarhäuser abhebt. Die Straßenfront aus dunklen Klinkern bildet den Rahmen für ein hervortretendes helles Mittelfeld mit großflächigen Sprossenfenstern, jeweils in drei Achsen nebeneinander. Jedes dieser Sprossenfenster ist in fünfzehn quadratischen Glasflächen unterteilt, die in drei Reihen untereinander angeordnet sind.


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Dahinter müssen mächtige Räume liegen, und tatsächlich hat die Raumhöhe von 4,60 Metern bei einer Nachnutzung zu Wohnungen verhindert, dass zwei Vollgeschosse hierin Platz fanden. So wurde eine offene Wohnlandschaft gestaltet mit einem Drittel der Wohnfläche in voller Raumhöhe und Galerien über normalhohen Räumen, zum Beispiel Schlafgalerien mit weniger als zwei Meter Höhe. Für die Bewohner wird so der Großraum zum "Schauplatz" der Familie. Die Mieter mussten einen Wohnberechtigungsschein haben, der Umbau erfolgte im Sozialen Wohnungsbau. Wohngeld gab es nicht, hierfür hatte die Wohnung "zuviel Fläche und zu wenig Räume".

Inzwischen ist der Bau in Eigentumswohnungen aufgeteilt worden. Im Internet wird eine Wohnung mit 121 qm für 800.000 € angeboten. Der missverständlichen Aufzählung von zwei Zimmern und drei Schlafzimmern wird der Hinweis hinzugefügt, "die Zimmer auf der oberen Etage sind - ähnlich einer Galerieebene - jeweils zum darunterliegenden Zimmer geöffnet. Abgeschlossenheitsmaßnahmen sind nach individueller Vorstellung zu unternehmen".

Grenander hat vier weitere Umformwerke für die U-Bahn errichtet nahe den Bahnhöfen Alexanderplatz, Hermannplatz, Krumme Lanke und der U 5 in Lichtenberg. Für jede hat er eine individuelle, dem Bauplatz angemessene architektonische Lösung gefunden, kein Umformwerk gleicht dem anderen. Nahe dem Alexanderplatz umschließt ein siebengeschossiges, sachlich-modernes Büro- und Geschäftshaus das im Hof liegende Umformwerk. Die Stahlskelettkonstruktion des Hauses ist mit Klinkern verkleidet, im Sockel befinden sich zwei Ladenetagen. Am U-Bahnhof Krumme Lanke steht der Baukubus des Gleichrichterwerks zurückgesetzt zwischen den Gleisen. Gespeist wird das Umformwerk von dem Abspannwerk der Bewag in der Steglitzer Birkbuschstraße.

Gemeindeschulen
In der Pankstraße 47 wird die ehemalige Gemeindeschule heute als Heimatmuseum genutzt. Das Backsteingebäude ist einer der ältesten noch erhaltenen Schulbauten Berlins. Der zur Straße vorspringende Kopfbau teilt das Grundstück in einen Hof für Knaben und einen Hof für Mädchen. Das spätklassizistische Schulgebäude von 1866 hat gelbe Backsteinfassaden mit roten Ziegellagen. Es wird durch Gesimse über dem Erdgeschoss und Friese und Brüstungsfelder gegliedert.

Hinter den Mietshäusern von Prinzenallee und Badstraße hat der Berliner Stadtbaurat Hermann Blankenstein in den 1890er Jahren einen Schulkomplex für die 140. und 194. Gemeindeschule und die 9. Realschule errichtet. Pädagogisch sinnvoll sind die Schulen mit Bibelsprüchen geschmückt, auch das Trachten nach Frieden war damals schon ein Thema: "LASSET UNS / DEM NACHSTREBEN DAS / DEM FRIEDEN DIENET" wird aus dem Brief des Paulus an die Römer zitiert.

Als die Grundstückspreise explodierten, die Schulen aber auf zentrale Lagen angewiesen waren, hat die Stadt gern auf preiswertere Blockinnenflächen zurückgegriffen. Meist steht nur das Lehrerwohnhaus mit schmaler Front an der Straße. Hier waren es sogar zwei Lehrerwohnhäuser an der Prinzenallee 8 und an der Badstraße 22, die den getrennten Zugang zu den verschiedenen Schulen ermöglichten. Von der Stettiner Straße 54 führt heute ein kleiner Park bis an das Schulgelände heran. Bis in die 1970er Jahre stand dort ein (wahrscheinlich kriegsbeschädigtes?) Wohnhaus.

Diesterweg-Gymnasium
Ein morbider, verlassener Bau des Diesterweg-Gymnasiums zwischen Puttbusser und Swinemünder Straße hatte uns bei einem früheren Stadtrundgang aufgeschreckt, ein orangefarbenes Ufo mit grünen Säulen, abgerundeten Ecken und rahmenlosen Fenstern. Fluchtartig war es 2011 wegen Asbestbelastung verlassen worden. Jetzt hat man spät, aber vielleicht nicht zu spät entdeckt, dass man den ungewöhnlichen Schulbau wieder aktivieren kann und es erstmal unter Denkmalschutz gestellt.


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Das Diesterweg-Gymnasium zog 2011 in die Böttgerstraße um. Es ist eine Brennpunktschule, kaum noch ein Schüler kennt Deutsch als Muttersprache. 96 Prozent der Schüler sind muslimisch, 93 Prozent haben eine Zuwanderungsgeschichte, 75 Prozent der Familien beziehen Sozialleistungen. Doch die Schule versucht, ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Sie ist das erste Ganztagsgymnasium im Bezirk, bietet Projekte in den Bereichen Kunst, Sprachen und Sport an und ermöglicht jetzt sogar den Schulwechsel zur fünften Klasse mit Französisch als erster Fremdsprache.

Kirche St. Paul
Wo Pankstraße und Badstraße sich kreuzen, steht die 1835 errichtete Kirche St. Paul. Sie gehört zu den vier evangelischen Vorstadtkirchen, die der preußische König Friedrich Wilhelm III. bei Schinkel in Auftrag gegeben hatte, damit Gotteshäuser nahe bei den Menschen errichtet werden. Um die Baukosten niedrig zu halten ("Bauen Sie billig, Schinkel!"), hatte die Kirche ursprünglich keinen Turm.

Die das Straßenkarree begrenzende Buttmannstraße erinnert an einen Prediger der Vorstadtkirche, der zugleich Pädagoge, Sprachforscher und Bibliothekar war, ein universeller Geist in der Zeit der Aufklärung. Er hatte die "Gesetzlose Gesellschaft zu Berlin" mit gegründet. Anders als man vermuten könnte handelte es sich um nichts Kriminelles, sondern einen Gesellschaftsclub prominenter Intellektueller, der während seiner Gesprächsrunden ausgiebig und exklusiv tafelte. Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Carl von Savigny gehörter zu diesem Zirkel. Ein Ur-Ur-Enkel Buttmanns ist heute Mitglied dieses Vereins, der als "Träger der Tradition, der Kultur und der Wissenschaft" in den Jahren seines Bestehens "an allen Leiden und Freuden ihrer Stadt teilgenommen hat".

Zivilschutzräume
Wie schützt uns der Staat vor Kriegseinwirkungen, insbesondere im Atomkrieg und bei anderen Katastrophen? Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist aus dem Luftschutz - den Maßnahmen zum Schutz gegen Luftangriffe - der Zivilschutz geworden, der auch bei Katastrophen wirksam wird. Schutzräume sind im Zeitablauf je nach dem Bedrohungsempfinden zeitweise in den Focus gekommen, aktuell sind asymmetrischen "Kriege" durch Terroranschläge das vorherrschende Thema, gegen die kein Schutzraum hilft. Auch für die Corona-Katastrophe können sie nichts ausrichten.

Im U-Bahnhof Gesundbrunnen befindet sich ein Tiefbunker in Nebenräumen, die Ende der 1920er Jahre als Aufenthaltsräume und Werkstätten gebaut und während des Zweiten Weltkriegs für den Luftschutz umgerüstet wurden. Der U-Bahnhof liegt 13,5 Meter unter Straßenniveau und ist damit der tiefste von Berlin. Er unterfährt die S-Bahn, die hier selbst in einem Einschnitt liegt.

Knapp 300 Meter von dem Tiefbunker im U-Bahnhof Gesundbrunnen entfernt liegt unter dem Blochplatz ein weiterer Luftschutzbunker, der im Kalten Krieg nach Ende des Zweiten Weltkrieges zum Atomschutzbunker umgebaut worden ist. Hier hätten 1.300 Menschen Zuflucht finden können, nach zwei Tagen hätten sie aber wieder an die Oberfläche kommen müssen in die dann verstrahlte Umgebung. Eigentlich hatte der Bunker in der Nachkriegszeit gesprengt werden sollen, aber dann hätte man die U-Bahn gleich mit in die Luft gejagt.

Auch im U-Bahnhof Pankstraße gibt es einen - "modernen" - Atomschutzbunker, der 1977 bei der Verlängerung der U-Bahnlinie gebaut wurde. Schließt man die Stahlbetontore, dann können 3.300 Menschen dort auf engen Vierstockbetten Schutz für mehrere Wochen finden. Diese viertgrößte Zivilschutzanlage Berlins wird betriebsfähig vorgehalten. Sie hat ein eigenes unterirdisches Wasserwerk und ein Notstromaggregat für die unabhängige Stromversorgung.

Straßenbrunnen
Vor einem Monat haben wir nahe der Chausseestraße einen Rohrbrunnen aus den 1870er Jahren entdeckt, der zur Trinkwasserversorgung der Bevölkerung und zur Löschwasserentnahme für die Feuerwehr angelegt worden war und das Wasser durch Tiefenbohrungen direkt nach oben beförderte. Er löste die Wasserversorgung ab, bei der das Brunnenwasser in gemauerten Kesseln gesammelt wurde. Einen Brunnen dieses Bautyps hatte man hier im Bezirk an der Osloer Straße 118 entdeckt, dann aber 1995 mit Sand verfüllt. Das Wasser war hier früher in einem kreisrunden, mit Backstein ausgemauerten Brunnenschacht gespeichert worden und konnte von dort nach oben gepumpt werden. Inzwischen ist der Brunnen (leider !) mit einer Betonplatte verschlossen.

Terrassenhaus
Oberhalb des S-Bahn Schaltwerks an der Böttgerstraße ist vor zwei Jahren das vom Architekten Arno Brandlhuber entworfene Terrassenhaus auf einem ehemals der Bahn gehörenden Gewerbegrundstück gebaut worden. Brandlhuber hat einiges buchstäblich und im übertragenen Sinne „auf den Kopf gestellt“: Die fünf Etagen bilden an der Straßenseite keine Stufe für Stufe zurückweichende Form wie eine Treppe, sondern überragen Etage für Etage den Raum zur Straße hin, so dass der Vorplatz maximal überbaut wird. Es gibt kein innenliegendes Treppenhaus, sondern zwei Außentreppen auf der Rückseite des Gebäudes, auf der die Terrassen stufenförmig angeordnet sind. Die Terrassen sind sechs Meter tief und erfüllen damit zwei Bauvorschriften: fünf Meter für den Brandschutz und einen Meter als Fluchtweg.

Der Bau entzieht sich jeder Ästhetik, er ist einfach nur Raum in Reinform, "veredelter Rohbau", der bis an die Grenze der baurechtlich zulässigen Fläche mit den geringsten Mitteln erstellt worden ist. Die Straßenfassade wird durch raumhohe Glasflächen unterbrochen, auf der Rückseite bilden silbergraue Vorhänge aus Geotextil einen Sicht- und Sonnenschutz vor den raumhohen Schiebetüren.


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Im Kern des Gebäudes gibt es einen Aufzug und die Nasszellen, die Raumeinheiten sind mit Leichtbauwänden voneinander abgegrenzt und ansonsten nicht unterteilt. Da es sich um einen Gewerbebau handelt, ist die Wohnnutzung baurechtlich untersagt. Dagegen verstößt der Bau schon von seiner Konzeption, die eine Mischnutzung aus Arbeiten und Wohnen nahelegt. Die „Bauwelt“ merkt hierzu an: "Inwiefern hier neben der Arbeit auch geschlafen, gekocht, geliebt und gelebt wird, bleibt natürlich eine individuelle Entscheidung der Mieter". Wieweit das bei Leichtbauwänden möglich ist, müssen die Mieter untereinander aushandeln.
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