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Erziehen mit Geduld und Arbeit


Stadtteil: Schöneberg
Bereich: Bayerisches Viertel
Stadtplanaufruf: Berlin, Bayerischer Platz
Datum: 11. Juli 2011

Ein Tisch, ein umgestürzter Stuhl, ein Zimmer, in dem sich keine Menschen mehr befinden - auf dem Koppenplatz in Mitte ist die Deportation von Juden im Nationalsozialismus zu einem bedrängenden Bild verdichtet. Wenn man sich darauf einlässt, kann man im Bayerischen Viertel zwei ähnlich dichte Gedenkorte finden - dicht im Sinne von nahe herankommend, einen berührend, anfassend.

Jüdische Schweiz
Das Bayerische Viertel um den gleichnamigen Platz war einmal die "Jüdische Schweiz", am Anfang der 1930er Jahre lebten hier 16.000 Juden, in der Münchener Straße stand eine Synagoge (1). Moderne, repräsentative Wohnungen mit Vorgärten in ruhiger stadtnaher Lage hatte der Investor Georg Haberland (2) hier errichtet und wohnte selbst in der Haberlandstraße. Gegenüber hatte Albert Einstein eine 7-Zimmer-Wohnung, hier besuchten ihn unter anderem Carl von Ossietzky, Charlie Chaplin, Max Liebermann, Frank Kafka, Heinrich Mann, Max Planck. Der Theaterkritiker Alfred Kerr, der Psychoanalytiker Erich Fromm, der Dichter Gottfried Benn, der sozialdemokratische Politiker Rudolf Breitscheid waren weitere prominente Bewohner des Viertels. Einsteins Haus ist ausgebombt, am Balkon des Nachfolgebaus hat ein Bewohner mit feinem Witz die Formel "E = m * c2" plakatiert.

Orte des Erinnerns
Wie im Alltag die jüdischen Mitbürger unterdrückt wurden, die nebenan in der Stadt wohnten und Teil dieser Stadt waren, wird durch Schilder an den Laternenmasten rund um den Bayerischen Platz sichtbar, geradezu fühlbar gemacht. Achtzig Verordnungen sind hier zusammen getragen, die das jüdische Leben jeden Tag einschränkten. 1940 werden Telefonanschlüsse abgeschaltet, 1941 dürfen Juden auch keine öffentlichen Fernsprecher mehr benutzen. Ab 1938 dürfen jüdische Kinder nicht mehr mit arischen spielen. Ebenfalls 1938 werden Juden von Badeanstalten und Schwimmbädern ausgeschlossen und 1942 von öffentlichen Verkehrsmitteln, in Sport-, Turn- und Gesangsvereinen können sie schon seit 1933 nicht mehr Mitglied sein.

Seit 1940 dürfen sie Lebensmittel nur noch nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr einkaufen, ab 1942 erhalten sie keine Eier und keine Frischmilch mehr. Jüdische Ärzte dürfen schon seit 1938 nicht mehr praktizieren, Beamte, Richter und Lehrer werden schon 1933 entlassen. Beim Lesen solcher Anordnungen fragt man sich unwillkürlich, wie man selbst damit zurecht kommen würde und fängt an zu begreifen, wie schon vor dem Mord an den Juden ihre Würde und ihr Lebensrecht täglich verachtet wurde. Auf der Rückseite der Schilder sind naive Motive und Piktogramme angebracht, ein sichtbarer Kontrast der Anordnungen zum "normalen" Leben. Die Schilder sind unerreichbar in drei Meter Höhe angebracht. Das ist ein Schutz gegen Beschädigung, kann aber auch für die faktische Unangreifbarkeit dieser Verbote stehen.

Synagoge
Die Synagoge in der Münchener Straße wurde im Krieg nur wenig beschädigt, 1956 hat man sie abgerissen, eine jüdische Gemeinde, für die dieses Gotteshaus stand, gab es nicht mehr. Aus heutiger Sicht irritiert dieser Abriss, wie es dazu kam, wird in heutigen Publikationen nicht mehr erörtert, lediglich die Tatsache unkommentiert berichtet. Jetzt steht der Erweiterungsbau einer Schule auf diesem Grundstück. In dieser Löcknitz-Grundschule ist aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit ein weiterer eindringlicher und eindrücklicher Gedenkort entstanden.

Die Schüler erarbeiten Denksteine, die im Schulhof zu einer ständig wachsenden Mauer aufgeschichtet werden, 2003 waren es 500 Steine. Auf einen gelben Mauerstein schreibt der Schüler den Namen eines im Dritten Reich umgebrachten jüdischen Mitbürgers, der denselben Vornamen hatte, im selben Haus wohnte, der an Geburtstag des Schülers umkam oder mit dem eine andere Verbindung besteht. Inzwischen sind Zeitzeugen auf die Denksteine aufmerksam geworden, Angehörige der Ermordeten haben hier den einzigen Ort für Ihre Trauer entdeckt, weil hier deren Name steht.

Das Bayerische Viertel
Der Bayerische Platz ist vom Kurfürstendamm weniger als zwei Kilometer entfernt, eine ideale Lage, um für eine gehobene und zahlungskräftige Bürgerschaft ein repräsentatives Wohnviertel anzulegen. Salomon Haberland hatte 1900 bereits am Viktoria-Luise-Platz Straßen und einen Schmuckplatz angelegt, um den großzügig ausgestattete Wohnbauten entstanden (3). Das Bayerische Viertel war ein weiteres Projekt. Seine von seinem Sohn Georg geleitete Berlinische Bodengesellschaft schuf ein vornehmes Wohnumfeld, mit großen Wohnungen, Vorgärten und schmuckvollen Fassaden.

Es gab keine Quergebäude im Hof, nur Seitenflügel, und keine Kleinwohnungen, die nur auf den Hof hinausgingen. Mehrere Straßen, die auf den Platz zuliefen, bildeten nicht nur Sichtachsen, sondern ergaben wegen der höheren Preise von Eckgrundstücken auch eine gute Rendite. Kommerzienrat Haberland war "allmächtige Direktor der Berlinischen Bodengesellschaft und Herr über die meisten Grundstücke im Bayerischen Viertel", berichtet der Berliner Chronist Kurt Pomplun.

Zu allmächtig, befanden um 1910 der Schöneberger Bürgermeister und seine Stadtoberen und wollten mit einer Wertzuwachssteuer die hohen Gewinne aus den Grundstücksgeschäften teilweise abschöpfen, was wiederum Haberland dazu brachte, sich zeitweise mehr um seine Besitzungen in Wilmersdorf (Rheingauviertel) und Tempelhof (Tempelhofer Feld) zu kümmern (4). Natürlich hat man sich dann arrangiert, die Stadt und der Investor, das war damals so und das ist auch heute so, schließlich ist man aufeinander angewiesen. Wenn allerdings eine Stadtbaudirektorin gar nicht erst versucht, ihren Einfluss geltend zu machen, so lange der Investor sich an formale Vorgaben wie Baumassenzahl, Grundflächenzahl und Geschossflächenzahl hält, dann kann wie aktuell zu beobachten (und zu beklagen) eine fade Rendite-Architektur ohne gestalterische Höhepunkte auch in exponierten Lagen um sich greifen.

U-Bahnhof
Die Benennung der Straßen und des Platzes im Bayerischen Viertel geht auf eine Idee Georg Haberlands zurück. Der 1910 eröffnete U-Bahnhof wurde entsprechend blau-weiß gestaltet, auch Rainer Rümmler hielt sich an diese Farbgebung, als er 1970 den Kreuzungsbahnhof für die Spandauer Linie anlegte. Steinpfeiler und schmiedeeiserne Gitter des ursprünglichen Bahnhofs finden sich noch am Ausgang Westarpstraße. Über die "klobige Scheußlichkeit des überflüssigen U-Bahngebäudes" hatte ich mich früher geäußert (5), inzwischen habe ich verstanden, dass die "Nachkriegsmoderne" eine eigenständige Epoche der Architektur ist, die ihren Platz verdient, auch wenn ihre Ästhetik uns heute fremd ist. Es ist wie mit dem Nierentisch, der die Dynamik und Ausdrucksform der Aufbaujahre nach dem Krieg repräsentiert, ohne dass man ihn sich heute ins Wohnzimmer stellen wollte.

Bayerischer Bär
Von den Bauten am Platz war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel übrig geblieben, durch die Begradigung der Grunewaldstraße wurde auch die Figur des Platzes zerschnitten. 1958 spendeten die sonst gegen Preußen eher zurückhaltenden Bayern der Inselstadt West-Berlin einen Bayerischen Bären, der nicht wie zu erwarten gen München grüßt, sondern seine kämpferische Pranke Richtung Osten erhebt, dort, wo in der anderen Halbstadt die kommunistischen Brüder saßen.

Der Berg von Schöneberg
Wo liegt eigentlich der Berg von Schöne"berg"? Schöneberg hat(te) Berge, aber den Namen brachten die Siedler aus Sconenberch mit, die im Zuge der Ostkolonisation von den Kurfürsten gerufen wurden, um das ehemals slawische Land zu besiedeln. Sie hatten sich auf dem Teltower Höhenzug niedergelassen, der das Berliner Urstromtal im Norden begrenzt (6). In der Nähe gab es eine kleine Erhebung, den Mühlenberg, der im Zuge des U-Bahnbaus abgetragen wurde, sein Sand landete im Rudolph-Wilde-Park. Heute steht auf der kaum noch sichtbaren Anhöhe "Am Mühlenberg" ein Wohnhochhaus.

Kirche Zum Heilsbronnen
Die 1904 gebaute Kirche Zum Heilsbronnen ist ein mächtiger Backsteinbau, der durch die Einfügung in die Straßenfront der Wohnhäuser Leichtigkeit bekommt. Nur der rechteckige Turm mit dem Satteldach und dem Laternentürmchen überragt die umliegende Bebauung. Im Innern ist sie praktisch ein Neubau, weil die Kirche 1943 ausbrannte. Farbige Glasfenster mit biblischen Motiven, die Taufkapelle, Mosaiken im Boden wurden neu geschaffen.

Erziehen heißt gewöhnen
Die Georg-von-Giesche-Schule an der Hohenstaufenstraße markiert das Ende unseres heutigen Spaziergangs. Nehmen wir uns Zeit, etwas über diese Schule zu erfahren, die auch Marcel Reich-Ranicki besucht hat, als sie noch Werner-Siemens-Realgymnasium hieß und von dem klugen Pädagogen Wilhelm Wetekamp geleitet wurde, der die Freiheit der Schüler zum pädagogischen Prinzip erhob, weil wahre innere Disziplin nur in Freiheit gedeihen kann. "Erziehen heißt gewöhnen, gewöhnen aber setzt Geduld und Arbeit voraus".

Und die Schüler waren so frei und forderten 1928 "die freie Liebe zwischen den Geschlechtern und die Möglichkeit zum freien Bekenntnis der gleichgeschlechtlichen Liebe für Schüler vom 16. Lebensjahr". Als sie Unterschriften zu diesem Thema öffentlich sammelten, beschäftigte sich sogar der Preußische Landtag damit. 1935 wurde die Schule aufgelöst, die Hälfte der Schüler und viele Lehrer waren Juden. Die 10 Erziehungsgrundsätze sind auch heute noch aktuell, sie sind auf der Homepage der Giesche-Schule nachzulesen.

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(1) Mehr über Jüdisches Leben in Berlin: Jüdisches Leben in Berlin
(2) Georg Haberland: Haberland, Georg
(3) Viktoria-Luise-Platz: Viktoria-Luise-Platz
(4) Rheingauviertel: Rüdesheimer Platz
(5) U-Bahnhof Bayerischer Platz: Nachdenkliches an der Stundensäule
(6) Urstromtal: Urstromtal


Sei gegrüßt, Friedenau!
Festival of Lights in der Tauentzienstraße