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Auf nach Paris


Stadtteil: Tiergarten
Bereich: Karlsbadviertel
Stadtplanaufruf: Berlin, Am Karlsbad
Datum: 23. September 2019 (Textupdate zu 29. November 2010)


Auf dem Mittelstreifen der Potsdamer Straße unterhalb der Brücke über den Landwehrkanal steht ein Denkmal für den "Eisernen Gustav", einen Pferdekutscher, der mit seiner Kutschfahrt nach Paris internationales Aufsehen erregte. Er wohnte im Dorf Stolpe, mit seinem Pferd Grasmus vor der Kutsche wartete er regelmäßig am Bahnhof Wannsee auf Fahrgäste, eisern und zäh jedem Wetter trotzend, was ihm seinen Spitznamen einbrachte.

Der Eiserne Gustav
Um gegen die steigende Zahl von Autos zu protestieren, die sein Gewerbe bedrohte, machte er sich 1928 auf und lenkte seine Kutsche in zwei Monaten von Berlin nach Paris. Ein Journalist begleitete ihn. An den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs von Metz und Verdun hielt er an und gedachte der gefallenen Soldaten. Eine jubelnde Menschenmenge erwartete ihn als "Friedensbotschafter" in Paris, auch bei seiner Rückkehr durchs Brandenburger Tor feierten ihn über hunderttausend Schaulustige.

Gustav Hartmann war damals 69 Jahre alt, seine Fahrt war ein Markstein der deutsch- französische Völkerverständigung über Sprachgrenzen hinweg, wie Erich Kästner aufgezeigt hat: "Obwohl er nicht französisch kann, hat er sich in Paris verständigt. Denn dort, wo das Verstehen endigt, fängt die Verständigung erst an".

Und nun steht er hier inmitten des alles beherrschenden Autoverkehrs und macht sichtbar, dass tatsächlich das Pferd vom Auto verdrängt wurde. Man könnte die Aufstellung des Denkmals an dieser Stelle als Inszenierung mit Hintersinn bezeichnen.

Potsdamer Brücke
Von der Glienicker Brücke zum Potsdamer Platz und weiter Richtung Frankfurt/Oder führt die Bundesstraße 1 durch die Stadt, eine Ausfallstraße, die schon als Reichsstraße Deutschland in seiner damaligen Ausdehnung vom Rheinland bis nach Ostpreußen umfasste. Die Potsdamer Straße ist ein Teil dieser Verbindung, sie wurde kurz vor 1800 als erste preußische Chaussee angelegt. Es war eine "Steinbahn" mit einem Fundament aus Steinen und einer Oberfläche aus Kies und Schotter. Der erste Abschnitt führte vom Potsdamer Platz nach Schöneberg.

Um 1850 folgte der Ausbau des Wasserlaufs "Schafgraben" zum Landwehrkanal. Seit der Weidenutzung gab es eine Brücke über den Schafgraben in Form eines hölzernen Laufstegs. Als später der Graben zum Flößen verwendet wurde, brauchte es eine aufklappbare Durchfahrt. Mit dem Ausbau zum Landwehrkanal wurde daraus eine Klappbrücke. Wegen der Rundung des Kanals verlief diese Brücke in S-Form und dockte sich schief an die Straßenverläufe an. Damit war die Potsdamer Brücke ein Hindernis für die Schifffahrt und später auch für die Straßenbahn.

Eine neue Lösung musste her, es wurde eine Konstruktion, die wie die gespreizten Finger einer Hand aussah, denn nördlich des Kanals verzweigte sich der Straßenverlauf nach rechts zum Potsdamer Platz und nach schräg links zum Kemperplatz (mit der nicht mehr vorhandenen Viktoriastraße, auf der heute die Philharmonie steht). Der dabei freigelassene dreieckige Raum über dem Landwehrkanal hieß bei den Berlinern bald der "größte Spucknapf von Berlin". Die Brücke, die wir heute benutzen, wurde 1966 als Spannbetonbrücke errichtet.


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Schöneberger Vorstadt
Das Weideland, das sich südlich Richtung Schöneberg erstreckte, wurde mit kleinen Villen und Landhäusern bebaut, die "Schöneberger Vorstadt" entstand. Die Kurfürstenstraße hieß vorher "Mühlenweg", hier standen mehrere Mühlen. Die Lützowstraße führte nach Charlottenburg, das zuerst "Lietzow" hieß. 1861 wurde die Schöneberger Vorstadt nach Berlin eingemeindet, ab 1938 wurde das Gebiet südlich der Kurfürstenstraße dem Bezirk Schöneberg zugeordnet.

Karlsbadviertel
Südöstlich des Schafgrabens hatte das Dorf Schöneberg auf einer Wiese Baumwollstoffe (Kattun) gebleicht. Um 1800 errichteten böhmische Einwanderer dort eine Kattunfabrik mit Färberei. 1820 gründeten sie eine Badeanstalt. Die Bauherren - zwei Brüder - stammten aus dem böhmischen Ort Karlsbad. Mit feinem Witz verknüpften sie ihr neues Bad mit ihrem Heimatort und nannte es "Karlsbad". Die kleine Villenkolonie, die sich nach und nach hier bildete, übernahm diesen Namen. Ein Bebauungsplan wurde aufgestellt, das Gelände rund um die neu angelegte Straße "Am Karlsbad" wurde parzelliert. In der parallel verlaufenden Bissingzeile ist ein Teil der Privatstraßenbebauung von 1895 erhalten geblieben.

Um 1900 gaben Versicherungen, Verbände und Handelsgesellschaften den Ton an. Schnittig und stromlinienförmig betont die ehemalige Firmenzentrale von Loeser & Wolff ("Loeserburg") an der Ecke Potsdamer Straße die bevorzugte Lage am Wasser. In der Straße Am Karlsbad sind das Haus der Feuersozietät und ein Gewerkschaftshaus als Baudenkmale erhalten.

Das Karlsbadviertel wurde ein Künstlerviertel, der Maler Carl Begas und der Schriftsteller Heinrich Seidel lebten hier, der Architekt Martin Gropius hatte hier sein Büro. In der Potsdamer Straße 7 wohnte ab 1874 der Maler Adolf Menzel. Am Schöneberger Ufer Ecke Potsdamer Straße ließ sich 1919 der Rowohlt-Verlag nieder, auch die Wohnung von Ernst Rowohlt befand sich im Haus. Franz Hessel, den wir den Vater der Flaneure nennen, war Lektor im Rowohlt-Verlag. Über sein Büro schreibt er bescheiden: "Es gibt einen großen Verlag, und da wir mit diesem befreundet sind, dürfen wir in seine Räume eintreten und aus dem Fenster sehen und auf das Pfefferkuchenpflaster des Karlsbades, dieser alten Seitengasse, die mit verwilderten Vorgärten und brüchigen Balkonen vergangener Vornehmheit nachhängt".

Afrikahaus
An die Kolonialzeit erinnert das 1911 erbaute "Afrikahaus" der Deutsche Kolonialgesellschaft. Noch heute verweisen zwei Schmuckreliefs - Köpfe von Afrikanern mit Ohrring - freimütig auf die frühere Zweckbestimmung des Hauses. Allerdings sind die Reliefs oben unter dem Dachgesims nicht mit bloßem Auge zu erkennen. Zwei Köpfe als Plastiken auf Höhe des Erdgeschosses sind dagegen nicht mehr vorhanden, sie wurden bei Umbauten in der Nachkriegszeit entfernt.

Die Deutsche Kolonialgesellschaft - 1887 gegründet - förderte die "deutsch-koloniale Sache", also die (Aus-)Nutzung der deutschen Kolonien, ihre Rezeption als „deutsche Heimat“ wie beispielsweise bei "Deutsch-Südwestafrika“ (heute Namibia), das als "Schutzgebiet" verbrämt wurde. Dazu gehörten mediale Darstellungen wie "koloniale Bilder", Reiseberichte, Bücher. Und die Inszenierung der Kolonialvölker beispielweise auf der Gewerbeausstellung 1896 im Treptower Park. Dort war ein "Negerdorf" aufgebaut, in dem Afrikaner in exotischen Kostümen sich von morgens bis abends von den faszinierten Ausstellungsbesuchern anstarren lassen mussten. Hereros und andere Stammesangehörige aus Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) führten eine "Herero- und Hottentottenkarawane" vor.

In leitender Funktion war in der Deutschen Kolonialgesellschaft Carl Peters tätig, zugleich Reichskommissar in Deutsch-Ostafrika. Als er entdeckte, dass sein afrikanisches Hausmädchen, die zugleich seine Geliebte war, ein Verhältnis mit seinem Diener hatte, ließ er beide öffentlich aufhängen und ihre Heimatdörfer zerstören. Um die Umbenennung der Petersallee im Afrikanischen Viertel, die seinen Namen trägt, wird zurzeit heftig gestritten. In der NS-Zeit ging die Kolonialgesellschaft im "Reichskolonialbund" auf, das Afrika-Haus gehört seit der Nachkriegszeit einem privaten Eigentümer.

Potsdamer Straße
Einen eigenen Hochbahnhof erhielt die Potsdamer Straße 1902. An der Potsdamer und Lützowstraße entstanden Geschäfts- und Bürohäuser. Im Lützowviertel erreichteten Firmen wie Maggi repräsentative Bauten ("Geschäfts- und Industriepalast"), die die Würde und das Ansehen des Unternehmens vermittelten. Der Verlag de Gruyter sitzt in einem Eckgebäude der Genthiner und Lützowstraße, das aus schlesischem Granit und gelblichem Sandstein für die Rütgerswerke erbaut worden war. Ein großes, repräsentatives Amtsgebäude der wilhelminischen Zeit ist das Postamt W 35 in der Körnerstraße. Zwei typische gelb-rote Klinkerbauten des Stadtbaurats Hermann Blankenstein stehen in der Pohlstraße und in der Genthiner Straße.

An der Potsdamer Straße ist das älteste erhaltene Haus von 1855 erhalten mit dem Namen "Gustav Norbert" im Giebel. In einem weiteren Bau an der Potsdamer Straße, einem Neorenaissancebau (um 1900) mit lebensgroßen Nischenfiguren gab es 12-Zimmer- Wohnungen. In der Wohnungsnot zwischen den Weltkriegen wurden solche großen Wohnungen im mehrere kleine aufgeteilt. In der Lützowstraße 6 steht ein Wohnhaus im Stil florentinischer Palazzi, das zur Bauzeit (1878) 7-Zimmer-Wohnungen enthielt.

Ausblick
Südlich der Kurfürstenstraße erstreckt sich bis zum Nollendorfplatz das "Kielganviertel", benannt nach einem Gärtner, der ab 1867 seine Spargel- und Gemüseflächen an der Kürfürstenstraße in Bauland umgewandelt hat. Im Vorbeigehen blicken wir kurz auf zwei Villen: Die Villa des Architekten Carl Swatlo wurde im Dritten Reich entsprechend der damals verordneten "Baugesinnung" (1) durch eine wuchtige Fassade verändert. In der Derfflingerstraße umklammert das Französische Gymnasium mit seinem Neubau die Villa Maltzahn, einen Bau aus der ersten Phase des Kielganviertels, dessen Abriss für den Schulausbau durch Proteste verhindert werden konnte.

Setzen Sie den Rundgang durch das Kielganviertel hier fort:
Gebauter Musterkatalog der Architektur

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(1) NS-Baugesinnung: Im November 1936 wurde eine "Baugesinnungs"-Verordnung erlassen, die 1938 weiter erläutert wurde. Es ging um die "geistige Haltung" zur "Ausschaltung fremder seelischer Inhalte" und um die "Besinnung auf die völkische Eigenart", um die "kulturell wertvollen Niederschläge der Tätigkeit unseres Volkes" in der Architektur zu zeigen


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