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Die geistigen Funken einer Satire


Stadtteil: Mitte
Datum: 22. November 2021
Bericht Nr.:755

Staatsgäste, die unsere Stadt besuchen, führt das Protokoll gern zum Brandenburger Tor. Es ist das Entree in die frühere Residenzstadt, sie werden durch das Tor geleitet, dort öffnet sich der Pariser Platz. Dieses Durchschreiten ist eine symbolische Handlung, das ehemals "zugemauerte" Tor ist wieder geöffnet, hier ist die Wiedervereinigung sichtbar und fühlbar. Das Brandenburger Tor war schon früher Schauplatz für den Einzug in die Stadt.

Napoleon kam als Belagerer durch das Tor und nahm die Quadriga gleich mit nach Paris, die Siegesgöttin Victoria im Streitwagen, die oben auf dem Tor Richtung Osten blickt. Während der Befreiungskriege wurde sie ihm wieder abgenommen und kam zurück aufs Tor. Als die Stadt geteilt war, verließ sie noch einmal ihren Platz, wurde im Zusammenwirken von Ost und West restauriert, nur auf die preußischen Insignien musste sie zur DDR-Zeit verzichten.


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Nach Ende des Krieges 1870/71 gegen Frankreich kamen die deutschen Truppen auf einer Siegesparade durch das Tor in die Heimat zurück. Die Machtergreifung Hitlers wurde durch einen Fackelzug durchs Brandenburger Tor gefeiert, der für die Propaganda nachgestellt und gefilmt wurde. Die US-Präsidenten John F. Kennedy und Ronald Reagan konnten nur von der Westseite auf das eingemauerte Tor blicken, unvergessen ist Reagans Appell "Mr. Gorbachev, open this gate".

Brandenburger Tor als Besuchsprogramm
Das Durchschreiten des einzigen erhaltenen Stadttors Berlins bei einem Staatsbesuch ist keine zufällige freundliche Geste, sondern preußisch korrekt vom Protokollamt der Bundesregierung standardmäßig im Besuchsprogramm festgelegt. "Der Regierende Bürgermeister und sein Ehepartner erwarten den Besuch auf der Westseite des Tores, anschließend gemeinsamer Gang durch das Brandenburger Tor zum Pariser Platz (Bildtermin)". Der Luxemburgische Großherzog irrte sich, als er nach seinem Besuch schwärmte, "es ist fantastisch, von Osten nach Westen zu gehen und zu sehen, wie die Stadt aufgebaut wird". Alle gehen in die Richtung, in die die Quadriga schaut, vom Westen Richtung Osten. Nur dem türkischen Präsidenten Erdogan wurde diese Ehre nicht zuteil, weil das Tor gesperrt war, um die Bühne für die Einheitsfeier aufzubauen, wie passend.

Pariser Platz
Die viereckige Anlage des Pariser Platzes folgt der Dimension der historischen Bebauung. Das Tor beherrscht den Platz, seine Präsenz wird durch die Weite des Platzes und die niedrigere Bebauung seiner Ränder unterstrichen. Die nach Kriegszerstörung errichteten Neubauten mussten sich an der historischen Traufhöhe orientieren und eine Vorgabe für den Anteil der Fensterfläche an der Gesamtfläche der Fassade erfüllen. Auch das Material für die Fassade war vorgeschrieben. Es sind nicht die historischen Palais nachgebaut worden, eine "kritische Rekonstruktion" war das Ziel. Eingerahmt wird das Tor durch das neue Liebermann-Haus und einen Zwillingsbau an der anderen Seite. Liebermann pflegte auf die Frage, wo er wohnt, zu antworten "wenn sie nach Berlin reinkommen, gleich links".

Stadtentwicklung mit der Abrissbirne?
In der Berliner Zeitung schwingt der stellvertretende Chefredakteur die "Abrissbirne". Unwürdig sei der Platz, ein städtebauliches Desaster, das Brandenburger Tor sei enttäuschend klein. Der Platz kein richtiger Platz, weil er keine Piazza sei und auch nicht durch mittelalterliche Elemente bestimmt werde. (Dagegen hatte dieser Autor an anderer Stelle geschrieben, Mittelalter empfinde er "einfach als unangenehm einengend und bedrohlich"). Man müsse das Brandenburger Tor wieder für den Autoverkehr öffnen (!) und den Platz auf den (maroden) Zustand von 1990 zurückbauen.

Die Kolumne "Abrissbirne" wird als Satire bezeichnet, doch das ist eine Verkennung: Satire hebt sich durch geistige Funken von der Verächtlichmachung ab, sie lebt eine kritische Distanz, mit der sie den Kontrast zwischen Wirklichkeit und Ideal augenfällig macht. Wer Alfred Kerr liest ("Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin?") oder Kurt Tucholsky, liest wahre Satire. Eine Beschreibung von vermeintlichen oder tatsächlichen Missständen ist keine Satire. Die Aufforderung, die Abrissbirne zu schwingen, ist gefährlich, manchmal ist für Verirrte der Weg nicht weit von der virtuellen bis zur realen Handlung

Dieser Journalist hatte früher für den "Playboy" geschrieben, der seine Artikel zwischen Erotik verpackt ("Sex sells") Er war auch mal beim Spiegel und ist dann bei der Berliner Zeitung gelandet, die nach mehreren Verlegerwechseln ihren Kurs sucht ("den gesellschaftlichen Diskurs bereichern"). Sie hat derzeit keinen Chefredakteur, nur diesen Stellvertreter. Seine Kompetenz für Fragen der Stadtentwicklung ist nicht sichtbar, für Populismus dagegen offensichtlich. Inzwischen haben der Schreiberling und seine Truppe in Serie Häuser, U-Bahnhöfe, Graffiti, Brunnen, Bahnhöfe, Krankenhäuser für die Vernichtung vorgesehen und die Leser aufgefordert sind, eigene Vorschläge zu machen, wo Stadtentwicklung mit der Abrissbirne erfolgen soll. Von "einem tiefen Gefühl des Hasses" ist die Rede, von "abreißen und zerstören", denn: "wo gehobelt wird, lieber Leser, da fallen auch Späne".

Es ist verständlich, dass man sich über prekäre Zustände und Misswirtschaft aufregt, aber "in einer wirklich schönen Stadt lässt sich nicht auf Dauer leben, sie nimmt einem die Sehnsucht" (Elias Canetti). Wir brauchen das Unvollkommene, aber wir sollten nicht zögern, an seiner Verbesserung zu arbeiten - mit achtbaren Mitteln.

Brunnen "Sinkende Mauer"
Für die Abrissbirne freigegeben sind von den Schreiberlingen auch Berliner Brunnen: "trübe Brühen und keinerlei Kreativität". Deshalb ist es "Zeit, ein paar davon dem Erdboden gleichzumachen".

Schauen wir uns den Brunnen "Sinkende Mauer" im Invalidenpark an, der den Journalisten so missfällt. An diesem Platz stand früher die Gnadenkirche, die 1967 nach dem Mauerbau wegen Kriegsschäden gesprengt wurde, die DDR hatte kein Interesse an der Wiederherstellung christlicher Bauwerke.

Nach der Wende errichtete dort - nur 200 Meter von Mauer und Grenzübergang entfernt - der Künstler Christophe Girot eine Skulptur, die in eindrucksvoller Weise den Ort und seine Veränderung symbolisiert: Eine am Beginn sieben Meter hohe Mauer wird immer niedriger und versinkt schließlich ganz in einem Wasserbecken. Das auf der Mauerkante fließende Wasser deutet mit seiner Bewegung Veränderung und Leben an.


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Für die "Abrissbirne"-Kolumnisten ist das ein "wuchtige Gebilde, das inmitten eines riesigen Beckens mit stehendem, rostbraunem Schlammwasser gen Himmel ragt. Ein riesiger Vergnügungsdampfer, der für die ordinären Bedürfnisse von Ottonormalverbraucher keinen Platz lässt". Welche anstößigen oder vulgären Bedürfnisse mögen damit gemeint sein, oder wurde "ordinär" mit "originär" (ursprünglich) verwechselt?

Andere Brunnen
Der "Lebensalter"-Brunnen auf dem Wittenbergplatz lässt das Wasser aus einem pilzförmigen Block schleierförmig niederrieseln. Als Figuren aus dem prallen Leben stehen, sitzen und liegen unter dem Pilz der "Berliner Fenstergucker", mehrere Jünglinge und Mädchen, eine alte Frau, eine Puttengruppe. Die Figuren sind in das Spiel der Wasserstrahlen einbezogen. Berliner Witz paart sich hier mit Aufenthaltsqualität.


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Was sagen unsere Freunde von der Berliner Zeitung dazu? Das ist "gewalttätige Präsenz, die Figuren sehen so spießig aus". Andererseits: Eine "Frauenfigur guckt so nixenhaft durch die Gegend", ist das nun spießig oder gewalttätig? "Dieser 80er-Jahre-Nachkriegsbrutalismus ist so abschreckend wie eine zu kurz gegrillte Bratwurst". Wohl bekomm’s, liebe Brunnenabreißer.

In die Parkanlage, die den Luisenstädtischen Kanal ersetzt, steht im Rosengarten der Indische Brunnen: Eine Tempeltänzerin im Lotussitz auf einer Blätterpyramide mit wasserspeienden Löwenköpfen und Fabelwesen. Es ist eine freie Nachahmung des vorher dort stehenden zerstörten Brunnens unter Einbeziehung historischer Reste, die bei Ausgrabungen im ehemaligen Luisenstädtischen Kanal gefunden wurden. Der Brunnen steht im Mittelpunkt des Parks zwischen Waldemarstraße und Engelbecken.


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Der historische Bezug ist den "Abrissbirne"-Kolumnisten entgangen. Sie fordern den Abriss des Brunnens wegen seiner "unförmigen Scheußlichkeit in Bronze". Es handele sich um "grausiger Kitsch“, die Bronzezapfen an der Blätterpyramide seien von "monumentaler Hässlichkeit". Wie hatte Paul-Henri Spaak, einer der Gründungsväter der Europäischen Union, einmal festgestellt: Die Dummheit ist die sonderbarste aller Krankheiten. Der Kranke leidet niemals unter ihr. Aber die anderen leiden. - Aua.

Zu den Anblicken im Stadtbild, die die Schreiberlinge gern beseitigen würden, gehören hässlichste Häuserfassaden und schrecklichste U-Bahnhöfe. Auch einige Graffiti müssten dringend überpinselt werden (Achtung: Bildersturm! Wo bleibt die Kunstfreiheit?). Und es gibt Berliner Gebäude, die sie "gerne abreißen und zerstören würden". Eins soll hier genannt werden: der Hauptbahnhof.

Hauptbahnhof
Wer einmal im zugigen Hamburger Hauptbahnhof auf den Zug wartete oder nach der Ankunft an der langen Reihe von Geschäften vorbeigehen musste, weiß den Berliner Hauptbahnhof zu schätzen. Die meisten Fernzüge fahren in Berlin 15 m unter der Erde in einem Tunnel, die Ost-West-Linie mit S-Bahn und weiteren Fernzügen liegt in Höhenlage 10 m über Straßenniveau. Dabei ist der Bahnhof erstaunlich offen. Man blickt in die umgebende Stadtlandschaft, auch im Innern öffnen sich alle fünf Bahnhofsebenen den Blicken. Ein filigranes Glasdach lässt das Tageslicht durch, es fällt bis in die unterste Etage. Trotz aller Öffnungen ist die Akustik gut, die Zugbewegungen verursachen erstaunlich wenig Lärm.

Von den einzelnen Ebenen kann man mit Rolltreppen zum Ausgang gelangen, ohne zu lange Ladenzeilen zu passieren. Trotzdem gibt es genügend Läden für den Reisebedarf und gegen Hunger und Durst. Die strittigen Punkte aus der Bauzeit - das verkürzte Dach und die abgehängte Decke im Tiefgeschoss - sieht heute kaum noch jemand. Die beiden Bügelbauten des Hauptbahnhofs waren hinreichend bewundert worden, als sie nächtlich von senkrechter in waagerechte Position umgelegt wurden.


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Der Berliner Hauptbahnhof ist der größte Kreuzungsbahnhof Europas: Fernzüge (ICE, IC und andere), Regionalzüge, S-Bahnen und die U-Bahn machen hier Station, dazu 4 Straßenbahnlinien und mehrere Busse. Die beiden Bahnhofsvorplätze zum Regierungsviertel und zur Europa-City sind typische Vorplätze, die nicht dem Verweilen dienen. Städtischer Schmuck ist hier nicht zu erwarten, nur ungehindertes Passieren. Das Umfeld entwickelt sich noch, es wird dort weiter gebaut.

Den Abriss fordern die "Abrissbirne"-Kolumnisten für dieses "kafkaeskes Gebilde, das von sich behauptet, der Mobilität zu dienen", weil die Reisenden von der unteren Ebene "25 Höhenmeter erklimmen müssen", anscheinend haben die Schreiberlinge die Rolltreppen nicht gefunden. Wahrscheinlich war ihre Suche deshalb "eine Ochsentour vorbei an Currywurst-Buden und Drogeriemarkt". Für den "versteckt liegenden U-Bahnanschluss scheint man sich zu schämen", meinen sie.

In einem Punkt irren sie noch gewaltiger. Sie glauben, herausgefunden zu haben, dass dieser Standort "inmitten einer Brache, an diesem Nichtort" nur nach den "Bedürfnissen einer kleinen Funktionselite" ausgewählt worden sei. Damit die "Abgeordneten aus Hintertupfingen" nach der Sitzungswoche des benachbarten Bundestags so schnell wie möglich die Hauptstadt wieder verlassen können. Daraus folgern sie: "Unbedingt abreißen". Die Tatsachen sagen etwas anderes: Der Hauptstadtbeschluss des Bonner Bundestages (Sitzverlegung nach Berlin) erfolgte am 20. Juni 1991. Einen bislang nicht vorhandenen Hauptbahnhof zu schaffen, war bereits im Wettbewerb Groß-Berlin 1910 ein Thema. Als geeigneter Standort des Nord-Zentralbahnhofs wurde in den Wettbewerbsvorschlägen das Gelände des Lehrter Bahnhofs genannt.


Vor ihren nächsten Taten sollten die "Abrissbirne"-Kolumnisten einen Moment innehalten und dem Flüstern der Stadt lauschen:

___Lebe in einer großen Stadt.
___Sie gibt dir täglich die Lehre:
___Du bist entbehrlich (Berthold Auerbach)

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Stadtrundfahrt mit der U-Bahn U5
Für eine gleichberechtigte Gesellschaft