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Die Stunde ruft mit eingefrorenen Zeigern


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Luisenstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Wassertorplatz
Datum: 7. November 2016
Bericht Nr: 568

„Die Stunde ruft, nutze die Zeit“ wird der Besucher des Elisabethhofs am Erkelenzdamm im ersten Hof gemahnt. Zur Bekräftigung ist inmitten dieses Wortbandes eine Uhr eingearbeitet - doch die Zeiger stehen! Schon der römische Dichter Horaz hatte gemahnt, den Tag zu nutzen ("Carpe diem"). Wenn man die knappe Lebenszeit genießen will, sollte man sich nicht vom Minutenzeiger antreiben lassen. So kommentiert die Uhr mit eingefrorener Zeigerstellung vielleicht hintergründig das Entschleunigen, das die Muße erst möglich macht.

Elisabethhof
Der Elisabethhof wurde am Elisabethufer gebaut, das nach der Frau des Königs Friedrich Wilhelm IV. benannt war, einer bayerischen Prinzessin. In der Nazizeit bekam das Ufer den Namen eines toten Hitlerjungen. Nach dem Krieg wurde der historische Name nicht wieder hergestellt. Seitdem ehrt man den liberalen Gewerkschafter Erkelenz, der Hitlers Regime kritisch gegenüberstand .

Ein Lehrer und ein "Rentier" haben den Elisabethhof in Auftrag gegeben. Anders als ein Rentner in der heutigen Zeit lebte ein Rentier von den Zinsen seiner Wertpapiere oder von den Mieten aus seinem Grundvermögen. Immerhin erstaunlich, welches große Kapital diese beiden Initiatoren zum Bau aufgebracht haben. Geplant und realisiert wurde der Bau durch Kurt Berndt, der mit seiner Baugesellschaft mehrere Gewerbehöfe in Berlin geschaffen hat, beispielsweise die heute als touristisches Ziel boomenden Hackeschen Höfe und die Kurt-Berndt-Höfe in der Neuen Schönhauser Straße.

Der Elisabethhof ist einer der größten Industriehöfe Kreuzbergs. Hinter dem Vorderhaus und dem ersten Wohnhof liegen drei Fabrikhöfe mit ungewöhnlich großen Fenstern. Ein im Krieg zerstörter Seitenflügel blieb bis heute als mahnende Lücke erhalten. Das Startup-Unternehmen, das die hier Arbeitenden von einem dreirädrigen Rollermobil aus einmal wöchentlich mit belegten Broten versorgt, - handgeschmiert versteht sich -, wird unter dem Titel "Die Rückkehr der guten alten Stulle" von einer Zeitung gefeiert.


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Der Luisenstädtische Kanal
Eine Verbindung zwischen Spree und Landwehrkanal herzustellen, war die Idee des kunstsinnigen Königs Friedrich Wilhelm IV., als er noch Kronprinz war. Als Architekt auf dem Thron war er ein Profi, arbeitete mit bedeutenden Baumeistern zusammen. Seine Haltung zur Märzrevolution 1848 dagegen war widersprüchlich, verunsichernd, durch Taktieren bestimmt. Der Kanal sollte zugleich Verkehrsprojekt und Sichtachse sein. Das Baumaterial für die Luisenstadt konnte über den Luisenstädtischen Kanal auf dem Wasserweg transportiert werden und die anliegenden Industriebetriebe sollten für Material und Waren das Schiff nutzen. Schwimmende Märkte hätten es werden können wie die Floating Markets im Mekong-Delta, von denen Bauern Obst und Gemüse verkaufen, doch sehr viel mehr als Spreewaldgurken wurde hier nicht angeboten.

Der Gartenbaudirektor Peter Joseph Lenné hatte falsch geplant, dem anderthalb Meter tiefen Gewässer fehlte ausreichende Strömung, weil das Gefälle zu gering war, und so wurde der 1852 eröffnete Kanal nach 72 Jahren wieder zugeschüttet. Als Gartenbaudirektor war Lenné wohl mehr auf das Thema "Schmuck- und Grenzzüge von Berlin" konzentriert, zu dem das Kanalprojekt gehörte.

Das Zuschütten und Wiederaufbuddeln von Kanälen ist kein Einzelfall. In Potsdam wurde der 1965 zugeschüttete Stadtkanal wieder aufgebuddelt, um "die alte Schönheit der Stadt zumindest in wesentlichen Teilen wieder erstehen zu lassen". Damit wird der Zustand wieder hergestellt, den der Große Kurfürst 280 Jahre vorher mit dem Ausbau eines natürlichen Havelarms geschaffen hatte. Zwei bedeutende Kanäle wurden durch Neubauten mit höherer Kapazität ersetzt: Als Ersatz für den Ludwigskanal wurde der Main-Donau-Kanal gebaut, beide haben eine europäische Wasserscheide überwunden, von der aus das Wasser in entgegengesetzte Richtungen fließt. Und der Friedrich-Wilhelm-Kanal zwischen Spree und Oder wurde durch einen Neubau überflüssig.

Auch Kanäle mit lokaler Bedeutung wurden zugeschüttet: In Hamburg verfüllte man den Lübecker Kanal mit Trümmern kriegszerstörter Gebäude, und Wittenberge musste einen überflüssig gewordenen Kanal aufgeben, der einer Ölmühle gedient hatte. Das sind nur einige Beispiele vom Werden und Vergehen künstlicher Wasserstraßen. Berliner beeindruckt das nicht, sie sind ja in der Stadtlandschaft mit (Ver-)Wandlungen vertraut wie "abgerissen, aufgegraben, zugeschüttet, umgesetzt".

Sittenloses Unwesen auf Parkbänken
Wenn Parkbänke mit Rückenlehnen versehen sind, dann sind sie "meist von liederlichem Gesindel aller Art - Trunkenbolde, Prostituierte, Zuhälter, Obdachlose, Vagabunden - besetzt, die nachts ihr sittenloses Umwesen treiben", schrieb ein Polizeileutnant 1885 in einer Eingabe. Lässt man die Lehne weg, würden sie sich auf der Bank oder sogar im Buschwerk niederlegen, das wäre ein Missbrauch, und dann hätte die Polizei genügend Handhabe, sie zu vertreiben, zur Wache mitzunehmen oder einzusperren. Der Polizist sorgte sich um die Plätze am Luisenstädtischen Kanal, aber er war wohl etwas verkniffen. Frauen und Dienstmädchen haben dort in der Sonne gesessen, und ein schlafender Obdachloser störte niemanden.

Die Idee, Parkbänken die Rückenlehne zu nehmen, um Obdachlose zu vertreiben, gab es also schon vor 130 Jahren. Auch heute noch sind solche Anti-Obdachlosen-Maßnahmen ein Thema. Wie unterschiedliche Städte damit umgehen, darüber habe ich in meinem Bericht Parkbänke mit und ohne Rückenlehnen geschrieben.

Luisenstadt
Die Köpenicker Vorstadt vor den Toren Berlins wurde 1841 als Luisenstadt nach Berlin eingemeindet und als Stadterweiterung bebaut. Nachdem der Luisenstädtische Kanal angelegt war, bildete er die Grenze zwischen den Stadtteilen "diesseits des Kanals" und "jenseits des Kanals". Seit der Gründung Groß-Berlins 1920 verliefen die Bezirksgrenzen am Kanal ziemlich abstrus. Oberhalb des Oranienplatzes und Moritzplatzes begann Berlin-Mitte mit dem oberen Teil des Kanals einschließlich Engelbecken. Der größte untere Teil des Kanals gehörte zu Kreuzberg. So verlief die Mauer quer durch die Luisenstadt und den Kanal. Am Bethaniendamm entstand ein kleines Fast-Niemandsland, in dem Osman Kalin einen Garten anlegte, der zu einer Touristenattraktion wurde. Bei der Bezirksreform 2001 wurde die Chance vertan, die Luisenstadt in einem Bezirk zusammenzufassen. Dann hätte man Kreuzberg dem Bezirk Mitte zuschlagen müssen, der aufmüpfige Stadtteil wäre mit dem Regierungsviertel vereint worden. Stattdessen hat man lieber Wedding zu Mitte gezogen und Kreuzberg mit Friedrichshain verbunden.

Den Nachbarschaftspark Wassertorstraße 65 Ecke Gitschiner Straße könnte man glatt übersehen, dabei sind hier kleine Baumeister und große Bildhauer am Werk gewesen. Drei- bis achtjährige Kinder konnten Tischler, Rohrleger und Maurer sein, als die Gewobag 2011 den "Tag der kleinen Baumeister" veranstaltete. Schon vorher im Sommer 2004 unterstützte die Wohnungsbaugesellschaft die Einweihung des Parks als "Kunstraum Wassertor". Die Stadtmarketing-Agentur Stadtplus zeigte "Kunst im öffentlichen Raum zur Aufwertung der Stadt-Wahrnehmung". Dazu gehörte die Skulptur "Stehfisch" von Ernst Baumeister, ein Mischwesen zwischen Mensch und Fisch. Dabei konnte man grübeln, welche Teile Fisch und welche Mensch sind.



Wassertorplatz
Am Schnittpunkt des Luisenstädtischen Kanals mit der Berliner Stadtmauer (Akzisemauer) musste eine Möglichkeit geschaffen werden, die Bewegungen über die Stadtgrenze zu kontrollieren und regeln. So entstand der Wassertorplatz, ursprünglich als Wasserbecken innerhalb des Kanals auf städtischem Gebiet. Auf der Spree gab es bereits zwei Kontrollstellen auf dem Wasser, die Oberbaumbrücke und die Unterbaumbrücke. Bei beiden verhinderte ein Baumstamm als Wassersperre, dass Boote nachts unkontrolliert die Stadtgrenze passieren konnten. Am Wassertor war es ein zu schließendes Eisengitter, das das Passieren der Boote verhindern konnte. Nach dem Zuschütten des Kanals legte der Gartendirektor Erwin Barth eine öffentliche Grünfläche an.

Heute wird der Wassertorplatz geteilt durch die stark befahrene Skalitzer Straße mit der U-Bahn als Hochbahn. Zwei weitere Straßen münden in den Platz. Am südlichen Platzrand entstand das "StuK-Projekt". In fünf Gebäuden mit Ein- bis Zehnzimmerwohnungen wohnen "Studenten und Kreuzberger", daher der Projektname. Überwiegend sind es Wohngemeinschaften des Studentenwerks, der Rest sind Eigentumswohnungen. Die zum Abriss bestimmten Altbauten wurden 1977 unter tätiger Mithilfe der Nutzer ausgebaut, die Bauten erzeugen Strom und Wärme über ein eigenes Blockheizkraftwerk.

Auf dem Dachfirst gibt es die "zeitgenössische Variante eines mittelalterlichen Wehrgangs", einen von Glas umgebener Laufsteg, der in Glastürmen endet. Auch ein Gewächshaus und Gemeinschaftsterrassen gehören dazu. Die damals diskutierten Fragen des preiswerten Wohnungsbaus, der Nutzerbeteiligung und alternativer Energiekonzepte sind auch heute noch aktuell, hier hat es funktioniert.


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Der nördliche Teil des Luisenstädtischen Kanals ist einem späteren Spaziergang vorbehalten. Für unser Flaniermahl haben wir einen Lokalbesuch aus dem Januar wiederholt. Damals hatte ich geschrieben:
Zum Abschluss noch etwas Nostalgie, Erinnerung an vergangene Kreuzberger Zeiten, als sich in der "Kleinen Weltlaterne" in der Kohlfurter Straße die Künstlergemeinde um Kurt Mühlenhaupt traf. Wer hatte hier nicht alles vorbeigeschaut oder ist hier hängen geblieben: Günter-Bruno Fuchs, Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass, Henry Miller, Friedensreich Hundertwasser, Curd Jürgens, André Heller. Doch tempi passati, heute heißt das Lokal "Kreuzberger Weltlaterne" und serviert uns Griechische Küche zum traditionellen Flaniermahl.
Auch heute sind wir zufrieden mit dem griechischen Lokal, das sich im Alt-Berliner Gewand zeigt.

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Unsere Spaziergänge in angrenzenden Gebieten:
> Luisenstädtischer Kanal nördlich des Oranienplatzes: Ach wie herrlich ist das Brot
> Fraenkelufer, Admiralstraße: Vorne Taut - hinten Baller
> Oranienplatz, Moritzplatz: Erste Kreuzberger Wohngemeinschaft
> Heinrich-Heine-Viertel: Erfolgslose Buddelei

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route:
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Die Unergründlichkeit der menschlichen Existenz
Ich bin hart geworden wie geschliffener Stahl