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Ein Stadtteil für die Wäsche


Stadtteil: Köpenick
Bereich: Spindlersfeld
Stadtplanaufruf: Berlin, Ernst-Grube-Straße
Datum: 19. Juni 2012

Im Jahre 1832 gründete Wilhelm Spindler in der Burgstraße in Berlin-Mitte eine Wäscherei und Färberei, die später einen ganzen Ortsteil von Köpenick prägen sollte. 1832 - was war das für ein Jahr? Im Spindlerschen Gründungsjahr waren Auto, Personenaufzug, Glühbirne, Schreibmaschine noch nicht erfunden, das Periodensystem der Elemente noch nicht entdeckt. Für eine "optische" Telegraphenlinie nach Koblenz wurden gerade Signalstationen auf der Alten Sternwarte und auf der Dahlemer Dorfkirche installiert. Goethe veröffentlichte Faust II und starb in diesem Jahr. In New York fuhr die erste Straßenbahn der Welt, eine Pferdebahn. Und 1832 war das Geburtsjahr des modernen Griechenland. Die Griechen hatten sich nach 400 Jahren vom "Türkenjoch" (dem Osmanischen Reich) befreit, England, Frankreich und Russland setzten Otto I. - den Sohn des Bayern Ludwig I. - als griechischen König ein.

Mit dem Namen Spindler verbinden sich heute der Ortsteil Spindlersfeld und - weitgehend unbekannte Zusammenhänge - ein Brunnen, ein Fremdenverkehrsort in Thüringen, der Müggelturm und eine Kultur der Bronzezeit. Die bemerkenswerte Unternehmensgeschichte begann zur gleichen Zeit wie die Industrialisierung in Deutschland, der Begriff "Industrielle Revolution" wurde allerdings erst später geprägt. In einer Annonce warb der 22-jährige Firmengründer Wilhelm Spindler bei "den geehrten Herren Seidenwaaren-Fabrikanten und Seidenhändlern ergebenst“ für seine kleinen Manufaktur und empfahl sich "dem geehrten Publikum im saubersten Waschen von Shawls und Glätten von Kattunkleidern“. Zehn Jahre später zog er in die Wallstraße um, die Gebäude des heutigen "Spindlershofes" wurden allerdings erst nach 1900 errichtet. Die Seidenfärberei hatte er in Paris gelernt, 1854 richtete er die erste chemische Reinigung in Deutschland ein. 40 Jahre nach der Gründung war das Unternehmen so stark expandiert, dass es an der Spree gegenüber der Köpenicker Altstadt ein neues Firmengelände von 50 Hektar - größer als Vatikanstadt - bebaute. Den vollständigen Firmenumzug erlebte Wilhelm Spindler nicht mehr, von seinen Söhnen führte Carl Spindler das Unternehmen zum Schluss als Alleininhaber weiter. Um 1900 hatte der Betrieb eine eigene Gasanstalt, Dynamomaschinen, Dampfmaschinen, Dampfpumpen, Dampfkessel, eine Fettdestillationsanlage und eine Benzinrückgewinnungsanlage. Spindler hatte die Zweigbahn von Schöneweide nach Spindlersfeld finanziert und bei der Köpenicker Amtsverwaltung durchgesetzt, dass der Name Spindlersfeld amtlich eingeführt wurde.

Als Spindler nach Köpenick kam, war hier bereits die "Waschküche" Berlins: Mehrere hundert kleine Lohnwäschereien arbeiteten hier. Henriette Lustig hatte 1835 diesen Dienstleistungszweig begründet, am Alten Markt 4 weist eine Gedenktafel darauf hin. Mit einer Kiepe auf dem Rücken soll sie zu Fuß zu ihrem ersten Kunden nach Charlottenburg (und natürlich wieder zurück) gelaufen sein. Es folgten ein Hundewagen als Transportmittel und schließlich ein Pferdegespann. Eine Enkelin berichtet, dass Henriette Lustig das Geld lose in der Schürzentasche trug. Den bei ihr beschäftigten Waschmädchen zahlte sie am Lohntag je 10 Taler - soweit konnte sie angeblich nur zählen. 17 Kinder hatte die Lustig, deshalb musste sie die Arbeit weitgehend von Waschmädchen erledigen lassen. Manches davon wird Legende sein, schließlich war sie ein Berliner Original, das zum Phantasieren anregt.

In den Spindlerschen Werken wurde auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen geachtet, außerdem standen den Arbeitern ein Badehaus für Wannebäder, ein Kindergarten und ein Erholungshaus für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung. Wilhelm Spindler hat als erster in Deutschland Werkswohnungen errichtet, um Arbeitskräfte für die weit von Berlin entfernt liegende Fabrik zu gewinnen. Der ehrgeizige Plan einer "Kolonie" wurde aber nur teilweise verwirklicht, in der Mentzelstraße und Färberstraße stehen die aus gelbem Backstein mit roten Backstein-Bändern errichteten Werkswohnungen und einzelne Villen für leitende Angestellte. In einem solchen werksbezogenen Industrieort war das Leben auf die Fabrik ausgerichtet. Es war eine groß-familiäre Sozialbeziehung, anders als die von Eckkneipe und Versammlungslokal geprägte städtische Umgebung der Arbeiter. Nicht nur gewerkschaftlich organisierte Arbeiter hatten Vorbehalte gegen die Verfügungsgewalt der Unternehmen über ihre Wohnverhältnisse, so dass Industriebetriebe später von werkseigenen Wohnungen abkamen und stattdessen den genossenschaftlichen Wohnungsbau förderten.

Carl Spindler hat nicht nur weitsichtig Investitionen, die seinem Unternehmen zu Gute kamen - wie den Bahnanschluss nach Spindlersfeld - finanziert, sondern sich auch als Mäzen hervorgetan. Der erste Müggelturm wurde durch seine Spende ermöglicht, am Spittelmarkt steht der von ihm gespendete Spindlerbrunnen. Dieser Renaissancebrunnen war ein Geschenk an die Stadt anlässlich des 50.Firmenjubiläums. Den sechseinhalb Meter hohen rosa Granitbrunnen hat Walter Kyllmann, ein Schwiegersohn Wilhelm Spindlers, mit entworfen. Der Brunnen ist mehrfach auf Wanderschaft gegangen: 1927 in den Volkspark Köpenick, 1981 zurück zum Spittelmarkt, 1991 bis 1997 wegen Reparatur abwesend, 2004 erneut entfernt und in einem Depot des Weddinger Grünflächenamtes zwischengelagert, 2007 wieder aufgestellt. Allerdings hat er jetzt keine Sichtbeziehung mehr zum Spittelmarkt, ein neues Bürohaus steht in der Sichtachse. Was tut Berlin nicht alles für seine Investoren!

Der Ort Tabarz in Thüringen hat ebenfalls von den Spindlers profitiert. Vater Wilhelm hatte hier seinen Sommersitz, Sohn Carl gründete ein "Fremdenkomitee" (Fremdenverkehrsverein) und mit anderen zusammen den Kirchenbauverein und den Thüringerwald-Verein. Deshalb findet man nicht nur an der Wilhelm-Spindler-Brücke in Spindlersfeld ein Spindler-Denkmal, sondern auch im thüringischen Fremdenverkehrsort Tabarz. Dass eine Kultur der Bronzezeit den Namen "Spindlersfelder Gruppe" erhielt, ist natürlich nicht dem Mäzenatentum der Fabrikherren zu verdanken, sondern der Tatsache, dass 38 Bronzenadeln und Schmuckteile 1892 bei Bauarbeiten auf dem neuen Firmengelände gefunden wurden.

Mit der dritten Generation endete das Spindler-Patriachat. Das Unternehmen wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und 1925 von Schering übernommen. In der DDR-Zeit sorgten erst VEB Blütenweiß , dann VEB Rewatex für saubere Wäsche. Der Maler Bert Heller hat den "geballten Reinlichkeitsdrang" in der Fabrik von nahem studiert und die Arbeiterinnen idealisiert zu "Blütenweißfrauen, die so fleißig wie charmant sind". Sein Bild nannte er "Zwei vom VEB Blütenweiß".

Heute sind die Spindlerschen Fabrikgebäude nur noch Ruinen, doch eine große Zukunft deutet sich mit Masterplan und modellhafter Visualisierung an: Aus den ehemaligen Industriebauten sollen "Spreelofts" werden, umgeben von Neubauten ("Spreetowers"). Diese "Spreeresidenzen" sollen eine Stadt am Wasser mit Bootsanlegern und mehr als 850 Eigentumswohnungen werden. Bisher wächst Gras auf dem Gelände, die Zaunelemente ermöglichen den ungehinderten und nicht durch Schilder verbotenen Zugang zum Gelände - erfahrungsgemäß ein Einfalltor für Vandalismus. Ob, wann und wie das ehrgeizige Projekt verwirklicht wird, ist schwer abzuschätzen. Ob der bisherige S-Bahnbetrieb für diesen Bewohnerzuwachs ausreicht, ist ebenfalls fraglich. Seit 2010 wird die Zweigbahn Schöneweide - Spindlersfeld im 20-Minuten-Takt im "Stichstreckenblock" betrieben, dabei kann immer nur ein Zug auf einem Gleis zwischen den drei Stationen unterwegs sein. Das spart Personal und Stellwerkstechnik, setzt aber der Taktfolge Grenzen und reicht zur Versorgung des Neubaugebiets wahrscheinlich nicht aus.

Zwischen Spindlersfeld und Adlershof liegt die Köllnische Vorstadt. Aus der Ansiedlung einer Maulbeerplantage zur Seidenraupenzucht (--> 1) entstand die Kolonie "Schönerlinde" mit zehn Häusern für Spinnerfamilien. Die Schönerlinder Straße aus den 1880er Jahren ist in seltener Vollständigkeit erhalten geblieben, so wie die 50 Jahre früher entstandene Marienstraße in Mitte (--> 2). An der Oberspreestraße steht die von Max Taut Ende der 1920er Jahre errichtete heutige Alexander-von-Humboldt-Oberschule. Die beigefarbenen Fassadenfliesen mussten einem grauen Putz weichen, aber die schwarz betonten Fensterkreuze und Fensterbänder sind erhalten geblieben. Die mächtigen Grabdenkmale auf dem evangelischen St. Laurentius-Friedhof erinnern nicht an Geheimräte oder Gelehrte, sondern an Handwerksmeister. Mehrere Bäckermeister und ein Fleischermeister sind hier verewigt, ein Klempnermeister bekam sogar ein tempelartiges Grabdenkmal.

Von hier aus sind es nur ein paar Schritte zum Barockschloss Köpenick. Es wurde sechs Jahre lang aufwendig saniert, jetzt lädt das kleine Schlosscafe die Flaneure zu Tisch. Nette kleine Karte, vernünftige Bedienung, hier haben wir uns gern niedergelassen.

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(1) Die Versuche, mit Maulbeerbäumen eine Seidenraupenzucht in Berlin aufzubauen, sind uns schon mehrfach im Stadtgebiet begegnet: Seidenproduktion
(2) Ensemble Marienstraße in Mitte: Berlins gefühlte Mitte


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