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Naturapostel in griechischen Hüllen


Stadtbezirk: Zehlendorf
Bereich: Schlachtensee
Stadtplanaufruf: Berlin, Marinesteig
Datum: 16. Mai 2011

Am Marinesteig in Berlin-Schlachtensee haben drei Männer gewohnt, die mit ihren Taten Geschichte geschrieben haben. Der erste (in der Reihenfolge des Auftritts auf der Bühne der Weltgeschichte) war Gustav Kleikamp, Kapitän zur See und Befehlshaber auf dem Kriegsschiff „Schleswig Holstein“. Am 1. September 1939 löste er den Zweiten Weltkrieg aus, als er von Danzig aus auf Hitlers Befehl die Westerplatte beschoss, eine nahe gelegene polnische Halbinsel, auf der sich ein Munitionsdepot befand.

Der zweite in dieser Reihe, Hans Wilhelm Langsdorff, Kommandant des Panzerschiffes „Admiral Graf Spee“, zeigte mit seinem Verhalten im zweiten Weltkrieg, dass es auch noch gute Deutsche gibt. Eintausend lebende junge Männer zählten für ihn "mehr als tausend tote Helden", deshalb beendete er nach irreparablen Gefechtsschäden den mehrwöchigem Kreuzerkrieg in der Mündung des Rio de la Plata mit der Versenkung seines Kriegsschiffes und evakuierte die Besatzung nach Buenos Aires. Schon vorher hatte er mit der Gefangennahme englische Seeleute ritterlich gehandelt und sich damit auch beim Kriegsgegner Anerkennung erworben. Dass die Nazis sein Verhalten militärisch als Hochverrat ansehen würden, war ihm wohl bewusst, in Buenos Aires beendete er selbst sein Leben. Er erschoss sich, "auf der kaiserlichen Reichskriegsflagge liegend". Dies war wohl keine pathetische Geste, sondern eine Art Abschiedsbrief, mit dem er bekräftigte, dass er für und nicht gegen sein Vaterland gehandelt hat. Mit der kaiserlichen Flagge machte er klar, dass das Nazireich nicht sein Vaterland war.

Von 1955 bis 1964 lebte Willy Brandt mit seiner Familie in einem Reihenhaus am Marinesteig (1). 1957 wurde er Regierender Bürgermeister, 1966 Außenminister und 1969 Bundeskanzler (1a). Er hat den Weg zur Wiedervereinigung begonnen, seine große menschliche Geste des Kniefalls in Warschau ist unvergessen. Er konnte eine Gruppe, eine Menge von Menschen mitreißen, begeistern und lenken, sein Privatleben war dagegen von Einsamkeit und Distanziertheit geprägt. Kanzleramtsminister Horst Ehmke beschrieb, wie er einmal - mit einer Rotweinflasche und zwei Gläsern in der Hand - Brandt zu Hause aus seiner Depression riss mit der Aufforderung: „Willy, aufstehen, wir müssen regieren". Und Lars Brandt, einer der Söhne, beschreibt in einem Buch, wie unerreichbar sein Vater war, der Briefe an ihn immer mit "V." unterschrieb.

Die Marinesiedlung, die zu all diesen Assoziationen angeregt hat, liegt am südlichen Ufer des Schlachtensees, sie ist der Ausgangspunkt unseres heutigen Spaziergangs. Ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde sie von einer „Gemeinnützige GmbH für Schaffung von Wohngelegenheiten von Reichsangehörigen“ errichtet, wer hier lebte war beispielsweise Vizeadmiral, Kapitänleutnant, Fregattenkapitän, Korvettenkapitän oder Marineoberbaurat. Es werden ab Kriegsbeginn wohl eher ihre Familien gewesen sein, die die Häuser in parkähnlicher Umgebung nahe am See genießen konnten, denn die Offiziere waren im Krieg. Die denkmalgeschützte Siedlung ist restauriert worden, an Willy Brandts bescheidenem Haus hängt seit seinem 90.Geburtstag eine Gedenktafel.

Für den Bau der Marinesiedlung wurde "Schloss Schlachtensee" abgerissen, eins von drei Ausflugslokalen (Alte und Neue Fischerhütte waren die beiden anderen). Diese Lokale zeugten von dem enormen Ausflugsverkehr zum Schlachtensee. Die heutige "Badewiese mit eigenem S-Bahn-Anschluss" war ehemals der "Seepark" und eine Badeanstalt gab es auch. Zwei Motorschiffe kreuzten den See, heute ist nur noch ein Bootsverleih vorhanden. Bei gutem Wetter sind viele Spaziergänger, Radfahrer, Hundebesitzer, Jogger auf dem fünfeinhalb Kilometer langen Rundweg ums Wasser unterwegs.

In der Seestraße (heute Am Schlachtensee) - in der Nähe von Rudolf Steiners Wohnung - etablierte sich ab 1902 für kurze Zeit die "Neue Gemeinschaft", ein lebensreformerisches, genossenschaftliches Projekt mit gemeinsamer Küche, einem bedürfnislosen Lebensstil und einfacher Kleidung, hervorgegangen aus dem Friedrichshagener Dichterkreis (2). In dem ehemaligen Sanatorium mit 30 Zimmern gab es Ateliers und eine Bibliothek, auf dem Grundstück eine Freilichtbühne. Else Lasker-Schüler verkehrte hier, auch wenn sie eine Aversion gegen "Naturapostel in griechischen Hüllen" hatte (von ihr auch "Wanderfledermäuse" tituliert).

Hochherrschaftlicher als in der Marinesiedlung geht es in der Terrassenstraße, am Schlickweg und Elvirasteig zu, soweit nicht nach Kriegs-zer-störung ver-störend banale Bauten in die Lücken gesetzt wurden. In der Terrassenstraße 25 steht das älteste Haus des Seeviertels, 1895 erbaut. Hermann Muthesius hat am Schlickweg zwei Villen errichtet (Haus-Nr. 6 und 12). Ein Haus der „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“ Hellerau steht Terrassenstraße Ecke Elvirasteig.

Anders als vielleicht zu vermuten verweist der Name Schlickweg nicht auf schlammartigen Boden, sondern auf den Begründer des böhmischen Silberbergbaus Graf Stefan Schlick.

Von Schlachtensee-Ost ist es nur ein kurzer Fußweg bis zum Mexikoplatz (3), wo wir italienisch essen, bevor wir in die S-Bahn steigen.

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(1) Vorher wohnte Brandt in der Trabener Straße: Zwei Piloten und ein Bürgermeister
(1a) Mehr über Willy Brandt: Brandt, Willy
(2) Friedrichshagener Dichterkreis: Siedlung für Spinner
(3) Mehr über den Mexikoplatz: Mexikoplatz

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Unsere Route
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Villen am Stolper Loch
Kiefern und Heidegestrüpp