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Die Geschlechtertürme von Lichtenberg


Stadtteil: Lichtenberg
Bereich: Industrieviertel Herzbergstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Am Wasserwerk
Datum: 29. Juni 2024
Bericht Nr.:840


Der Architekturtag 2014 war bereits ein Thema bei unserem Stadtrundgang zum Bauprojekt "Telegraph" in Mitte. Hier folgt die Fortsetzung mit Gedanken zu den "Geschlechtertürmen San Gimignano" in Lichtenberg.

Der Architekturtag will die Augen öffnen für ein wichtiges Gegenwartsthema und zeigen, welche Lösungen Architekten dafür anbieten können. In unserer heutigen Zeit, in der wir mit den begrenzten Ressourcen und den Klimafolgen umgehen müssen, um unserer Welt nicht noch weiter zu schaden ("Vor uns die Sintflut"), sind Architekten aufgefordert, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Ideen zu entwickeln oder vorhandene zur Reife zu bringen. Sonst ist die Zukunft bereits vergangen, bevor sie begonnen hat.

Einfach umbauen
„Einfach umbauen“ lautet ein Motto zum diesjährigen Architekturtag. Nutzen, was bereits da ist, umbauen statt abreißen, denn auch das schon Vorhandene ist ein Rohstoff. Tatsächlich scheinen die staatlichen Förderprogramme in die entgegengesetzte Richtung zu gehen: Mit dem Programm "Wachstum und nachhaltige Erneuerung" wird der Abriss gefördert von "leerstehenden, dauerhaft nicht mehr benötigten Wohngebäuden insbesondere in strukturschwachen Regionen".

Und das wird auch umgesetzt, zum Beispiel wurde in der Altstadt von Dahme/Mark ein leerstehendes Wohngebäude abgerissen, um eine der typischen gesichtslose Einkaufshallen von Lidl ("Faltschachteln des Billigkonsums") hinzusetzen. Andererseits gibt es Beispiele wie Ahrensfelde, wo 11-stöckige anonyme Plattenbauten zurückgebaut wurden zu Terrassenhäusern mit neuen Grundrissen, abwechslungsreichen Hausfassaden und einladenden Hauseingängen.

In Lichtenberg wird der Abriss stehen gebliebener Industriearchitektur als Frage vorgeführt: Was macht man mit zwei 50 Meter hohen Türmen, die nur stehen geblieben sind, weil der Abriss zu teuer war? Das aufgelassene Fabrikgelände der "Elektrokohle Lichtenberg" wird heute von dem vietnamesischen Großmarkt "Dong-Xuan-Center" genutzt, dessen niedrige Hallen die Fläche von fast 4 Fußballfeldern umfassen. In 170 Shops werden Textilien, Schuhe, Lebensmittel, Geschenke verkauft, hier arbeiten Schneider, Friseure und Nagelstudios, und natürlich gibt es auch Gastronomie.


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Die Türme ähneln vom Aussehen so sehr den gleichhohen Geschlechtertürmen von San Gimignano, dass die Bezeichnung "San Gimignano Lichtenberg" sich geradezu aufdrängte. In dem italienischen Ort hatten Patrizierfamilien (Patriziergeschlechter) ihre Wohnhäuser immer mehr in die Höhe gebaut, bis sie bei 50 Meter hohen Türmen ankamen. Macht und Ansehen stiegen mit der schieren Höhe der Bauwerke. Die Türme dienten auch zur Verteidigung gegen Angreifer aus der Stadt und von außen.

Der ehemalige volkseigene Betrieb "VEB Elektrokohle Lichtenberg" wurde nach der Wende privatisiert. In eine Ruine wollte niemand investieren. Deshalb wurde die Elektrokohle-Fabrik im Jahr 2010 zerlegt und verkauft, nur die beiden Betontürme blieben stehen. Eine Umnutzung machte wirtschaftlich keinen Sinn., andererseits störten sie auch nicht zwischen den Verkaufshallen.


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Vor einer neuen Verwendung geht es jetzt erstmal um eine neue Wahrnehmung über das, was geschehen ist und was in der Zukunft geschehen kann. Die Architekten schreiben dazu: "Die beiden Türme sind nicht nur Bauruinen, sondern auch Überbleibsel einer vergangenen Vorstellung von der Zukunft als Bestandteile einer Fabrik. Von Ideologie und Stärke, von Technologie und Wirtschaft. Durch den Fall der Berliner Mauer gerieten sie nicht nur außer Gebrauch, sondern auch aus ihrer Zeit und Erzählung".

Die Idee des Ortes weiterentwickeln, wie geht das? Es ist die Rede von adaptieren, also anpassen, von transformieren. Eine "sozial-ökologischen Transformation" wird genannt, die ein Beirat der Bundesregierung als Weg zur "Dekarbonisierung" sieht, indem man fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energiequellen ersetzt. Eine grundlegende Veränderung der Wirtschaftsweise, indem wir die vorhandenen Ressourcen schonen - eine Ruine als Rohstoff begreifen. Und unabhängig vom Design die architektonische Idee als Teil der Kultur verstehen.

Häuser sind kein Investitionsgut, mit dem man spekulieren kann. Die Architekten um Arno Brandlhuber nennen es das "Demolition Drama": Es zeigt, "wie die Immobilienbranche unseren Gemeinden schadet. Es wird diskutiert, wie funktionierende Gebäude für den Neubau abgerissen werden. Hierbei handelt es sich um eine Praxis, die den Profit über den Menschen stellt und Renovierung und Transformation als sozial, nachhaltig und wirtschaftlich vorteilhafte Alternativen außer Acht lässt."

199 Schritte bis auf das Dach des Turms. Von hier oben sieht alles ganz anders aus. Schauen wir mit diesem Blick - und der durch Brandlhuber gewonnenen Erkenntnis - anders auf die Stadt.
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Eintrittskarte und ein Stück Seife
Dreiecke im Stadtgrundriss - trocken u. unwirtlich