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Revolutionsbedarf und Graffiti


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Köpenicker Straße
Stadtplanaufruf: Berlin, Zeughofstraße
Datum: 11. Januar 2016
Bericht Nr: 533

Das erste, was wir auf unserer Stadtwanderung zwischen dem Schlesischen Tor und der Spree sehen, sind Wandbilder im U-Bahnhof Schlesisches Tor. Die Bahn fährt hier in sechs Meter Höhe über unseren Köpfen. Der dreigeschossige Mauerwerksbau darunter mit Anbauten, Arkaden und Treppenturm ist nicht nur ein Bahnhofsgebäude im historisierenden Stil der Neorenaissance. Mehreren Läden, eine Gaststätte und ein Café sollten die Ausflügler zur Spree versorgen - dort gab es eine Dampfer-Anlegestelle - und gleichzeitig dem angrenzenden Wohnbezirk dienen.

In einem der Läden schauen heute Krimi-Veteranen auf die Käufer herunter. Hitchcock hat die New York Times vor sich ausgebreitet, auch Sherlock Holmes tarnt sich sehr auffällig mit Zeitungungslektüre, Miss Marple schaut aus einer Bogenöffnung der Galerie.


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Mit den Wandbildern ist ein Thema für unseren Rundgang gesetzt, denn Kreuzberg ist dafür ein Hotspot, die Dichte von Murals (Wandmalereien), Street-Art und Graffiti ist hier besonders hoch. Wir sehen mehrfach Aufforderungen zum Tanzen - "It's time to dance" - die von Sobre-Art 2012 nicht nur in Berlin plakatiert wurden, sondern auch in Paris, Marseille und Istanbul. Der italienische Street-Art-Künstler BLUE hat an einer Brandwand in der Köpenicker Straße bildhaft eine Metamorphose beschrieben, die Mauer fällt und aus jedem Mauersegment entsteht ein 100-Euro-Schein.

Große Aufmerksamkeit bekam BLUE, als seine beiden Murals an der Cuvrystraße schwarz übermalt wurden. Die Figur eines kopflosen Mannes mit goldenen Uhren als Handschellen und das Bild mit zwei maskierten Figuren (brothers upside down) gehörten zu Berlins bekanntesten Fassadenmalereien. Man sagt, BLUE hätte als Gentrifizierungsprotest selbst seine Wandbilder übermalen lassen, weil die Brache vor den Murals bebaut werden soll.


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Der belgische Künstler ROA hat an der Manteuffelstraße tote Tiere bildhaft an einer Fassade aufgehängt, die Farben sind nur schwarz und weiß. Der Titel seines Werkes spielt mit der doppelten Bedeutung von "Nature Morte", in der Bildenden Kunst ist das der übliche Terminus für "Stillleben", wörtlich übersetzt bedeutet es aber "tote Natur".

“Berlin not for Sale”: Drei Kollektive haben ein alternatives Monopoly an eine Hauswand in der Manteuffelstraße gebracht. Statt Schlossallee und Opernplatz stehen hier Bethaniendamm und Lausitzer Straße als Orte von Hausbesetzungen, als Gegenpol ist das Spree-Ufer mit der Media-Spree vertreten. Ein bildhafter Appell, die Stadt zurück zu gewinnen in der Auseinandersetzung mit Investoren ("reclaim your city").

Ein Street-Art-Duo hat eine Graffiti-Schnitzeljagd auf Hauswände appliziert. Man sieht einen Text als Teil einer Geschichte. An anderer Stelle im Kiez findet man die Fortsetzung. Hat man alles gefunden, dann weiß man mehr über die drei Bauarbeiter “Maik, Paul und Jörg”, und warum die Grenze nicht zwischen Völkern verläuft, sondern zwischen 'oben' und 'unten'. Inzwischen sind die Texte kaum noch zu lesen, Street-Art ist eben per definitionem ein vergängliches Phänomen.

Multiple Realität, auch das ist Kreuzberg SO 36 heute: Rückzugsort einer mobilen Polizeiabteilung. - Turnhalle als Flüchtlingsheim. - Laden für Revolutionsbedarf. -- Auf einem Parkplatz an der Köpenicker Straße stehen mehrere Polizeifahrzeuge. Von hier aus werden Einsätze im Görlitzer Park gestartet, hier werden festgenommene Drogendealer verhört. - In der Zeughofstraße hinter dem Oberstufenzentrum Handel (der ehemaligen Wrangelkaserne) werden in der Sporthalle Flüchtlinge untergebracht. Bisherige Nutzer wie der Allgemeine Turnverein oder der "Sportverein für FrauenLesbenTrans*Inter* und Mädchen" (Seitenwechsel e.V.) mussten weichen.

In der Manteuffelstraße steht ein Laden für "Revolutionsbedarf" vor der Zwangsräumung. Der Revolutionsmythos verblasst, schreibt der Tagesspiegel und widmet dem Laden, dem "letzten seiner Art", das Titelfoto und die komplette dritte Seite. Pfefferspray, Kapuzenpullis, Demonstrationshandschuhe, verbotene und erlaubte Magazine sind nicht mehr so gefragt, der Vermieter will den Mieter in dem Laden loswerden, aber ein Revoluzzer geht nicht freiwillig, Ende offen.

Die alte militärische Nutzung des Kiezes ist noch heute sichtbar. Die Zeughofstraße verbindet die Wrangel-Kaserne an der Ecke Wrangelstraße mit der Heeresbäckerei an der Köpenicker Straße. Der Straßenname verweist auf den 1733 errichteten Zeughof, in dem Waffen und Wagen des Militärs verwahrt wurden. An diesem Gebäude ließ Friedrich der Große 1777 einen Blitzableiter anbringen, den ersten seiner Art in Berlin. Carl Abraham Gerhard, der Gründer der Bergakademie Berlin hatte zusammen mit einem anderen Akademiemitglied diese technische Innovation realisiert. In der Bergakademie war damals der höchste Stand des technischen und naturwissenschaftlichen Wissens in Preußen vertreten.

Das Garde-Train-Batallion, das für das militärische Transportwesen zuständig war, unterhielt an der Spree einen Pontonhof. Von den Militärbauten entlang der Köpenicker Straße ist nur die Heeresbäckerei erhalten geblieben. Hier wurde für die Versorgung der Soldaten das Kommissbrot gebacken, das sich durch lange Haltbarkeit auszeichnet. Ich erinnere mich, dass mir vor Jahren aus der Eisernen Ration der Bundeswehr ein Zettel entgegen flatterte mit der Warnung: "Kaue gut und langsam, du weißt nicht, wann du wieder etwas bekommst". Die Haltbarkeit ist heute noch genauso wichtig bei der Soldatenverpflegung. Das Kommissbrot wurde im Ersten Weltkrieg eingeführt, als Tagesration gab es 750 Gramm pro Soldat. Gebacken werden die Brote Wange an Wange, dadurch entsteht die Kastenform, nur die Oberseite bekommt eine Kruste. Das Kommissbrot wurde über das Militär hinaus in der Bevölkerung bekannt und gehört seitdem zum Warenangebot jeder Bäckerei um die Ecke. "Das schmackhafte Kommißbrot ist ein vorzügliches Mittel gegen die Kulturkrankheit Obstipation und die daraus resultierende vielgestaltige Nervosität. Ich sah bei regelmäßigem, täglichem Gebrauch einiger Schnitten Kommißbrot die hartnäckigsten Verstopfungen verschwinden. wer das Schwarzbrot nicht verträgt, kann es in Form der sehr schmackhaften Brotsuppe genießen" (aus einer Untersuchung über das Soldatenbrot, 1915).

Vom Pferdebusdepot bis zum Lagerort für "Entartete Kunst" reicht die Geschichte des Victoria-Speichers in der Köpenicker Straße. Die Berliner Omnibusgesellschaft hatte das Gebäude 1880 als Pferdestall, Garage und Werkstatt für ihren Pferdeomnibusbetrieb errichten lassen. Der Architekt Franz Ahrens (von ihm stammt das Tacheles) entwarf 30 Jahre später nach einem Brand den Nachfolgebau. Dann übernahmen die städtischen Lagerhausbetriebe BEHALA den Speicher.


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Von 1937 an brachten die Nazis im Victoria-Speicher "Entartete Kunst" unter. Ungegenständliche, moderne Werke beispielsweise des Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus oder Kubismus wurden als "kranke", "jüdisch-bolschewistischer" Kunst verfemt und in Museen beschlagnahmt, zwischen 16.000 und 20.000 Werke. Als Hitler und sein Propagandaminister Goebbels die enteigneten Werke besichtigten, notierte Goebbels in seinem Tagebuch: "Kein Bild findet Gnade". Skrupellos wurde der "verwertbare" Teil im Ausland zu Geld gemacht, die restlichen Kunstwerke wurden vernichtet. Beteiligt an der Verwertung war der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, dessen Sohn Cornelius in seiner Münchener Wohnung manche enteignete Bilder hortete.

Zum Abschluss noch etwas Nostalgie, Erinnerung an vergangene Kreuzberger Zeiten, als sich in der "Kleinen Weltlaterne" in der Kohlfurter Straße die Künstlergemeinde um Kurt Mühlenhaupt traf. Wer hatte hier nicht alles vorbeigeschaut oder ist hier hängen geblieben: Günter-Bruno Fuchs, Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass, Henry Miller, Friedensreich Hundertwasser, Curd Jürgens, André Heller. Doch tempi passati, heute heißt das Lokal "Kreuzberger Weltlaterne" und serviert uns Griechische Küche zum traditionellen Flaniermahl.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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Ein Postzustellbezirk vermittelt Lebensgefühl
Die Unergründlichkeit der menschlichen Existenz