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Ein Engel vor der Pforte


Stadtteil: Schöneberg
Bereich: Nollendorfplatz bis Prager Platz
Stadtplanaufruf: Berlin, Motzstraße
Datum: 14. Oktober 2014
Bericht Nr: 482

Als Meile der Kunst und Literatur, aber auch des lasterhaften Berlins war die Motzstraße schon in den 1920er Jahren bekannt. Erwin Piscator inszenierte im "Metropol" am Nollendorfplatz (jetzt "Goya") seine Theaterstücke, Else Lasker-Schüler wohnte ein paar Häuser weiter Motzstraße 7 in einem Dachkämmerchen des Hotels Sachsenhof. "Emil und die Detektive" verfolgten in Erich Kästners Kinderbuch den frechen Dieb die Motzstraße entlang bis zu diesem Hotel. Der Anthroposoph Rudolf Steiner, zeitweise Redakteur eines Literatur-Magazins, lebte zwanzig Jahre lang in der Motzstraße 30. Der Filmemacher Billy Wilder wohnte als junger Mann am Viktoria-Luise-Platz zur Untermiete. Egon Erwin Kisch, der "Rasende Reporter", hatte seine letzte Wohnung in der Motzstraße. Vladimir Nabokov, der russisch-amerikanische Erzähler ("Lolita"), zog mit seiner Muse und Begleiterin für ein Jahr in die Motzstraße 64.

Else Lasker-Schüler hat mit der Motzstraße ein Umfeld gefunden, das ihrem unangepassten und unsteten Leben entsprach. Die Tochter eines jüdischen Bankiers war mit einem Arzt verheiratet, Vater ihres Sohnes wurde ein anderer Mann. Die Ehe wurde daraufhin geschieden. Bis dahin hatte sie ein eigenes Atelier als Malerin, jetzt orientierte sie sich um, schrieb Lyrik und Dramen, bekam den Kleistpreis. Ihr zweiter Mann war ein Dichter und Verleger, auch diese Ehe wurde geschieden. Sie war befreundet mit Gottfried Benn, Karl Kraus, Georg Trakl, Franz Werfel, Franz Marc. Als im Kino "Mozartsaal" des Metropol-Theaters ein Antikriegsfilm aufgeführt wurde, kam es zu Auseinandersetzungen mit randalierenden SA-Horden, dabei wurde Else Lasker-Schüler verletzt. 1933 emigrierte sie nach Israel. "Ich suche allerlanden eine Stadt, / Die einen Engel vor der Pforte hat", dichtete sie. Berlin konnte diese Sehnsucht nicht auf Dauer erfüllen.

Die Atmosphäre des Viertels um den Nollendorfplatz (1) im Übergang von den Goldenen Zwanziger Jahren zur Naziherrschaft wird in dem Musical "Cabaret" mitreißend vorgeführt. Der Autor Christopher Isherwood lebte in der Nollendorfstraße, es ist auch eine Beschreibung seines Lebens als Schwuler in diesem schwul-lesbischen Viertel. Mit Beginn der Naziherrschaft verließ er Berlin 1933. "Cabaret" beschreibt den Alltag nicht alltäglicher Menschen, auch eine Dreiecksgeschichte, die sich nicht auf die Liebe zwischen zwei Männern und einer Frau beschränkt, denn auch die beiden Männer finden zueinander.

Die Steinfiguren auf einem Vorsprung der Metropol-Theater-Fassade in ihrer lasziven und sinnlichen Haltung und erotischen Verschlingung bereiten den Besucher der Motzstraße auf das vor, was ihn hier erwarten kann. Bereits in den 1920er Jahren war die Motzstraße als Ort des lasterhaften Berlins bekannt. Es gab Bars für Lesben und Schwule, das "Eldorado" bot Travestie-Shows. Dieses Etablissement gab es zweimal, nur wenige Blocks voneinander entfernt, in der Martin-Luther-Straße und in der Motzstraße Ecke Kalckreuthstraße. Die feine Berliner Gesellschaft ging gern ins "Eldorado", auch Marlene Dietrich, Cläre Waldoff, Anita Berber waren hier zu Gast. Otto Dix malte ein "Großstadt"-Tryptichon, das vom Eldorado inspiriert wurde. Man sieht eine Jazzband, Tanzende, Freudenmädchen, Pelzmäntel, Reiche und Schöne, Kriegskrüppel, die auf der Straße liegen, eine Frau mit Federboa, die ein Mann sein könnte. Ein Nachtleben, das viele Deutungen zulässt. Zu diesem Nachtleben gehörten tatsächlich Nackttänze in Etablissements in der Motzstraße, in Haus Nummer 38 fanden pornografische Darstellungen statt, die die moralische Stadt aufregten. Kurt Tucholsky schrieb über die geheuchelte Empörung, "es gibt schlimmere Dinge, die sich in aller Öffentlichkeit abspielen, viel schlimmere Dinge".

Im "Eldorado" wurde der Schlager "Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehn" mit einer besonderen Strophe gesungen:

In der Eldorado-Bar
Saß ein Herr mit blondem Haar.
Ein Fräulein sprach: ‚Sind sie am Sonntag allein?‘
Da lachte der Blonde und sagte: [tuntig ausgesprochen] ‚Huch, nein!‘

Und Erich Kästner, der selbst das "Eldorado" besuchte, dichtete unter dem Titel "Ragout fin de siècle":

Hier tanzen die Jünglinge selbstbewußt
Im Abendkleid und mit Gummibrust
Und sprechen höchsten Diskant.
Hier haben die Frauen Smokings an
Und reden tief wie der Weihnachtsmann
Und stecken Zigarren in Brand.

Heute ist die Motzstraße zwischen Nollendorfplatz und Martin-Luther-Straße ein "Gay District", es gibt eine Vielzahl einschlägiger Geschäfte, Lokale, Cafés und Bars. "Romeo und Romeo", "More", "Scheune", "Reizbar", "Heile Welt", "VielHarmonie", "Hafen", "Tom's Bar" heißen die Lokalitäten, die verstärkt nachts ihre Attraktivität entfalten als Treffpunkte von Männern, die Männer lieben. Hier kann Mann "cruisen", das ist die besondere Art des homosexuellen Flirts, die indirekt, aber zielgerichtet ist. Für die intime, anonyme, schnelle Begegnung haben die Lokalitäten meist Darkrooms eingerichtet. Aus dem Motzstraßenfest ist inzwischen das "Lesbisch-schwule Stadtfest" geworden, das jährlich veranstaltet wird. Übernachten kann man in der Motzstraße nicht nur im historischen Hotel Sachsenhof, sondern auch in Gay-Hotels und -Hostels. Und "Motzbuch" ist nicht mehr die einzige Buchhandlung in der Motzstraße, "Prinz Eisenherz" hat hier eröffnet mit einschlägiger Literatur für die Szene.

Die Motzstraße führt auf einen der schönsten Schmuckplätze Berlins, den Viktoria-Luise-Platz (2), und setzt sich dahinter fort. Wer um 1900 nicht in suburbanen Villenkolonien vor der Stadt leben wollte, fand hier die angemessenen Wohnungen mit Salons, für die Dienstboten gab es Kammern. Dazu gehörte natürlich ein stilvolles Umfeld, das von der Terraingesellschaft (3) gestaltet wurde. Die Berlinische Boden-Gesellschaft mit Georg Haberland (4) an der Spitze parzellierte das Gelände, erstellte den Bebauungsgrundriss und gab sogar die Fassadenentwürfe vor. Für die gärtnerische Gestaltung des Platzes wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Der Innenbereich des Platzes wurde durch Bäume und Gehölze abgeschirmt, mittendrin steht ein Springbrunnen, mehrere halbrunde Kolonnaden schaffen Rückzugsmöglichkeiten. Der U-Bahnhof wurde nachträglich angelegt, sein Eingang erhielt eine Pergola aus Muschelkalkstein. Das Haus des Lette-Vereins hat Alfred Messel (5) gestaltet. Vom "Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts" gegründet, hatte der Lette-Verein die Aufgabe, unverheirateten Frauen aus dem Bürgertum andere Berufe als Lehrerin oder Gouvernante zu ermöglichen. Heute werden Berufsausbildungen für Design, Hauswirtschaft und technische Berufe angeboten.

Zwischen Viktoria-Luise-Platz und Ansbacher Straße geht die bürgerliche Motzstraße mit reichlich verzierten Gründerzeitbauten weiter. Wenn man hinter der Ansbacher Straße die Motzstraße noch einmal wieder findet, dann sieht man eine völlig veränderte Welt. Gesichtslose Nachkriegsbauten beherrschen den letzten Straßenabschnitt bis zum Prager Platz. Im Zweiten Weltkrieg sind auch die Gebäude am Prager Platz fast völlig zerstört worden, im Rahmen der Internationalen Bauausstellung “IBA” wurde der alte Grundriss mit modernen Gebäuden wieder hergestellt.

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Hier finden Sie mehr zu diesen Themen:
(1) Nollendorfplatz: Nollendorfplatz
(2) Viktoria-Luise-Platz: Viktoria-Luise-Platz
(3) Terraingesellschaften: Terraingesellschaften
(4) Georg Haberland: Haberland, Georg
(5) Alfred Messel: Messel, Alfred

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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