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Granaten und Kleinstadtidyll


Stadtteil: Spandau
Bereich: Staaken
Stadtplanaufruf: Berlin, Ungewitterweg
Datum: 5. Oktober 2009

Im Spandauer Juliusturm wurde seit 1871 in 1.200 Kisten ein Goldschatz gebunkert, den die Deutschen den Franzosen als Reparationsleistung nach dem von ihnen verlorenen Deutsch-Französischen Krieg auferlegt hatten. Knapp 50 Jahre später, nach dem ersten Weltkrieg holten die Franzosen sich das zurück, was davon noch übrig war. Man sieht sich immer zweimal, aber mit vertauschten Rollen, sagt die Erfahrung.

Spandau war seit 1555 zur Festung ausgebaut worden und kurz danach begann mit dem Bau einer Pulvermühle der Ausbau zur "Waffenschmiede Preußens". Es folgten eine Gewehrfabrik und eine "Zentralstelle für Explosivstoffe". Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen Pulverfabrik, Geschützgießerei, Zündspiegelfabrik, Artilleriewerkstatt, Munitions-, Patronen- und Geschoßfabrik hinzu. Bis 1903 war Spandau Festung mit durchaus wechselvoller Geschichte. Napoleons Truppen hatte sie sich bei deren Vormarsch auf Russland 1806 kampflos ergeben, und erst beim Rückzug der Franzosen aus Russland kämpften die Preußen ihre Festung zurück (1). Das Verbot von Rüstungsproduktion durch den Versailler Vertrag führte zur Entlassung von 44.000 Menschen aus den Heereswerkstätten. Die Umstellung auf zivile Produktion ging schleppend voran, die Menschen fanden keine Arbeit. In Spandau als dem ersten Berliner Bezirk waren die Nationalsozialisten bereits 1925 im Bezirksparlament vertreten, so dass Goebbels später mit einigem Recht behaupten konnte, die NSDAP habe Berlin von Spandau aus erobert. Dann begann die Rüstungsproduktion erneut, mit Arbeitskräften aus Fremdarbeiterlagern und KZ-Außenstellen. Die erneute kampflose Übergabe der Zitadelle am 1.Mai 1945, diesmal an die Russen, half unnötiges Blutvergießen am Kriegsende zu vermeiden.

So wie Siemens in Siemensstadt bauten auch viele andere Unternehmen Wohnungen für ihre Mitarbeiter. Der preußische Militärfiskus errichtete in Staaken während des Ersten Weltkrieges eine Wohnsiedlung für die Arbeiter in den Munitionsfabriken, die Gartenstadt Staaken. "Tagsüber die Produktion von Granaten, abends das märkische Kleinstadtidyll" (Wolfgang Pehnt). Es war keine Stadt, sondern eine Siedlung, autarke Gartenstädte nach englischen Beispiel mit idealerweise 30.000 Einwohnern und eigenen Verwaltungs- und Versorgungseinrichtungen gab es in Deutschland nicht. So beschränkte sich die Gartenstadt auf Reihenhäuser mit kleinen Gärten, die der Selbstversorgung dienten. Ländlich-kleinstädtisch ist die Wirkung, nicht-rechtwinklige Straßenverläufe sollen eine gewachsene Stadt zeigen, die man durch heimelige Tordurchgänge betritt. Baumeister war Paul Schmitthenner, der später weiße Flachbauten als "Vorstadt Jerusalems" verspottete und 1933 der NSDAP beitrat. Allerdings waren seine Bauten den Nazis zu schlicht, Hitler verhöhnte seinen Entwurf für den Weltausstellungspavillon als "Heustadl", und Schmitthenner seinerseits kritisierte später die Monumentalarchitektur Speers.

In der Gartenstadt Staaken wurden 298 Einfamilienhäuser und 148 Mehrfamilienhäuser errichtet, Schule und Kirche liegen an zwei zentralen Plätzen. Erker, Gauben, Spaliere, Fachwerk, Spitzdächer vermitteln das Flair einer norddeutschen Kleinstadt. Bei der Gestaltung der Fassaden nahm man teilweise Rückgriff auf das Holländische Viertel in Potsdam. Genossenschaftliches Zusammenleben und Gemeinschaftseinrichtungen wurden nicht verwirklicht.

Am Ungewitterweg hat ein Dachdeckerbetrieb seine Werkstatt. Wie passend! denke ich, aber meine Nachforschungen zum Straßennamen ergeben, dass der Name nicht auf eine Wetterlage hinweist, sondern auf einen erfahrenen Piloten, der bei einem Testflug in der Nähe des Staakener Flughafens abgestürzt und ums Leben gekommen ist.

Von der Kleinstadtidylle, in der die Hausgärten doch sehr den Schrebergärten in den Kleingartenkolonien ähneln (nur die Badewannen in den Gärten fehlen) fahre ich zurück nach Mitte. Nördlich des Bahnhofs Friedrichstraße versuchen immer wieder Schnellrestaurants Kunden zu finden und eröffnen an teilweise abenteuerlich abgelegenen Plätzen, so dass man den Prozess von der Eröffnungseuphorie bis zum Schließungsfrust hautnah miterleben kann. Der "Gorilla" auf der Höhe Torstraße hat schon aufgegeben, obwohl er Kunden fand. Im Nebenhaus der "Point" ist meist gähnend leer. Und jetzt habe ich am Neuen Tor ein italienisches Schnellrestaurant mit phantasievoller Speisekarte abseits der ausgetretenen Pasta- und Pizza-Gerichte gefunden, wo ich an diesem Abend von dem Essen wirklich angetan bin. Aber: gähnend leer, und nicht nur wegen der Baustelle vor der Tür sondern weil auch sonst hier kaum jemand vorbei kommt. Und: geschlossen wird abends um sieben. Über die Zukunft mache ich mir keine Illusionen, man möchte den ganzen Laden so wie er ist aufladen und an einer viel beachteten Stelle neu installieren.

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(1) Mehr über den Kampf um die Zitadelle Spandau: Spandauer Festungsbauwut


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