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Hoffnungsschimmer für die Städtebauer


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Märkisches Viertel
Stadtplanaufruf: Berlin, Eichhorster Weg
Datum: 5. März 2012

Eine Großsiedlung mit 12 Schulen, 7 Kindergärten, aber ohne Friedhof - da haben die Planer das intensive städtische Leben im Blick gehabt, das nie endet. Es waren die avantgardistischen Ideen, dass die Architektur (wieder einmal) neue Lebens- und Organisationsformen entwickelt, den Bewohnern eine neue moderne Identität "baut". Vergessen war die Erfahrung der Reformarchitektur der 1920er Jahre, als Bewohner ihre viel zu großen Möbel in die rationelle Wohnung zwängten und den alten Esszimmertisch in die Reformküche. Vergessen auch Bruno Tauts Enttäuschung über "Plüschsofaherrlichkeit und den ganzen Mottenkrimskrams" in seinen zweckmäßigen Bauten.

Das Märkische Viertel wurde 1963 bis 1974 als große deutsche Satellitenstadt erbaut, manche bezeichnen es auch als "Stadterweiterung". Es war "Berlins anregendster Beitrag zum Städtebau der Gegenwart" (Spiegel, 1970), ein "Hoffnungsschimmer für die Städtebauer in halb Europa" (BZ 1969). Hochhäuser mit bis zu 18 Geschossen sollten ein vielfältiges, aktives Leben mit mehr Kommunikation und damit intensives städtisches Miteinander bringen. "Urbanität durch Dichte" war das Leitbild, man verabschiedete sich radikal von der "aufgelockerten Stadt". Die Bebauung umfasst mit großer Geste weite Grünräume. Gestaffelte Gebäudeskulpturen und geschwungene Linienführung wirken organischer als langweilige parallele Hochhausriegel. An der Abbruchkante (beispielsweise am Eichhorster Weg) stehen sich alte Einfamilienhäuser und neue Hochhäuser gegenüber.

Das Märkische Viertel hatte keinen guten Start, weil man anfangs das Wohnumfeld vernachlässigt hatte. Der öffentliche Raum war unzureichend gestaltet, Versorgung und Dienstleistungen fehlten weitgehend. Die Bewohner lebten ein Jahrzehnt auf einer Großbaustelle, Baumängel traten die bei der Vielzahl von gleichen Gebäuden massenhaft auf. Eine Bewohnerin sagte, sie lebe in einer "Strafkolonie für den gehobenen Mittelstand" (Spiegel, 1969). Die ersten Bewohner waren Abrissmieter aus den innerstädtischen Sanierungsgebieten, die hierher verfrachtet wurden und den Umzug nicht als sozialen Aufstieg empfanden. Sie erlebten vielmehr den Umzug aus dem Kreuzberger oder Weddinger Milieu in die futuristische Hochhauslandschaft als Kulturschock. Die Massierung der Bewohner führte zur Isolation und zu sozialen Konflikten, das Viertel wurde zum Inbegriff des seelenlosen Städtebaus.

Die von der Wohnungsbauförderung vorprogrammierten Mieterhöhungen beunruhigten die Mieter. Es entwickelte sich eine breite Protestwelle in der Zeit der Studentenbewegung 1968. Der dokumentarische Spielfilm "Der lange Jammer" (Max Willutzki) über den Kampf einer Mieterinitiative gegen die Mieterhöhungen machte das Thema über den Kreis der Betroffenen hinaus publik. "Langer Jammer" wurde im ironischen Sprachgebrauch der Bewohner das längste und monotonste Hochhaus des Viertels genannt.

Heute ist aus dem „langen Jammer“ die "Champagnerburg" geworden, ein neues Farbkonzept belebt die Hausfassaden. In mehreren Phasen wurde die Siedlung saniert und energetisch modernisiert, die Hauseingänge erhielten pavillonartige Glas-Vorbauten. Aus Parkplätzen wurden Grünflächen, Bewohner können bei der Gesobau Gärten mieten, Gästewohnungen wurden eingerichtet. Die Wohnungsbaugesellschaft veranstaltet Bürgerforen, sie will ihre Mieter halten. Der Leerstand liegt mit weniger als fünf Prozent unter dem Berliner Durchschnitt. Allerdings ist die Fluktuation gestiegen, die durchschnittliche Wohndauer ging von 22 Jahren auf 5 Jahre zurück. Neu zugezogen sind in den letzten Jahren verstärkt Ausländer und Spätaussiedler. Dadurch stiegen die Arbeitslosigkeit und der Anteil ausländischer Kinder und Jugendlicher. Das bisher vorwiegend deutsche Milieu wird zunehmend multikulturell. Nicht alltäglich ist eine Begegnung im Hochhausflur, die so endet: "Türke ersticht Russen", auch wenn die Homepage des Viertels das als "multikulturellen Hochhausidylle" bezeichnet.

Wir sind bei unserem Besuch im Märkischen Viertel positiv überrascht, wie lebendig und attraktiv der Ortsteil geworden ist. Innerhalb der urbanen Zentren unserer Großstadt hat das Märkische Viertel seinen Platz gefunden. In der letzten Woche waren wir in Rosenthal bis zu den Gleisen der Heidekrautbahn gekommen, die die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin bildete, und hatten vom dörflichen Ambiente auf die Hochhäuser "im Westen" herüber geblickt, das war eine kaum zu überbietende starke Konfrontation zwischen Stadt und Land. Kaum noch vorstellbar, dass das Hochhausviertel auf der früherer bäuerlichen Rosenthaler Feldmark steht. Als die Bahnstrecke erbaut war, konnten die Bauern mehr mit Immobilien als mit der Bewirtschaftung ihrer Felder verdienen, also verpachteten sie die in kleine Parzellen aufgeteilte Fläche an Kleingärtner. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand hier - das Land gehörte inzwischen zu Wittenau, also Reinickendorf - der "grüne Slum von Wittenau". In der direkten Nachkriegszeit hatten Obdachlose in der Kleingartenkolonie ohne Strom, Wasserversorgung und Kanalisation Zuflucht gefunden, es war eine Kleinstadt der Bedürftigen. Heute ist das Märkische Viertel von der Einwohnerzahl her eine Mittelstadt wie Oranienburg oder Wismar, obwohl es verwaltungsmäßig nur als Ortsteil des Bezirks Reinickendorf geführt wird.

Im Einkaufscenter finden wir ein Café, bevor wir mit dem Bus zur U-Bahn Wittenau zurück fahren. Trotz vieler Versprechungen ist das Märkische Viertel nie direkt an das U-Bahnnetz angeschlossen worden. Die Linie 8 macht an der Residenzstraße einen großen Bogen um die Siedlung. Ein Berlin-Krimi nutzt das zu der Fiktion, ein geheimes Bergwerk sei der direkten Trasse im Weg gewesen. Tatsache ist, dass auch die Verlängerung der vorhandenen Strecke von Wittenau aus in Märkische Viertel nie über das Planungsstadium (und vielleicht ein paar Tunnelstummel unter einem Hochhaus) hinaus gekommen ist.

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> Über den Irrtum, dass avantgardistisches Bauen die Lebensformen der Bewohner ändert:
Plüschsofaherrlichkeit und Mottenkrimskrams und
Ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft

> Das Dorf Rosenthal, der Nachbar im Osten: Hier haben Türme keine Zukunft


Ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft
Ostwind und Nordlicht