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Das fünfte Element


Stadtteil: Wilmersdorf
Bereich: Dorfaue
Stadtplanaufruf: Berlin, Wilhelmsaue
Datum: 6. Dezember 2011

Die Naturelemente sind Erde, Luft, Feuer, Wasser - und Elektrizität. Auf der Fassade des Goethe-Gymnasiums in der Uhlandstraße (Ecke Gasteiner Straße) wird dieses Wissen in allegorischen Darstellungen vermittelt, darunter der Begriff im Klartext, damit die Schüler wissen, worum es geht.

Elektrizität als fünftes Element? Wir kennen die Vier-Elemente-Lehre, die durch Überlegungen des griechischen Philosophen Thales von Milet angestoßen wurde. Allerdings glaubte er noch, dass die Erde eine flache Scheibe ist, die auf dem Wasser unter einem halbkugelförmigen Himmelsgewölbe schwimmt. Empedokles stellte sich die vier Elemente als Götter vor. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass Erde, Luft, Feuer und Wasser Grundbausteine des Lebens, ja der Ursprung allen Lebens sind. In der Alchemie kam als fünftes Element der Geist hinzu, der den leblosen Gegenständen Atem einhaucht.

In der Esoterik nimmt die Lehre von den vier Elementen breiten Raum ein. Der Buddhismus hat den vier in einem Kreislauf miteinander verbundenen Elementen ein fünftes - die Leere - hinzufügt. Sie kann als "Loslassen" umschrieben werden: "Leerheit zieht uns den bequemen Teppich des gesunden Menschenverstandes unter den Füssen weg, verursacht einen Kurzschluss in den Gewohnheiten des Geistes und lässt nichts übrig, an dem man sich festhalten kann. Sie ist das Loslassen fixierter Ansichten über uns selbst, unser Ego und der restlichen Welt". Im chinesische Daoismus gibt es die fünf Elemente Erde, Feuer, Wasser, Holz und Metall, die im immerwährenden Wandel miteinander verbunden sind.

Keine dieser Vorstellungen von den Elementen nennt die Elektrizität. Wieso setzt der Wilmersdorfer Gemeindebaurat Otto Herrnring, der in seiner Gemeinde mindestens zehn Schulen gebaut hat, die Elektrizität ungewöhnlicherweise neben die vier Grundelemente? Der "Schulpalast bei Berlin", wie man das 1904 errichtete Gebäude auch nannte, wurde im selben Jahr auf der Weltausstellung in St.Louis als deutscher Beitrag in der kunstgewerblichen Abteilung ausgestellt, war also nicht irgendeine Schule. Der "etwas schmucküberladene Bau" mit romanischem und orientalischem Zierrat ist ein Produkt der Historismus-Epoche in der Kaiserzeit, steht gleichzeitig aber auch in der Zeit der "Elektropolis": Berlin war das europäische Zentrum der Elektroindustrie, ein „Laboratorium des Fortschritts“. Unternehmen wie Siemens, AEG, Osram bestimmten die industrielle Entwicklung auf diesem Gebiet als innovative Produzenten gesellschaftlichen und technischen Wandels. 1884 gab es Unter den Linden Ecke Friedrichstraße die erste elektrische Beleuchtung von Gebäuden, nach 1900 wurde die Gebäude- und Straßenbeleuchtung forciert ausgebaut. Diese Vibrationen eines neuen Zeitalters nimmt der Architekt auf, in seiner ansonsten an der Vergangenheit orientierte Fassadengestaltung setzt er ein Ausrufungszeichen, einen Blick auf die Zukunft in Gestalt der Elektrizität.

Unser Rundgang vom Fehrbelliner Platz zur Wilhelmsaue führt durch die ehemals selbstständige Stadt (Deutsch-)Wilmersdorf, die 1920 nach Groß-Berlin eingemeindet wurde. Die Bauten jener Zeit geben einen Eindruck vom Reichtum des Ortes und seiner Bürger und über die stürmische Entwicklung an der Wende zum 20.Jahrhundert. 1908 wurde die Feuerwache in der Gasteiner Straße gebaut, 1904 das Goethe-Gymnasium, 1905 das an der Gasteiner Straße gegenüberliegende prächtige Eckhaus zur Uhlandstraße - entworfen von einem sonst nicht weiter bekannten Maurermeister. Die Heilig-Kreuz-Kirche in der Hildegardstraße stammt von 1912, als Katholisches Gotteshaus durfte sie nicht freistehend errichtet werden, sondern wurde in die Blockrandbebauung eingegliedert.

Die Wilhelmsaue ist die Dorfaue von Wilmersdorf. 1888 erhielt sie den Namen des ersten Kaisers Wilhelm, aus Dankbarkeit kam in die Grünanlage eine Büste des Namensgebers. Über das Schramm'sche Vergnügungsetablissement an diesem Ort und das Schoelerschlösschen hatte ich früher bereits geschrieben (--> 1), heute interessieren uns die Bauten rings um die Dorfaue, die zwar vom Durchgangsverkehr befreit ist, ihren dörflichen Charme aber schon vor Jahrzehnten verloren hat.

Die von Otto Bartning 1937 errichtete Straßenkirche der Christlichen Wissenschaft an der Wilhelmsaue wurde von den Nazis als Ausgabestelle für Lebensmittelkarten zweckentfremdet, nachdem sie die Glaubensgemeinschaft verboten hatten. Seit Kriegsbeginn 1939 wurde nach und nach die Zwangsrationierung eingeführt, Fett, Fleisch, Butter, Milch, Käse, Zucker, Marmelade, Brot und Eier waren dann nur noch gegen Lebensmittelkarten erhältlich. 1943 war zwei Tage lang ein Ufa-Kino im Kirchenschiff aktiv, dann beschädigten Bomben das Gebäude. Nach dem Krieg wurde es vereinfacht wieder aufgebaut.

Zum Dorf gehörte seit dem 13. Jahrhundert eine Dorfkirche, die 1771 abbrannte. Der Nachfolgebau stand bis 1897 und musste dann der Auenkirche weichen, einem mächtigen neugotischen Kirchenbau mit ungewöhnlichem Grundriss. Das Querschiff, das die Kreuzform des Kirchenbaus prägt, ist kaum erkennbar.

An der Wilhelmsaue Ecke Blissestraße wurde 1911 ein Waisenhaus erbaut. Die Familie Blisse hatte drei Millionen Reichsmark für dieses Projekt gespendet. Ein gutes Beispiel bürgerschaftlichen Engagements, mit dem diese "Millionenbauern" der Allgemeinheit einen Teil des Geldes zurück gaben, das sie durch die Umwandlung landwirtschaftlicher Flächen in wertvolles Bauland verdient hatten.

In der Hildegardstraße finden wir ein richtig piefkiges Bäckerei-Hinterzimmer-Café, in dem sogar noch ohne Ansage geraucht wird. Zwei andere Gäste sitzen an Einzeltischen, man kennt sich, das Gespräch läuft von Tisch zu Tisch. Die Küche liefert Boulette und Kartoffelsalat mit Mayonnaise, das kenne ich so aus meiner Kindheit. Wilmersdorfer Witwen pflegen ihren Nachmittagskaffee gehobener zu sich zu nehmen. Aus welchem Jahrzehnt mag dieses Hinterzimmer in unsere Zeit überkommen sein?

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(1) Seebad Wilmersdorf und Schoelerschlösschen: Von der Badebude zum Tanzpalast


Woge, Wüstenschloss und Wohnheim
Geheime Orte auf dem Campus