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Dorfanger ohne Dorf, Rathausstraße ohne Rathaus


Stadtteil: Köpenick
Bereich: Oberschöneweide
Stadtplanaufruf: Berlin, Firlstraße
Datum: 4. Februar 2019
Bericht Nr.: 645

Oberschöneweide hatte eine Rathausstraße, aber kein Rathaus. Die Straße heißt heute Griechische Allee und führt um einen Dorfanger, zu dem nie ein Dorf gehörte. Die Entwicklung lief ganz anders, vom Bauerngut zum Industrieort, ein Dorf kam dabei nicht vor: Es gab hier im 17. Jahrhundert einen Quappenkrug mit Ausschank, aus dem später der Wilhelminenhof wurde, ein Vorwerk (Landgut).

Eine Terraingesellschaft - die Grundrentengesellschaft - kaufte 1889 den Wilhelminenhof und das umliegendes Land, legte Straßen an, parzellierte das Gelände und beantragte die Bildung einer neuen Landgemeinde. Dann kamen die Rathenaus und bauten ab 1890 die schöne Weide an der Spree zur AEG-Stadt aus, so wie später Siemens in Siemensstadt und Borsig in Borsigwalde. Entlang der Spree erstrecken sich an der Wilhelminenhofstraße die Industriekomplexe mit Gebäuden aus gelbem Klinker, einer "Schauseite" der industriellen Architektur, die uns heute noch beeindruckt.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Wilhelminenhofstraße entstanden die ersten Arbeiterquartiere als geschlossene Baublöcke. Dieses ausgedehnte Gegenüber von Wohngebäuden und Industriearchitektur in derselben Straße ist eine städtebaulich einzigartige Konstellation. Eine Industriebahn entlang der Wilhelminenhofstraße und über die Stubenrauchbrücke stellte den Schienenanschluss nach Rummelsburg und Johannisthal her. Zu Anfang wurde die Bahn von Pferden und Zugochsen gezogen, so wurde die Industriebahn zur "Bullenbahn".

Übergangslos wurde der Ortsteil zur Stadt, nur im Ostend hatte es bescheidene Anfänge einer Villenkolonie gegeben. Das neue Stadtviertel an der Rathausstraße wurde aus der Retorte "wie an einem Dorfanger" angelegt. In diesem Siedlungsband zwischen Wilhelminenhofstraße und Wuhlheide entstand ein großstädtisches Wohnviertel für die Arbeiter und Angestellten des Industrieareals. 1895 lebten hier 600 Einwohner, bis 1910 stieg ihre Zahl auf 21.400.

Zu einer solchen Gemeinde gehört natürlich auch ein kommunales Zentrum mit Schulen, Kirchen, Amtshaus, Post, Feuerwehr und Marktplatz. Das Zentrum entstand rund um den "Dorf"anger. Im Bebauungsplan von 1902 war auch ein Rathaus nördlich des Angers vorgesehen, das aber nie gebaut wurde. Der Postbau von 1910 an der Ecke Schillerpromenade bezieht sich mit seinen spiegelgleichen Eckfassaden auf ein gegenüberliegendes Rathaus, erhielt aber nie eine architektonische Erwiderung.

Kirchen
Zwischen der katholischen Kirche "St.Antonius von Padua" und der evangelischen Christuskirche spannt sich der Bogen der ehemaligen Rathausstraße. Die Kirchen wurden 1907 und 1908 eingeweiht, bei der Christuskirche unterstützte Kaiserin Auguste Viktoria ("Kirchenjuste") die Realisierung.

Die Christuskirche hat eine ungewöhnlicher Gestalt. Dem massiven spätgotischen Backsteinbau fehlt das Himmelsstrebende, das die Gotik auszeichnet. Eine achtseitige Haube krönt den Turm mit vier mächtigen Fialen (kleinen Türmchen, "Töchterchen"). Die Dächer der vier Seitengebäude setzen weit unten an, dadurch ergeben sich mächtige Dachflächen. Die Kirche wirkt so erdverbunden, dass sie mit dem Heimatstil assoziiert wird. Die ortsansässige AEG sorgte- wie sollte es anders sein - für die Beleuchtung des Gotteshauses.


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Beide Kirchen haben freistehende Gemeindehäuser. Die Christuskirche erhielt ihr Gemeindehaus erst 20 Jahre später in der Zeit der Weimarer Republik. Der Bau mit expressionistischen Einflüssen steht mit der Kirche in keiner architektonischen Verwandtschaft. So wie dieses Gemeindehaus sind viele andere Gebäude im Einzugsgebiet der Rathausstraße erst nach Ende des Ersten Weltkriegs gebaut worden. Damit erklärt sich auch, warum der Rathausbau unterblieb: zwei Jahre nach Kriegsende wurde Oberschöneweide ein Teil von Groß-Berlin, da brauchte es kein eigenes Rathaus mehr.

Griechische Allee
Der Straßenname Griechische Allee für die frühere Rathausstraße verstört etwas, was hat Oberschöneweide mit Griechenland zu tun? Dafür verantwortlich waren mehrere Aktionen der Nazis, um die Waffenbrüderschaft oder ideologische Verbundenheit mit anderen Ländern durch Straßennamen zu bekräftigen. 1937 war es hier Griechenland, vorher 1935 Bulgarien (Bulgarische Straße in Treptow) und nachher 1939 Spanien wegen der Teilnahme der Legion Condor am Spanischen Bürgerkrieg (Spanische Allee in Zehlendorf).

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat niemand auf die Straßennamen reagiert, auch die "antifaschistische" DDR nicht. Jetzt wollen wir der grassierenden political correctness keinen Anlass geben für weitere Straßenumbenennungen, es gäbe ja noch mehr Problematisches: Viele heute noch bestehenden Benennungen in der Stadt triumphierten über den unterlegenen "Erbfeind" Frankreich. Beispielsweise rund um die Kollwitzstraße im Prenzlauer Berg und im Steglitzer Stadtparkviertel, was wäre das für ein Umbenennungschaos in der Stadt.

Siemensstraße
Noch eine merkwürdige Straßenbenennung ganz anderer Art: 1896 wurde die Siemensstraße angelegt als Verlängerung der Rathausstraße. Angeblich sollte mit dem Straßennamen "das Engagement von Siemens für die Ansiedlung von Fabriken" geehrt werden, doch Siemens hat in der AEG-Stadt keine eigenen Aktivitäten entfaltet. Erst fast 40 Jahre später siedelte sich mit Telefunken ein Unternehmen an, an dem Siemens beteiligt war, zusammen mit der AEG.

Marktplatz
Der Bebauungsplan von 1902 legte kein Schachbrettmuster für die Straßen fest, sondern fließende Linien. Mit geschwungenem und organischem Fluss richten sie sich auf die zentrale Rathausstraße aus. Auf deren Mittelinsel wurde ein Park angelegt (heute Griechischer Park). Mit einem Marktplatz beginnt der zentrale Bereich an der Edisonstraße. In die grauen Mosaiksteine des Marktplatzes wurden einzelne dunkle Steine eingefügt, um die Standorte der Marktstände zu markieren. Die als moderne Ergänzung in Reihe ausgerichteten Granitbänke mit schmalen und breiteren Holzauflagen wirken in Material und Anordnung befremdlich. Dem Ziel, "die Aufenthaltsqualität sichtbar zu steigern", werden sie wohl eher nicht gerecht.

Die Schulen
Sechs Schulen im Zentrum von Oberschöneweide legen Zeugnis davon ab, dass mit der rasant steigenden Einwohnerzahl des Industriegebiets die Unterrichtung der wachsenden Zahl von Schulkindern immer neue bauliche Aufgaben stellte. Südlich der Christuskirche wurden in einem Straßenkarree vier Schulen errichtet. Im Zentrum an der Rathausstraße und im Ostend entstanden zwei weitere Schulhäuser.

Das älteste Schulhaus von Oberschöneweide - das verwirrenderweise als 4. Gemeindeschule gezählt wird - entstand bereits 1897, als die Landgemeinde noch nicht bestand. Es liegt an der Plönzeile, dort war damals der Rand des von der Grundrentengesellschaft entwickelten Areals. Durch weitere Schulbauten entstand angrenzend der Schulkomplex Firlstraße.

Drei weitere Schulen sind dort in den Jahren 1905 bis 1911 fertiggestellt worden, zuerst 1905 ein Lyzeum, eine höhere Mädchenschule. 1908 kam dann der Gemeindebaurat J. Th. Hamacher ins Spiel.

Er entwarf in der Kottmeierstraße im Schulkarree eine Gemeindeschule, die - warum auch immer - offiziell als 1. gezählt wird. Sie ist der prominente Bau, den man als erstes sieht, wenn man von der Christuskirche her kommt. Ein markantes Gebäude, die Fassade mit Lisenen (angedeuteten Pfeilern) gegliedert, die Eingänge mit Sandsteinelementen im Renaissancestil umbaut.


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Hamacher hat noch zwei weitere Schulen in Oberschöneweide gebaut. Unmittelbar neben dem geplanten Rathaus 1911 ein Realgymnasium in der Zeppelinstraße und 1907 in Ostend die 3. Gemeindeschule Oberschöneweide. Die Villenkolonie Ostend hatte sich nicht entwickeln können, sie sollte mit der Schule und anderen Bauten an das städtische Wohngebiet angegliedert werden.

Der Gemeindebaurat J. Th. Hamacher hat einige Jahre beim Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann gearbeitet, der ab der Jahrhundertwende eine Vielzahl kommunaler Bauten errichtet hat. Bei Hamann ist es wie bei seinem Kollegen, dem Amtsbaumeister Paul Opitz in Tempelhof: Die Werke werden dem Baumeister zugeordnet, über seinen Lebenslauf findet sich in den allgemein zugänglichen Quellen wenig oder gar nichts.

Siedlungen und Wohnhäuser
Zwischen der zentralen Rathausstraße und der Wuhlheide legte die Gemeinnützige Bau-Aktiengesellschaft Oberschöneweide (Gebag) in den 1920er und 1930er Jahren die Fontanehof-Siedlung an. Den zwei- und dreigeschossigen Reihenhäusern mit Mietergärten im ersten Bauabschnitt folgte eine viergeschossigen Blockrandbebauung mit Vorgärten und großzügigen grünen Innenhöfen. Diese Großzügigkeit zeigt sich auch an den Gebäudeecken, die sich hinter einer platzartigen Aufweitung des Gehwegs zurücknehmen.

Den ersten Abschnitt dieses Reformsiedlungsbaus mit den Reihenhäusern hat der Architekt Jean Krämer realisiert, den wir als Schöpfer stützenfreier Hallen für die Straßenbahndepots kennengelernt haben. Auch ein Wohnhaus für die "AEG-Beamten" an der Schillerpromenade hat Krämer erbaut. Jean Krämer war jahrelang Atelierleiter bei Peter Behrens, dem Hausarchitekten und Designer der AEG. Wahrscheinlich ist Krämer über diese Verbindung Auftragnehmer der AEG geworden.

Die Berlinische Baugesellschaft errichtete an der Goethestraße/Parzevalstraße eine Wohnanlage, die dem geschwungenen Straßenverlauf mit einem parabelförmigen Grundriss folgt. Unter dem auskragenden Flachdach blicken winzige Zweier-Fenster wie Augen vom Dachboden. Waagerechte weiße Farbbänder betonen die Fassade, sie werden als "Sinnbilder des rasanten großstädtischen Lebens" gedeutet. Wir erleben bei unserem Rundgang Oberschöneweide ebenfalls großstädtisch, dabei aber gleichzeitig - an der Fontanehof-Siedlung stehend - als ruhig, fast beschaulich. An der Wilhelminenhofstraße, Edisonstraße oder der Straße An der Wuhlheide geht es natürlich rasanter zu.

Der Zufall wollte es
Rückfahrt mit der U-Bahn: Ein Mann mit einem Schoßhündchen setzt sich auf einen freien seitlichen Zweier-Klappsitz. Einige Stationen später wird der Platz neben ihm frei, ein weiterer Mann mit Schoßhündchen kommt herein und setzt sich neben ihn. Beide Hündchen sitzen sich Aug in Aug gegenüber. Ihnen sträubt sich das Fell, doch dann entscheiden sie sich für friedliche Koexistenz. Die beiden Männer kennen sich nicht, sind aber verwandte Seelen. Sofort sind sie im Gespräch, später krault der eine das Schoßhündchen des anderen. Schade, dass ich aussteigen muss.


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Setzen Sie den Spaziergang hier fort: Die schöne Weyde an der Spree
Zur angrenzenden Wuhlheide kommen Sie hier: Keine Schienen auf dem Bahndamm
Und nach Niederschöneweide hier: Volkseigenes Bier

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Unsere Route:
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Berlin an der Dahme
Geschichte kann man nicht erfinden