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Mit Wasser und Dampf gegen Krankheitserreger


Stadtteil: Neukölln
Bereich: Am Neuköllner Schiffahrtskanal
Stadtplanaufruf: Berlin, Lahnstraße
Datum: 23. Januar 2022
Bericht Nr.:761

Von der Lahnstraße bis zum Weigandufer sind wir auf einer Neuköllner Industrieroute unterwegs. Der Neuköllner Schiffahrtskanal mit seinen Industriebauten begleitet unseren Weg vom Oberhafen aus. Auch die Ringbahn verläuft auf diesem Abschnitt parallel zum Wasser. Am Mittelbuschweg schmiegt sich eine weitere S-Bahntrasse, von Baumschulenweg kommend, an die Ringbahn an. Die Bahnbrücke Niemetzstraße wirkt wie doppelstöckig - zwei S-Bahnlinien übereinander - aber das sieht nur aus einem bestimmten Blickwinkel so aus.

Linoleum-Fabrik Lahnstraße
An der Lahnstraße nahmen die Deutschen Linoleum-Werke 1926 ihre Produktion auf, fünf Linoleumfabriken hatten sich dazu zusammengeschlossen. Nach Sitzverlegung produzierte das Werk ab 1938 in Baden-Württemberg weiter. Für Linoleum wird auf einer Trägerschicht aus Jute eine Mischung aus Leinöl, Holz- oder Korkmehl, Harzen und Pigmenten aufgebracht, alles Naturmaterialien.


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In den 1960er Jahren sank die Nachfrage, Bodenbeläge aus PVC-Kunststoffen konnten billiger hergestellt werden. Nach Produktionsrückgängen und Eigentümerwechseln folgte schließlich 2017 die Insolvenz.

Den Backsteingebäuden mit Zinnen und historisierendem Bauschmuck konnten die Jahre wenig anhaben. Dagegen haben die Reste der Fabrikgebäude auf dem Innenhof mit ihrer kitschigen Übermalung der Steinfassaden unter den Eingriffen der späteren Nutzer gelitten.

Gaubschat Fahrzeugwerke

Nach dem Auszug der Linoleum-Werke übernahm eine Fahrzeugfabrik die Gebäude an der Lahnstraße. Als die Ära der Pferdewagen vorbei war, produzierte Gaubschat den "D-Zug der Landstraße“, einen Omnibuszug mit zwangsgelenktem Anhänger. Ein Faltenbalg ermöglichte den Durchgang zum Anhänger während der Fahrt, so wie es heute bei Bahnwaggons üblich ist. Abnehmer war unter anderem die Reichsbahn.

Auch die futuristischen Stromlinienbusse, die Gaubschat in verschiedenen Versionen produzierte, wurden von der Reichsbahn eingesetzt. Auf die Dauer konnten sich diese Busse aber nicht durchsetzen. In den 1920er Jahren wurden Fahrzeuge mit geringem Luftwiderstand von vielen Herstellern produziert.


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Die aerodynamischen Erkenntnisse aus dem Flugzeugbau führten zu stromlinienförmigen Fahrzeugen auf der Straße. Chrysler, Auto-Union, Tatra, Wanderer, Mercedes gestalteten PKWs im Windkanal. Der Mercedes-Silberpfeil wurde als Rennwagen eine Legende.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde Gaubschat zum Rüstungsbetrieb. Und stellte auch Aufbauten für Gaswagen her, die als angebliche Quarantäne-Fahrzeuge ans Reichssicherheits-Hauptamt geliefert wurden. Das Amt ließ die Fahrzeuge zu mobilen Gaskammern umbauen, Gaubschat war wohl über die endgültige Verwendung der Fahrzeuge nicht informiert. In der Geschichte der Berliner Industriebetriebe ist diese Zeit ein dunkles Kapitel, immer wieder stößt man auf entsetzliche Fakten, und nur nach und nach werden die Vorgänge ans Licht geholt.

Neuköllner Oberhafen
Der Oberhafen an der Lahnstraße ist ein "bimodales, innerstädtisches Logistikzentrum für Bau- und Wertstoffe", steht im Berliner Wirtschaftsverkehrskonzept. "bimodal"? Wörterbücher schlagen "zweigipflig" als Erklärung vor, einfacher gesagt handelt es sich um einen Recyclingstandort. Der Neuköllner Schiffahrtskanal verbindet den Hafen mit dem Teltowkanal, beim zweiten Hafenbereich Unterhafen regelt eine Schleuse den Wasserstand.

Norddeutsche Kabelwerke
Die Norddeutschen Kabelwerke, eine Tochtergesellschaft der "Telegraphenbau-Anstalt Mix & Genest", nahmen 1916 ihren Sitz am Oberhafen. Ein kompakter, vertikal gegliederter Backsteinbau mit Walmdach, großen Fenster- und schmalen Mauerflächen vermittelt die Power einer industriellen Produktion, die von diesem Verwaltungsgebäude gesteuert wurde.
In den nicht mehr vorhandenen Hallenbauten begann die Herstellung von Elektrokabeln für Energie- und Nachrichtentechnik. Die Fabrik erweiterte sich auf ein Gummiwerk, ein Leitungswerk und eine Verseilerei. In den 1940er Jahren wurde das Unternehmen zu AEG-Nordkabel, aber der neue Konzernverbund brachte kein Glück. Im Zusammenhang mit der Insolvenz der AEG 1982 wurden die Kabelwerke aufgelöst.

Der Oberhafen ist heute ein Recyclingstandort ohne Geruchsbelästigung, anders als der ALBA-Recyclinghof in Reinickendorf. "Wie riecht Berlin", hatten wir uns gefragt, als wir den unangenehm eindringlichen Geruch in der Flottenstraße wahrgenommen haben. Der Unterschied ist, dass Remondis an der Lahnstraße nur zwei Recyclingbereiche ohne Geruchsbelästigung betreibt, für Papier und für Elektrogeräte. Das Rückbauzentrum für Elektrogeräte betreibt der Konzern selbst, das Altpapier wird von einem Gemeinschaftsunternehmen mit der BSR verwertet, Die meisten der 550 Mitarbeiter am Ort sind im Dienstleistungsbereich beschäftigt: Steuerung der Geschäftsaktivitäten, Logistik, Containerdienste, auch ein Umweltkontrolllabor gehört dazu.

Desinfektionsanstalt
Mit Wasser und Dampf im Kampf gegen Krankheitserreger: So begeistert schrieb die "Gartenlaube" 1889 über öffentliche Desinfektionsanstalten. "Unserer Zeit war es vorbehalten, einen der grimmigsten Feinde der Menschheit, die Seuche, zu entlarven. Eine deutsche Erfindung ermöglichte es, Kleidung und Haushaltsgegenstände aufs gründlichste zu desinfizieren, ohne deren fernere Benutzung irgendwie in Frage zu stellen".

Gegen um sich greifende ansteckende Krankheiten ging man ab 1887 mit dem Bau von Desinfektionsanstalten vor, die erste entstand in Berlin in der Ohlauer Straße. Am Mittelbuschweg erbauten 1915 der Neuköllner Stadtbaurat Reinhold Kiehl und sein Nachfolger Heinrich Best eine Desinfektionsanstalt für die Stadt Neukölln. Heute ist dort die Erziehungs- und Familienberatung untergebracht. Der Bereich nördlich der Lahnstraße bis zur Ringbahntrasse soll als Industriegebiet erhalten bleiben, großflächige Einzelhandelsbetriebe wie Verbrauchermärkte sollen von diesem Standort durch einen Bebauungsplan ferngehalten werden, sofern sie nicht ohnehin schon wie an der Lahnstraße existieren.

Auer-Gesellschaft
Am Ende der Thiemannstraße Ecke Weigandufer steht ein Industriekomplex aus sechs Gebäuden mit mehreren Werkstoren. Das Baudenkmal wird - ohne weitere Informationen wie Baujahr oder Architekten - der Auer-Gesellschaft zugeschrieben. Tatsächlich ist damit nur der derzeitige Eigentümer genannt, aber nicht der eigentliche Bauherr.

Die Auer-Gesellschaft war als 'Deutsche Gasglühlicht AG' gegründet worden. Zur Zeit der Gasbeleuchtung stellte sie Glühstrümpfe her, die in Gasleuchten als Lichtquelle dienten. Als elektrischer Strom die Gasbeleuchtung ablöste, stellte die Auer-Gesellschaft Glühlampen her. 1920 brachte sie zusammen mit AEG und Siemens ihre konkurrierenden Glühlampenproduktionen in das neu gegründete Gemeinschaftsunternehmen Osram ein. Fabriziert wurde in Friedrichshain. Zu DDR-Zeiten wurde daraus der Volkseigene Betrieb Glühlampenwerk Narva in der heutigen Oberbaum-City.

Die Auer-Gesellschaft stellte nach der Ausgründung der Lampenproduktion Schutzausrüstungen her, beispielsweise Atemschutzgeräte für Feuerwehren. In der Nachkriegszeit lag der alte Standort in Ost-Berlin. Sie produzierte deshalb in West-Berlin, wurde Ableger eines amerikanischen Unternehmens als MSA Auer GmbH. Erst 1978 bezog sie den bestehenden Industriekomplex an der Thiemannstraße. Dort sind auch andere Betriebe untergebracht, eine Kletterhalle und seit 2003 das Finanzamt Neukölln. Zeitweise war auch die Bauabteilung des Bezirksamts dort Mieter.

Nationale Registrierkassen GmbH, Thiemannstraße
Den Fabrikkomplex an der Thiemannstraße hatte 1920 die 'Nationale Registrierkassen GmbH' erbauen lassen, die als Tochtergesellschaft des amerikanischen Unternehmens NCR bereits seit 1896 existierte. Kern der Registrierkasse war eine Bargeldschublade, die sich zum Schutz vor untreuem Personal mit einem Klingelgeräusch öffnete. NCR hatte diese patentierte Erfindung erworben und war damit Marktführer in den USA.


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Die Idee, Manipulationen auszuschließen, liegt bis heute den inzwischen digitalen Geräten mit Bondrucker, Scanner, Zahlungsterminal usw. zugrunde. Die Finanzämter nutzen die Kassensoftware gern bei Betriebsprüfungen, um Steuerhinterziehungen auf die Schliche zu kommen.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Registrierkassenfabrik zum Rüstungsbetrieb. Es wurden Bombenzünder, Uhren für Zünder, Maschinenpistolen und Flugzeugteile gefertigt. Als immer mehr Arbeiter für den Kriegsdienst eingezogen wurde, griff man auf Zwangsarbeiter/innen zurück. In der Nähe des Hertzbergplatzes an der Sonnenallee wurden drei Baracken für Zwangsarbeiter errichtet, ab 1944 als Außenstelle des KZs Sachsenhausen. Heute findet man dort am Hertzbergplatz die Kleingartenkolonie mit dem merkwürdigen Namen "National Registrierkassen NCR Kolonie e.V.“, die auf einem Teil des ehemaligen Lagers errichtet wurde.

An der Thiemannstraße gegenüber der Registrierkassenfabrik betrieb das Fernheizwerk Neukölln ein Werkstattgebäude, das in den letzten Jahren nicht mehr gebraucht wurde und bei der Nachnutzung als "Raum für neue Ideen und Unternehmergeist" zur Verfügung steht.

Fernheizwerk Neukölln
Das 1911 am Weigandufer errichtete Kraftwerk diente der BEWAG zur Stromerzeugung. Der dabei anfallende Abdampf war sozusagen ein Abfallprodukt, das als Heizwärme vermarktet wurde. Bald wurde es das Hauptprodukt, das Kraftwerk wurde zum reinen Fernheizwerk. Im Laufe von mehr als hundert Jahren sind sowohl die Eigentumsverhältnisse als auch die Kraftwerktechnik vielfach geändert worden. Das Fernheizwerk Neukölln war eine GmbH, dann eine Aktiengesellschaft, die an die Börse ging. Das Land Berlin blieb zur Hälfte Eigentümer, später übernahm die Bewag deren Anteile, die sie wiederum an Vattenfall weitergab.

Neben Kohlekesseln wurde ab 1989 ein ölbefeuerter Dampferzeuger eingesetzt. Eine Entschwefelungsanlage ging in Betrieb, ein Wärmeerzeuger wurde auf bivalenten Betrieb mit Gas und Öl umgestellt, mit Erdgas betriebene Blockheizkraftwerke wurden installiert. Um überschüssigen Strom aus Windkraftanlagen zu nutzen, wurde Berlins größter Wärmespeicher installiert, der die Stromlieferung und die Wärmeabgabe zeitlich entkoppelt. Es ist das große Thema, dass erneuerbare Energien zwischengespeichert werden müssen, wenn sie "zur falschen Zeit" anfallen.

Energiespeicher
Das Futurium - "Haus der Zukünfte" am Hauptbahnhof - benutzt zur Klimatisierung einen zukunftweisenden Energiespeicher. Heizung oder Kühlung werden dort aus einem Speicher versorgt, der die Phase zwischen Erzeugung und Verbrauch an verschiedenen Tages- und Nachtzeiten überbrückt. Da man dort aufgrund der Bauweise des Gebäudes - Niedrigstenergiegebäude - mit Temperaturen um 12 Grad arbeitet, bot sich Paraffin als hocheffizientes Speichermedium an. Mehrere Großspeicher - hinter Glas übereinander gestapelt - gleichen dort die Phasenverschiebung zwischen Tag und Nacht aus.

Vattenfall hat beim Fernheizwerk Neukölln mit gleicher Zielrichtung eine andere Technik realisiert, die der hohen Betriebstemperatur der Fernheizung entspricht. Sie hat einen Wärmespeicher - den bisher größten der Hauptstadt - in Betrieb genommen. Sie nennt ihn "einen riesigen Tauchsieder, der Strom in Wärme umwandeln kann". Denn der gut zwanzig Meter hohe Behälter speichert Wärmeenergie in Form von 10.000 Kubikmetern Heißwasser für eine zeitverzögerte Nutzung als Fernwärme. Die Wärme kann produziert und gespeichert werden, auch wenn sie zurzeit nicht abgenommen wird. Umgekehrt können die Kunden auch dann mit Wärme aus dem Speicher versorgt werden, wenn derzeit kein Strom anliegt. "Power-to-Heat" - eine Zukunftstechnologie.

Auf der Sonneninsel
Soviel Sonne: Die Sonnenallee überquert auf der Sonnenbrücke den Neuköllner Schiffahrtskanal. Ein Bauprojekt auf der Uferseite, die dem Hotel Estrel gegenüberliegt, hat mit der Benennung "Sonneninsel" den sonnigen Namen noch ein Sahnehäubchen aufgesetzt.

Die Eckbebauung von der Sonnenallee zum Ufer herum hat der Architekt Otto Rehnig 1916 geschaffen. Im stumpfen Winkel nähert es sich vom Ufer zur Straße an, der Scheitelpunkt wird durch das vorspringende Treppenhaus betont, Gesimsbänder betonen die Fassade horizontal. Rehnig hatte in Berlin unter anderem zwei Hotels entworfen, in denen die Oberschicht des Kaiserreichs residierte.



Das nicht mehr vorhandene Hotel Excelsior war durch einen Fußgängertunnel mit dem Anhalter Bahnhof verbunden. Wer aus den Fernzügen des Kopfbahnhofs ausstieg, konnte bequem und trockenen Fußes in die Hotelhalle gelangen. Das andere Hotel, das Esplanade, hat in unserer Zeit durch die Translozierung seines Kaisersaals weltweit Aufmerksamkeit bekommen: Der Saal des teilzerstörten Altbaus wurde auf Luftkissen 75 Meter weit bewegt, um ihn ins neu gebaute Sona-Center zu integrieren.

Nach der Fabriknutzung zog in das Eckgebäude am Neuköllner Schiffahrtskanal das Finanzamt Neukölln-Süd ein. Und nach der Bezirksreform wieder aus, als es mit dem Finanzamt Neukölln-Nord aus der Schönstedtstraße zusammengelegt wurde und in der Thiemannstraße eine neue Heimat fand.

Angrenzend an das Eckgebäude am Ufer des Schifffahrtskanales wurde 1970 ein Neubau für eine Nudelfabrik errichtet. Später wurde dort der Club Griessmühle ansässig, eine Partylocation und ein Flohmarkt. Nach Meinung der Besucher "Berlins geilster Clubgarten und Kulturstandort". Bis er ausziehen musste, denn inzwischen gehört das Gelände um das Nudelhaus zum Bauprojekt Sonneninsel.

Verabschieden wir uns von der Sonneninsel mit dem Bedauern über das abendliche Verschwinden der Sonnenkugel, das Heinrich Heine in diese Reime gefasst hat:

___Das Fräulein stand am Meere / Und seufzte lang und bang.
___Es rührte sie so sehre / Der Sonnenuntergang.
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Unsere Route:
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Radioempfang im Spülbecken
Eine Überdosis Leben