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Strickapparat für die nimmermüde Hausfrau


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Wittenau Ost
Stadtplanaufruf: Berlin, Blunckstraße
Datum: 23. Januar 2023
Bericht Nr.:796

Im Komponistenviertel werden Komponisten durch Straßenbenennungen geehrt, im Dichterviertel die Wortkünstler, aber wie ist das im Architektenviertel? Geht es da um die Namenspatrone der Straßen, oder um die Bauwerke in diesem Viertel? Wir brauchen uns darüber keine Gedanken zu machen, denn es gibt keinen Kiez, der "Architektenviertel" genannt wird. Wohl wegen dieser Uneindeutigkeit der Benennung.

"Architektenviertel"
Dabei hätte ein Kiez in Wittenau-Ost, der nördlich der S-Bahn zwischen Roedernallee und Oranienburger Straße liegt, diesen Namen verdient. Nur zwei der 12 Straßen sind nicht nach Architekten benannt. Alle Architekten sind nur mit dem Nachnamen angegeben, also konsequent ohne Vornamen. So kann man rätseln, ob Heiligenthal eine landschaftliche Vertiefung ist, ob am Weinbrennerweg Schnaps gebrannt wurde und ob die Sittestraße mit Moral zu tun hat. Die Benennung erfolgte auch nicht aus einem Guss, die Namen sind zwischen 1921 und 1962 festgelegt worden. Und fast jeder in einem anderen Jahr, so als hätte man sich immer wieder daran erinnert, dass das hier ein Architektenviertel werden soll.

Bei der Henricistraße hat der Straßenführer Kaupert gleich zwei Vorschläge parat, wer hier gemeint sein könnte. Angeboten wird ein "Kolonialabenteurer und antisemitischer Politiker" dieses Namens, "möglich ist aber auch" ein Stadtplaner und Architekt, der diesen Nachnamen trägt. Ein Blick auf die Erläuterung am Straßenschild benennt wie im Kiez zu erwarten den Architekten, dem Straßenführer sei ein Ausflug empfohlen.


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Flötnerstraße
Auf Epochen oder Baustile wurde bei der Straßenbenennung nicht geachtet, 400 Jahre liegen zwischen den Lebensdaten der Baumeister, die Namensauswahl scheint zusammenhanglos. Ordnen wir es für uns und beginnen mit einem indirekten Rückgriff auf den römischen Architekten Vitruv, der 33 vor Christus seinem Kaiser Augustus ein 10bändiges Lehrbuch über die Architektur widmete. Jeder Architekturstudent kennt die von Vitruv genannten Anforderungen an die Architektur: Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit). Der 1490 geborene Architekt Peter Flötner übersetzte das Werk ins Deutsche und wurde damit der "Bahnbrecher für italienische Baukunst im Norden". Vitruv und die italienische Baukunst waren durch ihn in aller Munde.

Camillo Sitte, Karl Henrici
Auch der Architekt Karl Henrici stützte sich auf ein Standardwerk der Architektur, das 1889 erschienene Buch "Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen". Sein Kollege und Freund, der Wiener Architekt Camillo Sitte, hatte mit diesem Werk die ästhetischer Qualitäten des Städtebaus betrachtet, ausgehend von der Schönheit antiker Städte: Den Platz als Forum des öffentlichen Lebens, gleichzeitig durch Geschlossenheit und Raum in der Mitte geprägt, und die Proportionen von Bauten und Plätzen zueinander.


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Er plädierte für unregelmäßige, nicht lineare Stadtgrundrisse, die er auch im Norden Europas insbesondere um Kirchenplätze fand. "Um den Stadtbau als Kunstwerk kümmert sich heute fast niemand mehr, er ist nur ein technisches Problem", war sein Befund, und leider ist Alexander Mitscherlichs einhundert Jahre später veröffentlichte Untersuchung über "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" eine Bestätigung dafür, dass dieser Zustand weiter anhält.

Karl Henrici propagierte anhand dieser Einsichten "malerische“ Architektur im Städtebau, wozu er auch Backsteinarchitektur zählte. Weg von Mietskasernen, hin zu individuellen Wohnbereichen und Gemeinschaftseinrichtungen mit individuellem Charakter und Stilformen. Städtebauliche Entwürfe für zehn Städte von Aachen bis München hat Henrici angefertigt, kaum einer wurde umgesetzt.

Joseph Maria Olbrich
In Böhmen 1867 geboren, in der Sezessionsbewegung des Wiener Jugendstils zu Hause, prägte der Architekt Joseph Maria Olbrich die avantgardistische Architektur seiner Zeit. Seine Entwürfe im "Pathos der Schlichtheit" zeigten, so lese ich, den "Ausdruck von Wahrheit und Würde". Persönlich liebte er einen luxuriösen Lebensstil, war immer elegant gekleidet mit Hut, Handschuhen und Stock. Das Ausstellungsgebäude der Wiener Secession in Wien hat er entworfen, Wohnhäuser in der Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe, in der selbst lebte, auch als Designer war er erfolgreich. Seine Beiträge auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis/USA führten zur Aufnahme in das Amerikanische Architekturinstitut.

Johann Jacob Friedrich Weinbrenner
Die italienische Architektur hat viele Architekten begeistert, eine Studienreise in das Land der Antike gehörte dazu, war ein "must". Auch für den 1766 geborenen Johann Jacob Friedrich Weinbrenner, einen "repräsentativer Vertreter des Klassizismus", war Italien ein Studienziel, aber auch die Schweiz, Ungarn, Böhmen hat er besucht - und unter deutschen Städten einen Abstecher nach Berlin gemacht. Sein beruflicher Wirkungskreis aber lag in seiner Heimatstadt Karlsruhe und in ihrem Umkreis.

Schmitz, Knauer, Brodersen, Blunck, Heiligenthal
Damit mein Bericht nicht zur Architekturvorlesung wird, hier kurzgefasst Hinweise auf weitere Namensgeber im Architekturviertel. Gigantisch und pathetisch sind die Monumente, die der Architekt Georg Bruno Schmitz in die Landschaft gestellt hat: das Völkerschlachtdenkmal und das Kyffhäuserdenkmal sowie die Kaiser-Wilhelm Denkmale an der Porta Westfalica und am Deutschen Eck in Koblenz. Bei so viel Pathos ist es erstaunlich, dass Schmitz auch ein Kleinod des Jugendstils mit Figuren voller Körperlichkeit entworfen hat, das Grabdenkmal für den Papierfabrikanten Max Krause auf dem Friedhof an der Bergmannstraße.

Hermann Knauer war Partner im Bauunternehmen Boswau & Knauer, einem Marktführer der deutschen Bauwirtschaft. Der Architekturentwurf des Theaters am Nollendorfplatz wird ihnen zugeschrieben, ansonsten haben sie Bauten nach Plänen anderer Architekten realisiert. Albert Brodersen war Landschaftsarchitekt, 14 Jahre lang verantwortete er als städtischer Gartendirektor in Berlin die Anlage von Gartenplätzen und Parkanlagen in der Stadt. Erich Blunck war Baumeister in Diensten der Stadt Berlin und Herausgeber der "Deutsche Bauzeitung". Blunck hat unter anderem das Gymnasium am Perelsplatz gebaut und die evangelische Kirche in Nikolassee, außerdem mehrere Wohnhäuser, Landhäuser und Villen.

Auch Roman Heiligenthal war Baubeamter beim Berliner Magistrat, zuständig für die Bauordnung und den Bebauungsplan. Er koordinierte den Ausbau des Messegeländes und den Bau des Funkturms. Im Dritten Reich war er Hochschullehrer in Karlsruhe. Dort publizierte Heiligenthal rassistische und antisemitische Texte zu einer "Beziehung zwischen Rasse und Wohnform". Nach ihm ist in Berlin nicht nur die Straße Heiligenthal in Wittenau benannt, sondern auch der Heiligenthalhügel am Mommsenstadion.

Heinrich Tessenow
Die Neuen Wache Unter den Linden ist in ihrem Wesen mehrfach dem Zeitgeist der herrschenden politischen Systeme angepasst worden. Das Gebäude gegenüber dem Opernplatz diente ursprünglich dem Wachpersonal für das Königliche Palais und enthielt eine Eingangshalle, eine Wachtstube, ein Offizierszimmer und eine Arrestzelle. Karl Friedrich Schinkel baute die Neue Wache gleichzeitig zu einem Gedenkort für den Sieg über die Franzosen aus. Die Befreiungskriege wurden mit einem Fries der Siegesgöttinnen und den flankierenden Standbildern von Scharnhorst und Bülow gefeiert.

Nach der Novemberrevolution 1918 war es vorbei mit der Monarchie, in der Weimarer Republik wurde aus dem Siegesdenkmal ein Gedenkort für die Opfer einer Niederlage. Der Architekt Heinrich Tessenow schuf einen Gedenkraum für die Opfer des Ersten Weltkriegs in voller Schlichtheit. Eine kreisrunde Öffnung der Decke zum Himmel wurde zum Himmelslicht, das für die Auferstehung stand. Glatte Wände aus Muschelkalk, der Fußboden aus Basaltlavasteinen, die Fugen mit Blei ausgegossen, in der Mitte des Raumes ein Stein aus schwarzem Granit mit Lorbeerkranz.

Die weiteren Wesensänderungen der Neuen Wache seien kurz angedeutet: In der Nazizeit wurde sie zum "Reichsehrenmal“: Mit der Einsicht in die Niederlage war es vorbei, die "Schmach von Versailles" sollte getilgt werden. Ehrenposten und Wachablösung bezogen Stellung vor dem Gebäude. Nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete die DDR die Neue Wache um zu einem "Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus" mit einer Schale aus Jenaer Glas statt des Tessenowschen Granitsteins und symbolischen Überresten unbekannter Häftlinge und Soldaten, das Himmelslicht wurde geschlossen.

Die letzte Metamorphose erlebte die Neue Wache nach der Wende. Die Bundesrepublik erklärte sie zur Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, stellte eine überdimensionierte Kopie der Pietà von Käthe Kollwitz in den Mittelpunkt und öffnete das Himmelslicht wieder.

Kehren wir nach diesem Ausflug in die Geschichte zurück zum Architektenviertel und seinen Bauten.

Thomaskirche / Full Gospel Church
Die Dorfkirchengemeinde Wittenau erhielt 1969 in der Blunckstraße mit der Thomaskirche ihr zweites Gotteshaus. Der Architekt Ludolf von Walthausen hat fünfzig Kirchen in Berlin errichtet oder ergänzt, nur eine ist als Denkmal geschützt. Dabei sind seine Entwürfe ungewöhnlich, ihre Formen und Ausprägungen hat er immer wieder neu entwickelt; Nachkriegsmoderne, die noch auf Entdeckung wartet. Die Thomaskirche in Wittenau hat eine breite Freitreppe und eine ungewöhnlich gegliederte und durchbrochene Fassade. Der Glockenturm ist mit senkrecht in die Höhe strebenden Holzrippen verkleidet.


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In den 1990er Jahren übernahm eine Freikirche der Pfingstgemeinde das Gotteshaus. Die Gemeinde wurde zum Ableger der weltgrößten Mega-Kirche aus Korea, für die heute in aller Welt 400 Pastoren und 500 Missionare tätig sind. Für den Kirchengründer David Yonggi Cho gehörte nicht nur die Sorge für das Seelenheil zum Dienst an den Menschen, auch der Wohlstand war nach seiner Auslegung Gottes Wille. Für seinen eigenen Wohlstand sorgte er, indem er zwölf Millionen US-Dollar des Kirchenvermögens veruntreute und Steuern hinterzog. In seinem Buch "Die Vierte Dimension" nimmt er den Leser mit "in eine neue Dimension von beantworten Gebeten und dynamischem Glauben, der Berge versetzt".

Kunststoff-Compoundeur
Auf dem ehemaligen Güterbahnhof Reinickendorf haben sich nach dem Krieg an der Thyssenstraße mit dem Gewerbehof Janol-City und dem Compoundeur BEGRA Fabrikationsbetriebe angesiedelt. Ein Compoundeur setzt Kunststoffe zusammen und fertigt alles, was man daraus herstellen kann, beispielsweise Kabel, Rohre, Stecker, Behältnisse für Kosmetikartikel. 70.000 Tonnen Hart- und Weich-PVC-Granulat werden jedes Jahr in dem Berliner Betrieb verarbeitet.

"Knittax"-Handstrickapparate
Die Gebäude der Janol-City gehörten anfangs einer Strickapparate-Fabrik. Im Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit entwickelte sich immer mehr Technik, die der Hausfrau die mühsame Arbeit erleichtern sollte. Die gewonnene Zeit konnten die Hausfrauen meist nicht für sich nutzen, weil im Haushalt immer etwas zu tun ist, sie mussten immer "fleißig" sein.

Zu den Segnungen jeder Zeit gehörten Strickapparate, mit denen sie Bekleidung für die Familie stricken oder in Heimarbeit etwas hinzuverdienen konnten. Der Handstrickapparat "Knittax" wurde zum Erfolgsprodukt, bis der Markt gesättigt war. Bereits nach 14 Jahren ging der Betrieb pleite, weil er sich nur auf dieses eine Produkt konzentriert hatte.


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Mandalas an Hauswänden
Oranienburg ist sechsmal auf Berliner Straßenschildern vertreten, dreimal als Straße, zweimal als Tor und jeweils einmal als Damm und als Brücke. Die Oranienburger Straße in Reinickendorf flankiert das Architektenviertel auf der westlichen Seite. Dort hat die Deutsche Wohnen an vier Wohnblocks jeweils eine Nordwand für Wandbilder zur Verfügung gestellt. Die kurdisch-iranisch stämmige Künstlerin Gita Kurdpoor hat für diese "Street Art Gallery" Mandalas gemalt, magische Kreise auf dunkelblauem Hintergrund. Es sind geometrische Formen und Muster, vervielfacht in Zahlensymbolik.

Außerhalb der Kreise finden sich immer wieder Tentakel, die von einem gelben Kreis ausgehen, der Farbe der Entfaltung und Erleuchtung. Gita Kurdpoor hat weitere Wandbilder erschaffen in Spandau, Rummelsburg und Charlottenburg. Die Mandalas hat sie freihändig gestaltet, ist immer wieder vom Gerüst gestiegen, um den Blick auf das Ganze zu haben. Begleitet vom Interesse der Anwohner, die ihr regelmäßig Verpflegung gebracht haben. Sie hat den Murals Namen gegeben, die in deutscher Übersetzung "Die 6 Sinne", "Der richtige Weg", "Mittelpunkt" und "Übergang" bedeuten.


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Ringelnatz-Grundschule
Die Ringelnatz-Grundschule ist ein Bau aus blau verkleideten Quadern. Die tanzsportbetonte Schule wirbt: "Motivierte und gut ausgebildete Lehrer freuen sich auf Ihr Kind in einer kreidefreien Schule". Wer möchte da nicht Schüler sein! Mit dem Namensgeber, dem Dichter Joachim Ringelnatz, hat die Schule ein gutes Vorbild gefunden. Er sei nicht einer der "guten" Jungen gewesen, schreibt er, an seinem Trotz sei manches wohlgedachte Wort zersprungen. Doch als Mann erkennt er, was einst der Knabe tat, und möchte den Lehrern dankbar, stumm die Hände drücken:

___Doch hast du, alter Meister, nicht vergebens
___An meinem Bau geformt und dich gemüht.
___Du hast die besten Werte meines Lebens
___Mit heißen Worten mir ins Herz geglüht.
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Unsere Route:
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Die Düne auf dem Schulhof