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Besteigung der Borsigwalder Alpen


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Borsigwalde
Stadtplanaufruf: Berlin, Ernststraße
Datum: 24. Februar 2014
Bericht Nr: 453

Zweistöckige Wohnhäuser mit Fachwerkgiebeln, Backsteinflächen in der Fassade, Dekorfeldern im Putz, umrandete Fenstern mit Spitzbögen und Segmentbögen, jedes Haus individuell gestaltet, eine Kleinstadt-Idylle aus einer untergegangenen Epoche, und das mitten in Borsigwalde. Doch wenn man zur Bauzeit um 1900 hineinschaute: In jedem dieser schmalen Häuser gab es drei Wohnungen mit schematischem Grundriss, Stube, Küche und Kammer, ein Gemeinschaftsklo für alle war im Hauskeller. Keine Wasserleitung, keine Kanalisation, die Straßen morastig. Kinder verdienten sich ein Trinkgeld, indem sie aus Brettern Stege bauten, auf denen man trockenen Fußes vorankam. An die Selbstversorgung der Bewohner hatte man gedacht, es gab Mietergärten, um etwas anzupflanzen. In der zweiten Bauphase wurden die Häuser dann komfortabler, sie erhielten Innentoiletten und vom Wohnbereich getrennte Schlafstuben.

Die Terraingesellschaft Tegel, an der Borsig beteiligt war, baute um 1900 zwischen Holzhauser Straße und Borsigwalder Weg diese Fabriksiedlung für die Arbeiter der Borsigwerke. 1898 hatte Borsig sich im Zuge einer zweiten Randwanderung der Industrie hier niedergelassen, nachdem die Fabriken zuerst an der Chausseestraße in Mitte und danach in Moabit betrieben wurden (1). Die Ernststraße und die Conradstraße in dieser Siedlung sind nach den Borsig-Söhnen benannt. In nur etwa der Hälfte der Wohnungen zogen dann tatsächlich Borsigarbeiter ein, die anderen fuhren lieber mit Pferdebahn oder Straßenbahn in die Wohnquartiere wie Moabit, die näher an Berlin lagen. Ab 1922 übernahm die Gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft Borsig'scher Werksangehöriger GmbH den weiteren Bau von größerer Wohnhausblocks in Borsigwalde, beispielsweise an der Buddestraße und Veitstraße nahe dem Bahnhof Tegel.

Zwischen dem Werk und der Siedlung fuhr die Kremmener Bahn auf Straßenniveau, mit zunehmendem Verkehr waren die Schranken bald öfter geschlossen als geöffnet. Während woanders die Bahntrassen auf einen aufgeschütteten Damm hochgelegt wurden (2), blieb an der Bahn nach Tegel die Überquerung der Schienen ein Problem. Im Verlauf der Ernststraße wurde 1924 eine erste (hölzerne) Fußgängerbrücke errichtet, die der Volksmund wegen der steilen Stufen "Borsigwalder Alpen" nannte. Mehr als 40 Jahre mussten sich die Siedlungsbewohner über diese Treppe quälen, dann gab es eine neue Eisenkonstruktion mit Betonstufen. Aber nur weniger als 20 Jahre konnte man sich an deren neuer Qualität des Treppensteigens erfreuen, dann musste wegen des Stadtautobahnbaus die dritte Fußgängerbrücke her. Um sie barrierefrei zu gestalten, entschloss man sich zu einem Steg mit schnecken- oder spiralförmigen Zugangsrampen. Herausgestellt wird dieser Solitär durch die auffällige Bemalung, die ihn zu einer Schlange stilisiert. Welch ein seltsamer Anblick, wie sich die Schlange vom Straßenniveau im Bogen nach oben ringelt, in gerader Linie über das Bahngelände schießt und sich drüben wieder auf das untere Niveau zurückdreht. Wir sind zwar auf der Ernststraße, aber hier fällt es mir schwer, ernst zu bleiben.

Vor zwei Wochen waren wir gerade in der Wohnsiedlung Cité Foch der französischen Besatzungsmächte (5). Heute sehen wir südlich des Bahnhofs Tegel ein Bahnhofgebäude, das sich die Franzosen 1947 für die Abfertigung der hier stationierten Soldaten errichtet haben: "Gare Française Berlin-Tegel", ein barackenähnliches Bauwerk im Fachwerkstil. Es ist in die Jahre gekommen, aber gut herausgeputzt, und wird - wie passend für einen baulichen Senior - von einer Senioreneinrichtung genutzt.

Angrenzend an den Bahnhof Tegel baute Richard Brademann in den 1920er Jahren eines seiner typischen Gleichrichterwerke (3), die den Strom für die S-Bahn liefern. Vor der Backsteinfassade führen zehn dreieckige Türme über das Dach hinaus und öffnen sich dort mit Lüftungsschlitzen. Am Bahnhof Friedrichstraße kann man ein Gleichrichterwerk derselben Bauart sehen, wenn man vom östlichen Bahnsteigrand zu den Gleisen schaut. Zur gleichen Zeit, als Bademanns Gleichrichterwerk für die S-Bahn entstand, hat Hans-Heinrich Müller für die Stromversorgung der Betriebe und Haushalte in Borsigwalde ein Umspannwerk in der Breitenbachstraße errichtet (4). Seit 1898 wurde Borsigwalde durch das Wasserwerk der Landgemeinde Tegel an der Trettachzeile versorgt, die denkmalgeschützten Gebäude beherbergen heute Wohnungen und Werkstätten. Eine Zeit lang hatte auch der Borsigturm durch einen Wasserbehälter in der neunten Etage als Wasserturm fungiert. An der Kremmener Bahn zwischen Wittestraße und Ernststraße stand seit 1905 das Gaswerk VI der städtischen Gasanstalt von Tegel. Bis 1953 wurde hier Gas erzeugt, 1967 wurde es abgerissen. Ein Teil der Ernststraße hieß früher "Gaswerkstraße".

Der Name der Innungsstraße in Borsigwalde verweist darauf, dass hier einst in der Dalldorfer Heide (6) die Charlottenburger Schlächterinnung eine Schäferei betrieb. Um 1900 bis zum Ersten Weltkrieg folgten viele Industriebetriebe dem Beispiel von Borsig und bauten ihre Fabriken rund um die Wohnsiedlung. Das Werksgelände von Borsig lag am Borsigturm, der als erstes Berliner Hochhaus das Wahrzeichen des Ortsteils wurde (7). Durch das Werkstor mit dem markanten Doppelturm (8) an der Berliner Straße betraten die Arbeiter die Werkshallen. Am Jacobsenweg entstand 1909 das Böhmische Brauhaus mit einem großen Eiskeller zur Kühlung des Biers. Kurz darauf baute Linde nebenan ein Sauerstoffwerk für die Eismaschinen.

Wenn man vor hundert Jahren einen zündenden Namen für sein Produkt suchte, dann konnte man den selbst zusammen basteln. Der Fabrikbesitzer oder ein kluger Mitarbeiter kürzte "Radialbohrmaschine" zu "Raboma" zusammen - fertig war der Produktname, der heute noch verwendet wird und so eingeführt ist, dass niemand über die Assoziation "Rambo" stolpert. Oder eine Schuhcremefabrik aus der Erthalstraße nannte den Schuhwichs "Erdal" - noch heute steht dieser Name auf den Blechdosen. Auch Begriffe aus der Antike waren immer gut, siehe Nike, Barmenia, Thuringia. Man konnte sprechende Namen wie Puma oder Pinguin verwenden oder Buchstabenfolgen aus mehreren Begriffen zusammensetzen (AEG, IBM, WMF), wobei deren eigentlicher Inhalt schnell verloren ging. Dagegen transportieren zusammengesetzte Namen wie "Zweckform" für Büroartikel oder "Pustefix" für Seifenblasen ständig ihren Sinn. Bei ausländischen Begriffen wird es schon schwieriger, wenn man nicht weiß, wie der Name ausgesprochen wird.

Kunstnamen kann man mit einem Namensgenerator produzieren lassen, so wurde ich versuchsweise per Software mal kurz zu "Reza Alborz". Für kommerzielle Zwecke beauftragt man einen Namensfinder, das ist eine ganze Dienstleistungsindustrie, die zugleich kreativ und professionell sein muss. Bekannte Marken wie Vectra, Smart, Twingo, Evonik, Megaperls sind von Namensagenturen entwickelt worden, aber auch unhandliche Namen wie UNYVERO (Medizinprodukte) oder COATiQ (Lackfabrik). Ein Markenname muss international verwendbar sein und darf in keiner Sprache negative Assoziationen erzeugen (wie beispielsweise der Mitsubishi 'Pajero', im Spanischen ein sexistischer Begriff, zu übersetzen mit "que se masturba"). Das erfordert Wirkungstests und "Cross-Cultural-Checks". Und der Name soll positiv aufgeladen sein, eine Botschaft transportieren, soll Identität stiften, wieder erkennbar und leicht zu verstehen sein, abgehoben von der Konkurrenz, einmalig und widerstandsfähig gegen kurzfristige Trends.

Zurück zu Raboma, wie Hermann Schoening seine Maschinenfabrik nannte. Ob er selbst diesen Namen erfunden hat, ist nicht bekannt. Von dem Architekten Bruno Buch (9) ließ er sich eine Fabrikationshalle errichten, ein eindrucksvoller Bau aus Backstein, Stahl und Glas, dessen expressionistische Giebelseite zur Ecke Miraustraße/Holzhauser Straße zeigt und eher einen Bahnhof als eine Werkshalle vermuten lässt. Wie schön sich mit Firmennamen aus drei Großbuchstaben jonglieren lässt, zeigt das Beispiel der DWM. Gegründet als "Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken", wurde daraus in kriegsfernen Zeiten "Deutsche Waggon- und Maschinenfabriken", als in der Weimarer Republik wegen des Versailler Vertrages die Aufrüstung verboten war.

An der Miraustraße zwischen Holzhauser Straße und Eichborndamm entstand im Ersten und Zweiten Weltkrieg ein Industriekomplex für Rüstungsbetriebe. Dazu gehörten neben der DWM die Alkett Panzerwerke der Altmärkische Kettenwerk AG, die - einer Überlieferung zufolge - ihre Panzer auf der Holzhauser Straße Probe fahren ließen. Östlich der Miraustraße wurde für das Gewerbegebiet der Güterbahnhof Borsigwalde eingerichtet, der heute nicht mehr besteht. Das Fabrikareal wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zur Industriebrache, die nach und nach durch Ansiedlung des Landesarchivs und der üblichen Mischung von Dienstleistungs-, Handels- und Produktionsbetrieben wieder belebt wurde. Man kann hier Spielzeug oder Motorradzubehör kaufen, auch ein Spielcasino gehört dazu, das mit großformatigen Gesichtern von fröhlichen Jugendlichen wirbt. In einem Indoor-Freizeitpark gibt es Minigolf, Bungee-Trampolin, Eisenbahn, Seilbahn, Kletteranlage, Tretcars, Rodelbahn. Hier können strapazierte Eltern oder überforderte Großeltern ihre Kinder/Enkel zu einem unbegleiteten Besuch abgeben, wenn die Kleinen Socken anhaben und in der Lage sind, sich "sozialgerecht" zu verhalten.

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(1) Randwanderung der Industrie: Randwanderung der Berliner Industrie
(2a) Stammbahn in Steglitz hochgelegt: Mit der Klampfe durch das Land
(2b) Stettiner Bahn in Gesundbrunnen auf einem erhöhten Damm: Stettiner Bahn in Ost und West
(3) Gleichrichterwerke der S-Bahn: Brademann, Richard
(4) Umspannwerke von Hans-Heinrich Müller: Umspannwerke/Abspannwerke
(5) Franzosen-Siedlung Cité Foch: Horchposten ohne Fledermäuse
(6) Dalldorf: Wir kommen aus Dalldorf
(7) Borsigturm: Berlins erstes Hochhaus
(8) Ein ähnliches Werkstor mit Doppelturm hatte die AEG in der Brunnenstraße: Glücksritter der Industrialisierung
(9) Der Architekt Bruno Buch: Buch, Bruno



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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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