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Häuser als Punkte und als Scheiben


Stadtteil: Tiergarten
Bereich: Hansaviertel
Stadtplanaufruf: Berlin, Hansaplatz
Datum: 13. April 2015
Bericht Nr: 502

Wer in diesem Einfamilienhaus wohnt, braucht keinen intelligenten Schlafphasenwecker mit einer Smartphone-App, denn hier lacht ihm am Morgen die Sonne ins Gesicht. Im Hansaviertel steht das Einfamilienhaus mit einem "Aufwachfenster", es ist ein Bau der Internationalen Bauausstellung Interbau 1957, entworfen von einem Architektenduo. Auch die übrigen Räume dieses Hauses sind so angeordnet, dass sie das Leben der Bewohner nach außen spiegeln. "Form follows function", die Funktionen sind außen am Gebäude ablesbar. Für die Architektur hat Louis Sullivan dieses Designprinzip bei den ersten Hochhausbauten in Chicago postuliert und angewandt.



Ob die Bewohner immer glücklich sind mit den Ideen der Architekten, ist eine spannende Frage. Erschreckt mussten Architekten feststellen, dass in Wohnungen der Moderne der alte Esszimmertisch in die enge Reformküche gequetscht wurde (1) oder die Weitläufigkeit einer Wohnung mit Durchblick durch die Innenräume durch "Plüschsofaherrlichkeit und den ganzen Mottenkrimskrams" zunichte gemacht wird (2). Mit anderen Worten, eine Wohnung wurde "bis zur Unkenntlichkeit eingerichtet". Aber hier im Hansaviertel haben die Bewohner ein Solitär gekauft und dürften sich mit der Bauidee vorher vertraut gemacht haben.

Es gibt im Hansaviertel keine Straßenraster und keine Blockränder. Der Tiergarten verlängert sich in das Viertel hinein, die Parklandschaft geht hier ohne sichtbare Grenze in die Stadtlandschaft über. Genau diese aufgelockerte Bebauung war als Abkehr von der Mietskasernenstadt, als neuer Ansatz der Nachkriegszeit gewollt. Aus der Vogelschau wird deutlich, dass es kein "Klötzchenspiel" ist, sondern dass die Bauten nach einem übergeordneten Gestaltungsprinzip angeordnet sind.

Fünf Punkthochhäuser [rot] auf (fast) quadratischem Grundriss schließen das Neubaugebiet nach Norden ab, ein sechstes ("Giraffe") findet sich am südlichen Ende. Im Westen stehen parallele Gebäuderiegel als Häuserscheiben [gelb], die niedrige Einfamilienhausbebauung im Süden ist wie ein Teppich miteinander verwoben. Mittendrin stehen aufgelockert parallel zueinander oder im rechten Winkel sechs Scheibenhochhäuser [blau]. Diese Grundstruktur wird um weitere Bauten ergänzt wird: Akademie der Künste, U-Bahnhof Hansaplatz, Hansa-Bücherei, Grips-Theater, zwei Kirchen.



Den Bahnhof U-Hansa-Platz hat ebenso wie die Hansa-Schule an der Spree hat der Stadtbaurat Bruno Grimmek gebaut. Die Akademie der Künste und die Hansa-Bibliothek entwarf der Berliner Senatsbaudirektor Werner Düttmann.

Bauten können durch Erdbeben, Bomben oder Neubebauung vernichtet werden; die Fundamente, Keller und unterirdischen Versorgungsleitungen aber bleiben. Ein Straßenraster ist das Gedächtnis der Stadt, von dem Archäologen auch nach mehreren tausend Jahren noch profitieren. Das dicht bebaute Hansaviertel war ein großbürgerliches Wohnviertel, bis es im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Südlich des S-Bahn-Viadukts standen noch 21 Häuser, davon sind heute nur zwei an der Josph-Haydn-Straße erhalten geblieben. Die anderen wurden abgeräumt, um mit den Bauten von international renommierten Architekten eine vorzeigbare moderne, transparente Bebauung als ideologisches Gegenstück zur Stalinallee in Ost-Berlin zu schaffen. Die Parzellenstruktur wurde aufgegeben, Straßen verschwanden, aber die unterirdischen Versorgungsleitungen wurden weiter genutzt. Die Lessingstraße, die früher von der Spree über den Hansaplatz bis zur Händelstraße führte, wurde eingeebnet, neue Hochhäusern wurden neben dieser Trasse errichtet, um die Versorgungsanschlüsse zu nutzen. Und die U-Bahn fährt genau unter der ehemaligen Lessingstraße, hier kam man nicht in Kollision mit früheren Fundamenten.

Für die vom Senat zentral gesteuerte Neubebauung mussten die Bodenverhältnisse neu geordnet werden. Mehr oder weniger freiwillig verkauften die Eigentümer oder ihre Erben ihre Grundstücke, in vierzehn Fällen wurde das Baulandbeschaffungsgesetz vom August 1953 angewendet, das die Enteignung "zur Förderung des Wohnungsbaues und zur Verbindung breiter Volksschichten mit dem Grund und Boden im Rahmen einer geordneten Bebauung" möglich machte.

Le Corbusier baute seine Wohnmaschine (Unité d’Habitation) am Olympiastadion, alle anderen Stararchitekten nutzten die Bauplätze im Hansaviertel. Trotzdem sind die Bauideen von Le Corbusier auch im Hansaviertel sichtbar, zwei Hochhäuser orientieren sich an seiner Wohnmaschine. Oscar Niemeyer, der Schöpfer von Brasilias Architektur, stellte seinen Hochhausriegel auf Stelzen, orientierte sich aber in der Gesamtwirkung der Gebäudefront zum Westen an der Unité d’Habitation. Das Punkthaus von Barkema/Broek ist eigentlich kein Turm, sondern eine abgeschnittene und damit auf quadratische Maße gebrachte Wohnmaschine im Stil Le Corbusiers.



Markant ist der dreieckige Aufzugsturm an der Ostseite des Niemeyer-Gebäudes, der seine persönliche Handschrift trägt, genau wie die horizontalen Fensterbänder an dieser Gebäudeseite. Die Aufzüge halten nur in der 5. und in der 8.Etage. Über die Zahl der Übergänge vom Aufzugsturm, die Gesamtzahl der Etagen, die V-förmigen Stützen und über die geplanten Sonnenblenden lag der Bausenator im Streit mit Niemeyer.

Die internationalen Architekten mussten sich dem Diktat des "Sozialen Wohnungsbaus" unterwerfen, weil nur so die Baukosten subventioniert werden konnten. In diesem Programm sind in der Stadt meist phantasielose Bauten mit Minimalausstattung entstanden, hier im Hansaviertel fühlten die Architekten sich oft gebremst und gegängelt und wollten letztlich ihren Namen nicht an den Bauten sehen. Auch Le Corbusier nannte seinen Bau nur noch ein "Gestell für Flaschen", weil die Auflagen sein Konzept verwässert hatten (3).

Dem finnischen Architekten Alvar Aalto - der für organische Bauweise steht - verwehrte man in der offenen Erdgeschosshalle seines Hochhauses die Deckengestaltung, die er an Joan Miró geben wollte. Das war dem Bauherrn zu teuer. Also stellte sich der Architekt mit einem Malermeister und einem Lehrling, mit Farbkübeln, Pinseln und Leitern selbst auf die Baustelle und zeichnete den Umriss an die Decke. Dunkelblau vor lichtgrauem und weißem Untergrund war das Deckengemälde. Eine Hausverwaltung mit eingeschränkter kultureller Kompetenz ließ später bei Renovierungsarbeiten das Kunstwerk mit weißer Farbe überstreichen. Inzwischen ist es wieder hergestellt und gibt der Halle mit ihren unsymmetrisch verteilten Säulen ihr besonderes Gesicht zurück.



Die Idee des römischen Atriums - eines rechteckiger Innenraums in der Mitte des Hauses, von dem aus die umliegenden Räume zugänglich sind - ist im Hansaviertel mehrfach aufgegriffen worden. Aaltos Wohnungsgrundriss führt die Bewohner immer wieder im zentralen Wohnraum ("Allraum") zusammen. Um diesen Raum herum gruppiert er Küche, Bad, Schlafräume und Loggia. Im Südteil des Hansaviertels in der "Teppichbebauung" sind einstöckige Bungalows als Atriumhäuser errichtet worden. Der Innenhof eines Bungalows ("Atrium") ist aus allen ringsum angeordneten Räumen erreichbar. Bereits um 1900 hatte Gustav Lilienthal in seinen Lichterfelder Burgen ein Zimmer im Zentrum des Hauses als Kommunikationsschnittpunkt eingefügt, in das alle anderen Räume einer Wohnung münden (4).

Bei mehreren Hochhäusern sind Wohnungen im Split-Level-Prinzip organisiert worden. Dabei werden die Räume über mehrere Ebenen oder mit Zwischenetagen angeordnet. Beim Punkthochhaus von Lopez/Beaudouin ist an der Ost- und Westfront sichtbar, dass die mittleren Wohnungen um eine halbe Etage höhenversetzt sind. Nebenan im Punkthochhaus von Schwippert werden Etagen und Maisonettes übereinander gestapelt. Hassenpflug hat bei seinem Punkthochhaus die Wohnungen über Eck angeordnet, die Bewohner können den Grundriss dank beweglicher Wände verändern. Gropius hat in seinem Scheibenhochhaus zweimal übereinander liegende Wohnungen gedreht, um die Seitenwände zu beleben.

Bei Gropius, Eiermann und Niemeyer stehen die Vorder- und Rückfassaden der Scheibenhäuser in starkem Kontrast zueinander. Gropius zeigt zum Süden eine heitere Fassade mit Balkonen, deren Brüstungen sich wie Segel nach außen wölben, in schachbrettartiger Anordnung von Fensterflächen umgeben. Die Nordseite erinnert an einen Industriebau mit schlichten Fensterflächen zwischen vier Aufzugstürmen. Egon Eiermann zeigt auf der Westseite Loggien, die in einem offenen Raster von tragenden Wänden (Schotten) zurückgesetzt sind. Die Ostseite ist dagegen als rote Fläche mit Fensteröffnungen gestaltet.

Landschaftsarchitekten haben den Nachteil, dass ihre Werke nicht so dauerhaft sind wie Gebäude. Sanfte Mulden, die die TU-Professorin Herta Hammerbacher gern als Bodenmodellierungen verwendete, bringen Bewegung in eine Gartenfläche, ebnen sich im Laufe der Zeit aber wieder ein. So sind im Bereich der Scheibenhochhäuser die Gestaltungen der „Mulden-Herta“, wie Frau Hammerbacher liebevoll genannt wurde, verschwunden. Dagegen kann sich der Fußgänger, wenn er seinen Blick nicht auf die Bauten, sondern nach unten richtet, Wege mit Groß- und Kleinpflaster entdecken, unregelmäßig verlegt, wie ein Gartenweg in das umgebende Grün eingebettet. Immer wieder erinnern Stolpersteine daran, dass im alten Hansaviertel der Anteil der jüdischen Bewohner doppelt so hoch war wie in der Gesamtbevölkerung.

Stalinallee und Hansaviertel sind Bau und Gegenbau aus einer Zeit, als der Kampf der Systeme von Ost und West auch mit Mitteln der Architektur ausgetragen wurde. Eine Initiative, beide gemeinsam zum Weltkulturerbe erklären zu lassen, ist zunächst gescheitert. Aber gemeinsames Kulturerbe aus der Zeit der Teilung bleiben sie weiterhin - und Ikonen der Nachkriegsmoderne, die zum Besuch einladen.
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Zu diesem Bericht gibt es einen Forumsbeitrag:
Tiergarten, Hansaviertel (13.4.2015)

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Ein früherer Besuch im Hansaviertel: Gestern war sie die Stadt von morgen
(1) Esszimmertisch in der Reformküche: Ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft
(2) Durchblick durch Innenräume verbaut: Plüschsofaherrlichkeit und Mottenkrimskrams
(3) Mehr über das Le-Corbusier-Haus: Gestell für Flaschen
(4) Das zentrale Wohnzimmer bei Gustav Lilienthal: Burgen

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Woge, Wüstenschloss und Wohnheim
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