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Weil der Architekt es schön fand


Stadtteil: Tiergarten
Bereich: Botschaftsviertel
Stadtplanaufruf: Berlin, Klingelhöferstraße
Datum: 29. November 2011

Im Stadtbild sieht man öfter Bauten mit provozierend bunten Farben, ungewöhnlichen Balkons und Erkern, farbig gerasterten Fassaden. Es gibt Säulen in blau, gelb und rot, klobig dick oder zierlich, der Säulenschaft ohne Basis und Kapitell. Diese Säulen stehen nicht dort, weil sie etwas zu tragen hätten, eine Kraft aufzunehmen und abzuleiten hätten, sondern weil der Architekt es schön fand, die Fassade mit ihnen und anderen Stilelemente vergangener Epochen zu schmücken. Man geht vorbei, vielleicht ohne recht wahrzunehmen, dass hier die Postmoderne unernst auf das Formenrepertoire der Architekturgeschichte zurückgegriffen hat. Rückgriffe auf frühere Epochen gab es schon in der Kaiserzeit mit dem Historismus, aber da wurde der ganze Bau einheitlich im Stil der (Neo-)Gotik, (Neo-)Renaissance, des Neo-)Barock, (Neo-)Klassizismus gestaltet. Die Postmoderne zitiert einfach frech einzelne Elemente ("Der Bestand wurde auf seine verwendbaren Typen durchgesehen"), spielt damit, entfremdet sie, kombiniert sie neu, zufällig, ironisch, vielleicht auch chaotisch. Sie bringt Elemente der Gemütlichkeit als Kontrast zu den strengen, glatten, ornamentlosen Bauten der Moderne, wie sie beispielsweise in Reformbauten der 1920er Jahre zu finden sind, beispielsweise in der Friedrich-Ebert-Siedlung.

Die Postmoderne ist so etwas wie die Popkultur der Architektur. Die Fassade bildet nicht mehr die inneren Gebäudefunktionen nach außen ab, sondern erzählt Geschichten. Kritiker sagen, das Gebäude werde damit zum „dekorierten Schuppen", alles sei möglich ("anything goes"). Postmoderne, die Zeit nach der Moderne? Wir fühlen uns doch in der Gegenwart (modern = gerade jetzt), wie kann dann die Zeit "danach" (Post-) schon angebrochen und offensichtlich in der Architektur auch schon wieder überholt sein? Aber zeitgenössische Architektur wird mit Hilfe des Computers entworfen, völlig neue Formen ohne jedes historische Vorbild sind jetzt möglich.

Postmoderne Bauten sind vor allem im Rahmen der IBA 1984/87 errichtet worden, die als Internationale Bauausstellung die West-Berliner Innenstadt als Wohnstandort zurückgewinnen wollte. Der Krieg hatte im westlicher Kreuzberg, der südlichen Friedrichstadt und im Tiergartenviertel ein Trümmerfeld hinterlassen, das jetzt als abgeräumte Brache die Stadt zerklüftete. Die Kahlschlagsanierung zur Beseitigung der "lebensfeindlichen" Mietskasernen hatte weitere Zerstörungen angerichtet. Das Einfügen von Neubauten in die noch vorhandene Struktur nannte man "kritische Rekonstruktion". Wo sich die Nachkriegsmoderne über den historischen Stadtgrundriss hinwegsetzte (Beispiel Hansaviertel) und es mit der Abgrenzung zwischen öffentlichen und privaten Flächen nicht so genau nahm (Beispiel Überbauung von Straßen), sollten jetzt historische Parzellen, Baufluchtlinien, Traufhöhen und eine klare Abstufung von Öffentlichkeit und Privatheit eingehalten werden, der Baublock wurde wieder entdeckt. "Brav in der Reihe, unbrav in der Gestaltung" wurde eine Blockrandbebauung geschaffen, die im Innenbereich private Gärten an den Erdgeschosswohnungen, gemeinsam genutzte Grünflächen und Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten ermöglichte.

Zur Erschließung der ganzen Tiefe eines Baublocks wurde auf den Typus der "Privatstraße" zurückgegriffen, einer Erschließungsstraße auf dem Baugrundstück, die kein öffentliches Straßenland ist, aber (halb-)öffentlich als Zubringer zu den (Reihen)-Häusern fungiert. Damit sind wir bei der Lützowstraße, von ihr gehen durch Öffnungen des Blockrands mehrere Privatstraßen ab. Am Lützowplatz, wo unser heutiger Rundgang beginnt, wird die von Oswald Mathias Ungers im Rahmen der IBA geschaffene Randbebauung an der Schillstraße vom heutigen Eigentümer-Investor bereits wieder abgerissen, weil der Baukörper das Grundstück nicht vollständig ausnutzt. Ein mit Terrassen nach innen gestaffeltes Ensemble, das zur Straße hin unerwartet mehrere Giebel zeigt und nicht die üblichen Dachflächen, wird damit zerstört, um die Wohnfläche weiter zu verdichten.

Im Tiergartenviertel wurden an der Rauchstraße für die IBA mehrere Stadtvillen mit einheitlich quadratischem Gebäudegrundriss von unterschiedlichen Architekten gebaut. Die schachbrettartig aufgeteilte Baufläche ist in sich geschlossen, aber durchlässig zu den umgebenden Straßen und zur Landschaft. Der Tiergarten grenzt direkt an, von dort aus schaut der Brandenburger Flaneur Theodor Fontane ("Wanderungen durch die Mark Brandenburg") von seinem Sockel auf das Villengelände. Die Villen sind tatsächlich Mietwohnhäuser - meist im Sozialen Wohnungsbau. Sie wurden mit vier Etagen zu je vier Wohnungen geplant. Durch Änderung der Fördervorschriften wurden die Villen auf 5 Wohnungen in 5 Etagen verdichtet, wodurch jeweils eine Wohnung zusätzlich in den auf 4 Wohnungen abgestimmten Etagengrundriss hineingequetscht werden musste. Die Häuser umschließen einen grünen Innenbereich, der eigentlich den Bewohnern und Besuchern zur Verfügung stehen sollte, aber die preußische Mentalität war stärker, das Betreten des Rasens ist verboten.

Hier im Botschaftsviertel konzentrierte Speer mit seiner Germania-Planung im Dritten Reich alle Gesandtschaften, auch die, die aus dem Alsenviertel umziehen mussten. Der Krieg machte dem Botschaftsviertel ein Ende, nur ganz wenige Villen blieben stehen, so die Norwegische, die Dänische, die Spanische, die Italienische und die Japanische. Am Tiergartendreieck steht die wegen der politischen Situation scharf bewachte Botschaft von Syrien. Ganz anders als diese von klassizistischen Formen geprägten Bauten zeigen die nach der Wende neu errichteten Gesandtschaften landestypische Merkmale oder Freiformen, die erst durch computergestütztes Entwerfen, Simulieren und Visualisieren möglich geworden sind.

Entlang der Tiergartenstraße und der einmündenden Hiroshima- und Hildebrandtstraße findet sich eine bunte Vielfalt von Botschaftsgebäuden und Landesvertretungen, und damit die Mitarbeiter in der Nähe angemessenen Wohnraum finden, wird nebenan ein ausgedehnter "Diplomatenpark" mit klassizistisch angehauchten Hausvillen gebaut. "Hier heißt Wohnen Residieren", verkündet das Projekt anspruchsvoll. Infrastruktur fehlt hier genau wie am Tiergartendreieck, Brötchenholen oder ins Café setzen sind nicht vorgesehen. In die CDU-Kantine an der Klingelhöferstraße (gibt es da überhaupt eine?) werden sich die Diplomaten ja nicht unbedingt setzen wollen.

Aber wir haben zum Abschluss am Potsdamer Platz im "Billy Wilders" relaxen können. Um die Ecke vom Trubel im Sony-Innenhof sitzt man hier ganz ruhig - und ohne Postmoderne. Wenn dies heute ein Ausflug in die Architekturgeschichte war, dann liegt das daran, dass ich – ich gestehe es - zum ersten Mal beim Thema Postmoderne richtig hingesehen habe.


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