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Flanieren und Lust-wandeln


Ahnengalerie der Flaneure: Victor Auburtin
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"Höchst merkwürdig ist die Tatsache, dass in Berlin
alle besseren Herren aussehen wir Herr Stresemann.
Rund, kahlgeschoren, vergnügt und abstehende Ohren,
hinter denen sie es faustdick haben".

Victor Auburtin, geboren 1870, beobachtete seine Zeitgenossen mit klugem Blick. Seine Essays enthielten stets einen Anflug von leichter Ironie. Dadurch konnte er seine Kritik an mancher Dummheit mit Lieblichkeit so verpacken, dass sie etwas später zündete. Er hätte "die Menschen voller Zärtlichkeit verachtet", urteilte ein Kollege über ihn. Auburtin erlebte Kaiserreich und Weimarer Republik, schrieb Feuilletons für den "Simplicissimus" und Berliner Zeitungen und reiste durch die Welt.

Müssen Flaneure einen Schuss französische Lebensart in ihrem Blut haben? Victor Auburtin war französischer Abstammung, Franz Hessel, den wir den "Vater der Flaneure" nennen, pendelte zwischen Berlin und Paris. Alfred Kerr wünschte sich, Berlin läge am Rhein und ist schon deshalb etwas frankophil. Julius Rodenberg wohnte zumindest in der Französischen Straße. Da fühlt man sich den Flaneuren verbunden, wenn man einen hugenottischen Namen trägt.

Einmal ist Auburtin seine ironische Distanz zum Verhängnis geworden. Als der erste Weltkrieg begann, war er gerade in Frankreich unterwegs. Als Deutscher gehörte er zu den Feinden, da halfen französische Abstammung und französischer Name nicht. Auf der Flucht entdeckte er in Dijon ein Feinschmeckerlokal, und er wusste, dass man in Dijon gut isst. Sein Großvater war Leibkoch eines preußischen Königs, vielleicht war ihm deshalb der Genuss das höchste Gut, jedenfalls hielt er an und speiste ausgiebig. Aalpastete, Rehrücken und Burgunderwein ließ er sich schmecken, dann wurde er verhaftet und interniert. "Was ich in Frankreich erlebte" hört sich nach einer Reisebeschreibung an, ist aber ein Buch über seine Zeit als Gefangener. Düstere Träume über den Tod wechselten sich ab mit Phantasmen: "Weiße Pferde, sattellose, galoppieren marmorgepflasterte Straßen entlang; ein unermesslich breiter Strom fließt spiegelnd; ich sitze im strahlend hellen Theater in der Tiefe einer Loge und sehe ein Gewühl wunderbarer Frauen, die schwere Perlenketten um die Schultern tragen".

Immer wieder beschäftigte ihn die Tiergartenstraße, auch wenn er "da nicht hingehört, weil jeder in der Umgebung bleiben soll, die ihm ziemt". Sie ist "die schönste Straße zum Spazierengehen, vorbei am Park und an den stillen Villen, in denen kluge, vornehme Menschen wohnen. Auf dem Fahrdamm rasen Automobile einher und schreien wütend, wenn ihnen etwas störend im Wege steht. Sie kreischen laut, bähen wie ein Schaf oder brummen wie ein Bass. Nur immer vorwärts, man kann gar nicht schnell genug an diesem überflüssigen grünen Bäumen vorbeikommen".



"Wir kennen die Kunst des Müßiggangs nicht, die Kunst des Spazierens, die Kunst des Flanierens, diese Gabe ist uns versagt. Selbst die Reiter auf dem Reitweg reiten nicht, um sich in der Natur auszuleben, sie reiten, um schlanker zu werden oder um sich für ihre Arbeit zu kräftigen".

"Nur die sehr hübsche, allzu hübsche Dame da drüben, die in aller Gemächlichkeit spazieren geht und mit dem Handtäschchen schlenkert - aha! der Schutzmann sieht sich nach ihr um. In dieser emsigen Stadt Berlin sind Spazierengehen und Laster so ungefähr dasselbe".

Auf so subtile Weise bringt Victor Auburtin uns den Unterschied zwischen flanieren und Lust-wandeln nahe.



Auburtin beobachtete, wie der Berliner spazieren geht: "Er erledigt vier Geschäfte zugleich: mit den Beinen geht er, mit dem Mund kaut er, mit der linken Hand hält er eine Zeitung, in der er liest, und mit der rechten Hand sucht er in der Westentasche nach seinem Zahnstocher". Das Bild ist geblieben, nur sind Zeitung und Zahnstocher in unserer Gegenwart durch Smartphone und Coffee-to-go ersetzt worden.

Das 1912 eröffnete Krematorium Wedding war für Auburtin "jene Anstalt, in der die Bürger, vorausgesetzt dass sie tot sind, sich verbrennen lassen können". Er machte sich Gedanken "über jene Öffnung des Gebäudes, die sich ganz oben befindet". Die Bürger der umliegenden Häuser säßen nachmittags in ihren Fenstern und warteten, "bis die bewusste Wolke aufsteigt". So vermutet er, ein verstorbener Generaldirektor würde als gewaltige dunkle Wolke zum Himmel ziehen. Sähe man ein dünnes silberweißes Wölkchen aufsteigen, dann wäre es vielleicht ein Literat, ein Maler oder sogar ein Feuilletonist gewesen.

Auch den Innenhof seines Hauses hatte Auburtin im Blick. Oben lehnt sich ein Liebespaar aus dem Fenster, unten sitzen sich seit zwei Stunden eine Katze und ein Kater verliebt gegenüber und schauen sich unverwandt in die Augen. Als ein Leierkastenmann im Hof Musik macht, "steht die Katze auf, streckt sich und geht langsam zu dem Kater hin; aber der haut ihr mit der Pfote eine herunter, worauf die Katze ruhig auf ihren Platz zurückkehrt. Schade, dass Adam kein Kater gewesen ist. Wir säßen heute noch im Paradiese, und alles wäre anders geworden".

"Lieblich ist, dass die Berliner Fräuleins so kurze Rücke tragen, kürzer als in allen anderen Städten, hoch über die Knie". Auburtin verschweigt nicht, dass nicht alle Berliner Fräuleins so ansehnlich sind, dass sie sich das leisten können.

Auch das ist bis heute geblieben: Berliner - gleich welchen Geschlechts - ziehen sich an, wie sie wollen, und vergessen beim Verlassen der Wohnung den prüfenden Blick in den Spiegel.



Der Dichter gepflegter Causerien (gebildeter Plaudereien) hat es vorausgesehen: „Wir armen Feuilletonisten überleben uns nicht". Und tatsächlich, sein Name ist in Vergessenheit geraten. Vielleicht auch, weil er als Dandy mit seiner Ironie von erhöhter Warte auf die Mitmenschen herunter schaute. Behalten wir ihn als Spaziergänger in Erinnerung und setzen wir ihm ein Denkmal in unserer Ahnengalerie der Flaneure.

1.Juni 2015


Ein Berliner reist nach Berlin
Vergessenes zurückgewinnen