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Eine Überdosis Leben


Stadtteil: Neukölln
Bereich: Schillerkiez
Stadtplanaufruf: Berlin, Leinestraße
Datum: 20. April 2022
Bericht Nr.:770

Wenn ein Ort seine Anziehungskraft stärken oder verbessern will, dann kann er zu den Strategien des Stadtmarketing greifen, der zielgerichteten Gestaltung und Vermarktung der Kommune. So wie New York mit seinem Logo "I love NY", das weit über Amerika hinaus bekannt ist und vereinzelt sogar nachgeahmt wird. Schon vor dem Aufkommen von Marketingmethoden haben Städte um ihr Image in der Öffentlichkeit gekämpft. Man denke nur an Dalldorf, dass sich vom Image der Irrenanstalt lösen wollte und sich in Wittenau umbenannte. Ein nicht erfolgreicher Versuch, wie man weiß, die Nervenheilanstalt war immer noch da, jetzt wurde eben Wittenau mit "Bonnys Ranch" assoziiert.

Neukölln, das früher Rixdorf hieß, hatte sogar ein doppeltes Imageproblem. In dem proletarischen Vergnügungsort Rixdorf war vieles aus dem Ruder gelaufen, frivole Engtänze wie der Schiebertanz und lockeren Sitten erschreckten die Rixdorfer, es wurde getanzt, getrunken, gestritten, Messer und Fäuste wurden eingesetzt. An Kaisers Geburtstag 1912 erfolgte die Umbenennung in Neukölln, der Name wurde aus dem historischen Schwesterort von Berlin - Cölln - abgeleitet.

Schillerpromenade
Schon um 1900 hatte der Ort versucht, sein Image als Arbeiterquartier abzustreifen. Vom Arbeitervorort wollte man sich weg entwickeln, zum Wohnquartier für Besserverdienende werden. Dazu wurde auf ehemaligem Ackergelände die Schillerpromenade als Viertel für gutsituierte Bürger angelegt. Die 50 Meter breite Straße mit Platanen als Straßenbäumen erhielt eine breite Mittelpromenade mit Parkbänken, Blumenrondells und Englischem Rasen.


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Auf dem kreisrunden Herrfurthplatz inmitten der Promenade erbaute Franz Schwechten 1905 die Genezarethkirche mit finanzieller Förderung durch den Kirchenbauverein der Kaiserin ("Kirchenjuste"). Die repräsentativen Wohnbauten entlang der Promenade erhielten große, gut belichtete Höfe, manche waren mit dem Nachbargrundstück verbunden. Die Wohnungen waren mit geräumiger Küche und WC ausgestattet.

Reformwohnungsbau für die Arbeiter
Und dann wurde doch noch eine Arbeitersiedlung im Schillerkiez gebaut, die sich allerdings deutlich von den früheren Mietskasernen abhebt. Der Architekt Bruno Taut errichtete an der Leinestraße eine Wohnanlage im sozialen Reformwohnungsbau für die Gemeinnützige Baugesellschaft Berlin-Ost. Der durchgrünte abgesenkte Innenbereich wird von zwei L-förmigen Gebäuderiegeln umschlossen.


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Loggien und Treppenhäuser sind im Wechsel zur Straße und zum Hof ausgerichtet, dadurch entsteht ein lebhaftes Fassadenbild. Gelber Klinker und weiße Putzflächen wechseln sich ab. Nach Kriegsbeschädigung wurde die Wohnanlage durch seinen Bruder Max Taut wiederhergestellt.

Volkspark Neukölln
Westlich der Oderstraße wurde 1928 der Volkspark Neukölln angelegt. Der Volkspark - eine Erholungs- und Grünfläche mit reicher Pflanzenwelt - war so groß wie der Botanische Garten in Berlin. Es wurden pflanzen- und vogelkundliche Führungen angeboten. Der Park reichte am östlichen Rand des Flugfeldes über dessen gesamte Nord-Süd-Ausdehnung. Zu ihm gehörten sechs Sportplätze und ein Hockeyplatz. Wahrscheinlich schon Ende der 1930er Jahre wurde der Flughafen soweit ausgedehnt, dass vom Volkspark nur die Sportstätten am Rand übrig blieben.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs mussten auch fast alle Sportanlagen weichen, um während der Luftbrücke das Flugfeld für die Rosinenbomber zu vergrößern. In Höhe Allerstraße ist noch eine Freitreppe zum früheren Parkgelände vorhanden. Nur noch an der südöstlichsten Ecke hat das Flugfeld etwas Raum gelassen für den Werner-Selenbinder-Sportpark. Aus Trümmerschutt wurde 1946 im verbliebenen Werner-Selenbinder-Sportpark eine Radrennbahn aufgeschüttet, die bis 1955 in Betrieb war.

Opfer bringen für den Flughafenausbau
Für den Flughafen musste nicht nur der Volkspark Neukölln weichen. Auch die Genezarethkirche hatte mehrere Eingriffe wegen des zunehmenden Flugverkehrs zu erdulden. Der ursprünglich 62 Meter hohe Glockenturm wurde 1939 wegen der steigenden Zahl der Flüge auf 38 Meter verkürzt, die Turmspitze abgeschnitten. In der Zeit der Berlin-Blockade erfolgte mit Rücksicht auf die Sicherheit der in kurzen Abständen landenden Rosinenbomber eine weitere Höhenkorrektur auf 22 Meter.


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Auch der St. Thomas-Friedhof zwischen Hermannstraße und Flugfeld - dem direkten Anflugsziel vor dem Aufsetzen der Maschinen - wurde durch die notwendige Installation der Landebahnbefeuerung in Mitleidenschaft gezogen. Mit Leuchtfeuern auf mehreren Masten, deren Höhe Richtung Flugfeld immer weiter abnimmt, wurden die Piloten auf die Landebahn geleitet. Diese Masten standen mitten zwischen den Gräbern, Bäume mussten weichen. Und die Kinder, die auf den Abwurf der Süßigkeiten aus den Rosinenbombern warteten, trampelten ebenfalls zwischen den Gräbern herum. In den 1980er Jahren wurde der Friedhof aufgelassen, das Gelände wurde 2015 zum Anita-Berber-Park.

Der zunehmende Fluglärm führte auch zur Veränderung der Bewohnerstruktur im Schillerkiez. Besserverdienenden zogen weg, eher benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit einem hohen Anteil erwerbsloser Bürger und niedriger Einkommen übernahmen deren Wohnungen. Erst die Öffnung des Tempelhofer Flugfeldes als Park für die Bürger macht jetzt das Quartier wieder attraktiv. Dieser Umbruch ist derzeit im Kiez gut sichtbar.

Baugewerkschule Leinestraße
An der Leinestraße wurde 1913 eine Baugewerkschule errichtet, die der Neuköllner Stadtbaurat Reinhold Kiehl entworfen hatte, bevor er für die Vorbereitung des Zusammenschlusses von Groß-Berlin in den Planungsstab beim Zweckverband wechselte. Es ist ein mächtiger Bau mit breitem Mittelrisalit (vorspringender Gebäudeteil mit eigenem Giebel). An beiden Seiten schließen quadratische Pavillons den Bau ab.


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Berlin hatte bereits eine Städtische Baugewerkschule an der Kurfürstenstraße, an der Leinestraße wurde eine weitere, diesmal Königlich Preußische Baugewerkschule vom Staat (und nicht von der Stadt) errichtet. Während Ludwig Hoffmann 1878 an der Kurfürstenstraße baulich ein Musterbuch der Architektur als Anschauungsmaterial für den Lehrbetrieb geschaffen hat, fehlt dem Bau an der Leinestraße die Bezugnahme auf den Lehrinhalt.

In den 1830er Jahren wurden in Deutschland die ersten Kurse für Bauhandwerker eingerichtet, später wurde das Angebot zu eigenen Baugewerkschulen ausgebaut. Bereits um 1900 erhielten die Teilnehmer dort ein umfangreiches Lehrangebot im Bereich des Bauingenieurwesens, eine anspruchsvolle Ausbildung in Materialkunde, Konstruktionslehre, Baugeschichte, Formen- und Baustillehre, Zeichnen und Bautechniken. Die an den Baugewerkschulen ausgebildeten Handwerker, insbesondere Maurer- und Zimmermeister, konnten dadurch dem Architekten ähnliche Tätigkeiten ausführen. Viele Mietwohnungsbauten zur Zeit des Kaiserreichs sind von so qualifizierten Bauhandwerkern und nicht von Architekten entworfen worden, das begegnet uns immer wieder bei den Stadtrundgängen.

An der Kurfürstenstraße kam der Tiefbau als ergänzende Fachrichtung hinzu. Die Schule in der Leinestraße bot von vornherein eine fünfsemestrige Abteilung für Hoch- und Tiefbau an und entwickelte sich zur Technischen Lehranstalt für Vermessungstechniker, Schornsteinfeger, Heizungstechniker und Installationstechniker. Der weitere Verlauf zur Fachhochschule war damit vorgezeichnet.

St. Thomas-Friedhof
Die Hermannstraße ist von einem Cluster von Friedhöfen umgeben. Acht Begräbnisplätze wurden dort seinerzeit vor den Toren der Stadt eingerichtet. Östlich der Hermannstraße liegen die Friedhöfe St. Thomas, Luisenstadt und St. Michael ohne Trennung nebeneinander. Auf dem Thomas-Friedhof verortet der von mir immer wieder erwartungsvoll zu Rate gezogene Friedhofsführer von Willi Wohlberedt die Grabstätte des Geheimrats Prof. Dr. phil., Dr. med. h.c., Dr. Ing. h.c. Walther Nernst, eines ungewöhnlichen Gelehrten. Mit seinem Namen verbinden sich die Nernstlampe (Vorläuferin der Glühlampe), das Nernst-Theorem der Thermodynamik, das Nernstsche Verteilungsgesetz (über Flüssigkeiten), die Nernstsche Diffusionsschicht (bei der Elektrolyse).

Er war Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Rektor der Berliner Universität, Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und trug den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Den Nobelpreis für Chemie erhielt er für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Thermodynamik.

Im Ersten Weltkrieg arbeitete Nernst zusammen mit Fritz Haber an der Entwicklung chemischer Waffen. Die Weimarer Republik verfolgte diese Kriegsverbrechen nicht, obwohl sie sich im Versailler Vertrag dazu gegenüber den Siegermächten verpflichtet hatte. Nernst kehrte in seine Forschungsarbeit zurück. Walther Nernst war mit Albert Einstein befreundet. In der Nazizeit setzte er sich öffentlich für langjährigen jüdischen Freunde, wie Albert Einstein oder Walther Rathenau ein und zog sich nach Maßregelungen aus dem Wissenschaftsbetrieb zurück. Sein Grab in Berlin besteht nicht mehr, er wurde 1952 auf den Stadtfriedhof Göttingen überführt, wo er gemeinsam mit Max Planck und Max von Laue auf die Ewigkeit wartet.

Eine weitere Eintragung von Wohlberedt zum Thomas-Friedhof lautet: "Anita Berber † 1928, Tänzerin, (Wahlstelle 2/21, kein Denkmal, Name steht a. d. Rückseite der Bank)". Auch dieses Grab gibt es nicht mehr, aber der gegenüberliegende aufgelassene Friedhof ist als Park nach Anita Berber benannt.

Eine Überdosis Leben
Leben manche Menschen schneller als andere, verbrauchen sie ihr Quantum Lebensenergie früher, weil sie intensiver leben? Wenn wir älter werden, geschieht immer weniger zum "ersten Mal". Nervenbahnen altern, das Gehirn braucht länger, um Bilder zu verarbeiten, wie in der Realität "passiert" auch im Gehirn weniger. Mangels Ereignissen scheint die Zeit immer schneller zu vergehen. Wer dagegen immer mit Vollgas fährt, den Tag mit allen Sinnen und in vollen Zügen auskostet, nimmt der eine Überdosis Leben?

Die Tänzerin Anita Berber provozierte als Nackttänzerin die bürgerliche Gesellschaft, mit 29 Jahren ist sie gestorben, sie "kokste und soff", Morphin, Kokain und Cognac. Sie war selbst für die wilden Zwanziger zu wild und mit unter 30 schon ausgezehrt. Exzessiv verschwendete sie ihr Leben, wer will da entscheiden, ob es eine Überdosis Leben oder der Missbrauch von Drogen oder beides war?

Anita Berber wurde 1899 in Leipzig geboren. Als sie drei Jahre alt war, ließen ihre Eltern sich wegen "unüberbrückbarer charakterlicher Gegensätze" scheiden. Seit dem 15. Lebensjahr lebte sie mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und zwei unverheirateten Tanten in Berlin. Über Anita Berbers Tanzlehrerin schrieb ein „junges Fräulein“ nach einer Tanzaufführung: "Reizvolle Tänzerin, entzückendes Geschöpf, tanzt fabelhaft und mit großer Grazie, schwebt nur so über den Boden hinweg". Diesem "reizenden Wesen" im Tanz entsprach Anita Berber nicht, sie begeisterte ihr Publikum eher mit aufreizenden und verruchten (Nackt-)Tänzen. Deshalb trennte sie sich von ihrer Lehrerin und trat selbstständig in Berliner Varietés auf und ging auf Auslandstourneen. Von einer Tournee in den Nahen Ost kam sie todkrank zurück und starb 1928 in Berlin.

Mit ihrem zweiten Ehemann, Sebastian Droste, führte sie in Wien das Stück "Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase" auf. Das war zuviel für die bürgerliche Gesellschaft, beide wurden des Landes verwiesen. Das Bild von der Nackt-Performance "Märtyrer" zusammen mit Droste kann heute noch Schauer über den Rücken jagen. Die Berber muss eine außergewöhnliche Ausstrahlung gehabt haben. Sie wurde als unschuldig und reizend, aber auch als spontan und hemmungslos beschrieben. Anita Berber war von "herber Schlankheit", hatte eine knabenhafte Statur.


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Anita Berber war dreimal verheiratet, war aber auch offen für Beziehungen zu Frauen. Sie war die erste Frau, die einen Smoking trug. "Eine Zeit lang machten ihr in Berlin die mondänen Weiber alles nach. Sie gingen à la Berber", schrieb ein österreichischer Journalist.

Im Gegensatz zu Josephine Baker, die ebenfalls in den 1920er Jahren auftrat, wurde Anita Berber vom Publikum vergessen. Es war der schwule Kultfilmer Rosa von Praunheim, der 1987 an sie erinnerte. Er realisierte einen Film mit Lotti Huber, der Schauspielerin, die wie Praunheim gern provozierte, aber trotzdem fand: "Ich bin nicht verrückt oder schrill, ich bin natürlich.” Eine angemessene Besetzung für "Anita – Tänze des Lasters".
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Mit Wasser und Dampf gegen Krankheitserreger
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