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Unverbaubarer Blick


Stadtteile: Wedding, Prenzlauer Berg
Bereich: Mauergedenkstätte
Stadtplanaufruf: Berlin, Bernauer Straße
Datum: 4. Juli 2011

Wenn der Blick aus dem Fenster weiter als bis auf die Straße oder gegen eine Hauswand geht, ist das schon etwas Besonderes in der Stadt. "Unverbaubar" - also garantiert - ist dieser Weitblick aber selten. Das müssen in den Parallelstraßen der Bernauer Straße und im nahe gelegenen Oderberger-Kiez gerade Anwohner erfahren.

In der Bernauer Straße geht es um die Mauergedenkstätte, für die der Senat viel zu spät ein Konzept entwickelt hat. Da waren schon Grundstücke verkauft und Gebäude errichtet, als die Idee entstand, den ehemaligen Postenweg an der Mauer als erfahrbaren Ort zu erhalten. Jetzt ärgern und sorgen sich Anwohner, dass die Besucher der Gedenkstätte ihnen in die Wohnzimmerfenster glotzen und dass sie ihre inzwischen auf dem Postenweg angelegten Gärten an den Senat verkaufen müssen. Zum 50-jährigen Mauer"jubiläum" am 13.August 2011 wird dieser Streit wohl noch nicht entschärft sein.

Aus der kleinen "Kranzabwurfstelle" nahe dem Nordbahnhof ist inzwischen ein eindrucksvolles Gelände geworden, das den Wahnsinn der Teilung einer lebendigen Stadt vor Augen führt. Die Bernauer Straße wird zwischen acht Querstraßen auf einer Länge von 1,3 km zu einem begehbaren Erinnerungsort. Gerade an dieser Straße hatte sich das Geschehen in den Wochen nach dem Mauerbau zugespitzt, weil die Häuser in Ost-Berlin, der Bürgersteig davor aber zu West-Berlin gehörte. Die Hausfront war die Grenzmauer - solange die Häuser noch standen. Um sie zu überwinden, sprangen Menschen aus den Fenstern, in aufgespannte Sprungtücher oder einfach auf den Bürgersteig. Zwischen den Häusern der Bernauer Straße und der parallel in Ost-Berlin verlaufenden Schönholzer Straße oder Rheinsberger Straße patrouillierten die DDR-Grenzer, und um genau diesen Postenweg geht jetzt der Streit. Die Bauten an der Bernauer hatte die DDR irgendwann abgerissen und durch eine Mauer ersetzt, die geplanten Neubauten und die Freigabe des Postenwegs für die Öffentlichkeit machen nun den "unverbaubaren" Blick zunichte. Eine Enteignung im öffentlichen Interesse wäre möglich, aber nach der enteignungsgleichen Inbesitznahme des Mauerstreifens durch die DDR als weitere Wegnahme durch die BRD unsensibel.

Die Mauergedenkstätte wird vier Abschnitte mit unterschiedlichen Schwerpunkten enthalten. Mauer und Todesstreifen wurden sichtbar, begehbar gemacht. In den noch nicht ganz fertig gestellten Abschnitten werden der Abriss der Häuser, die Sprengung der im Grenzgebiet liegenden Versöhnungskirche, die Beseitigung von Teilen des Friedhofs im Mauerbereich durch die im Boden verbliebenen Relikte beispielsweise von Kellern oder Toreinfahrten archäologisch sichtbar gemacht, der Grundriss der Kirche wird nachgezeichnet. Trotz aller Querelen ist der noch nicht in die Gedenkstätte einbezogene Postenweg weitgehend erhalten geblieben und kann - bis auf vereinzelte Sperren - auch begangen werden. Gerade diese authentische, noch nicht "museal" aufbereitete Spur hat ihre besondere Atmosphäre, die ich einem interessierten Leser und Flaneur empfehlen möchte, natürlich auch einer Leserin und Flaneurin, soviel Zeit muss sein für eine politisch korrekte Aussage.

An der Bernauer Straße wird noch eine ganz andere Spur der Nachkriegsentwicklung sichtbar. Die Gegend war ein Gründerzeitkiez, alte Bauten wie im angrenzenden Prenzlauer Berg bestimmten das Bild. Auf der ehemaligen West-Berliner Seite sind diese Bauten verschwunden, sie sind der Kahlschlagsanierung der siebziger und achtziger Jahre zum Opfer gefallen, als man die alten Mietshäuser gleichgesetzt hat mit sozialer Verwahrlosung und sie durch Neubauten ersetzt hat, die nach heutiger Erkenntnis weniger lebenswert sind als die modernisierten Altbauten. So hat die Nachkriegszeit auf beiden Seiten der Bernauer Straße ihre tiefen Spuren hinterlassen.

Der zweite Konflikt um den "unverbaubaren" Blick, den ich eingangs ansprach, spielt am Marthashof in der Schwedter Straße. Hier wurde auf einem ehemaligen Bauernhof im 19.Jahrhundert eine Unterkunft des "Sonntags-Vereins für weibliche Dienstboten" eingerichtet, später unterhielt bis zum Zweiten Weltkrieg die Diakonie hier ein Hilfsangebot. Kuriose Historie: die Straße hieß früher "Verlorener Weg", so bezeichnete man eine Straße, die am Ende im Nichts verläuft, ohne einen definierten Endpunkt zu haben. Nach Kriegszerstörung blieb eine 12.000 qm große Brache, die den Anwohnern einen freien Blick ermöglichte. Die Idee, hier eine öffentliche Grünfläche zu schaffen, wurde nicht in einem Bebauungsplan festgeschrieben und ist daher nicht verbindlich, aber die Investoren wollen eine 4.000 qm große Grünfläche innerhalb ihrer U-förmigen Bebauung schaffen. Auch wenn die Fläche öffentlich zugänglich sein wird, ist die Öffentlichkeit durch das Hausrecht des Eigentümers begrenzt, er kann jederzeit, im Einzelfall oder auf Dauer, Besucher und Aktionen von seinem Grundstück fernhalten (--> 1).

"Da war mal eine Wiese, die soll bleiben", diese Haltung wird der Anwohnerinitiative Marthashof vorgeworfen. Die Initiative ihrerseits tritt gegen Gentrifizierung an. Das ist weit voraus gedacht, denn mit dem Neubau wird kein Anwohner vertrieben, aber die Aufwertung des Kiezes kann langfristig zum Zuzug einkommensstärkerer Bewohner führen. Der Investor wird sein Beton-"Implantat" mit Polizei und Security „schützen müssen“, heißt es, der Verkaufspavillon hat schon Farbbeutel abbekommen. Und als sei noch nicht genug Sprengstoff vorhanden, tauchten anonyme Plakate auf mit dem Text: "Wir sind ein Volk! Und Ihr seid ein anderes. Ostberlin, 9. November 2009.”

Dabei haben die Investoren verkündet, dass sie geradezu eine heile Welt schaffen wollen. "Der Mensch steht im Mittelpunkt" schreiben sie, mit "Präzision und Leidenschaft für jedes Detail" wollen sie "Freiraum und Geborgenheit, Sicherheit und gute Nachbarschaft, Ästhetik und Funktionalität, Wärme und Atmosphäre" schaffen, und das mit "Luxus und Eleganz". Selbst für "erfülltes Leben" soll ihr Bau stehen; ich wusste nicht, dass man das mit Architektur erreichen kann, wofür die meisten Menschen ein ganzes Leben lang brauchen, manchmal ohne Erfolg. Das Investoren-Ehepaar, ein Bayer mit Vornamen Ludwig Maximilian und seine italienische Designer-Gattin vereinen "Dolce Vita und bayrische Wertarbeit", das haben sie selbst geschrieben. Wenn hier ein Werbetexter tätig war, sollte man ihn 'rauswerfen.

Unverbaubar ist für uns Flaneure nur der Blick auf ein Restaurant, das etwas Erfreuliches auf den Tisch bringt. Wieso müssen jetzt auch Thailänder Glutamat ins Essen mischen, empfinden sie den Geschmack ihrer Produkte als so fad, dass sie E 621 zusetzen müssen? Bei einem Lokal, das nach Zitronengras benannt ist, wird man nicht unbedingt vermuten, dass sie die geringfügige Intoxikation (Vergiftung) von Speisen einsetzen, die auch "Chinarestaurant-Syndrom" genannt wird. Mehr Selbstbewusstsein, lieber Thailänder, wir haben auf Nachfragen das Essen ohne Glutamat bekommen und waren mit dem Geschmack sehr zufrieden.

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(1) Dieselbe Situation gibt es übrigens beim Mercedes-Gelände am Potsdamer Platz und am Media-Spree-Ufer, sie sind ebenfalls öffentlich genutztes Privateigentum. Gut für den Finanzsenator, ein Privateigentümer kümmert sich um quasi öffentliche Flächen, aber ein Konflikt ist absehbar, wenn jemand dem Eigentümer auf dieser Fläche zu nahe kommt. Der Sicherheitsdienst vom Mercedes-Gelände zeigt unauffällig, wie man das regelt.


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