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Fliegende Mauer, gefangene und verschenkte Mauern


Stadtteil: Mitte
Bereich: Potsdamer Platz
Stadtplanaufruf: Berlin, Niederkirchnerstraße
Datum: 17. August 2022
Bericht Nr.:781

Welche Überreste, Fragmente der Berliner Mauer sind im Stadtbild zwischen Potsdamer Platz und dem Springer-Verlagsgebäude vorhanden und wie authentisch sind diese Relikte? Dieser Frage wollen wir heute nachgehen, gerade ist wieder ein 13. August - Jahrestag des Mauerbaus - vergangen. Die Mauer ist im Berliner Stadtbild kaum noch sichtbar, nach dem 9. November 1989 wurde die Grenzsicherung mit rasanter Geschwindigkeit abgetragen. Die Nachwende-DDR selbst setzte ihre Nationale Volksarmee dazu ein, auch die West-Berliner Polizei hat mitgeholfen. Die unmenschlichen Grenzsicherungsanlagen sollten so schnell wie möglich aus dem Bewusstsein verschwinden, städtische Normalität sollte wiederhergestellt werden.

Die Berliner Geschichtswerkstatt hatte bereits im Oktober 1989 - einen Monat nach dem Mauerfall - gefordert, "die Mauer muss bleiben" als Symbol der Unterdrückung elementarer Bürgerrechte. Doch diese visionäre Forderung wollte niemand hören im Taumel des Glücksgefühls deutscher Einheit, nicht einmal ein Mauerteil als Erinnerungsort war zu jener Zeit denkbar. Es brauchte Jahre, bis man sich zur Einrichtung einer Gedenkstätte an der Bernauer Straße entschloss.

Authentische Mauerreste
So gibt es heute authentische Mauerverläufe in der Innenstadt nur noch an der Bernauer Straße (Mauergedenkstätte), Niederkirchnerstraße, Liesenstraße und an der Mühlenstraße (East-Side-Gallery). Die Gallery ist eine ehemalige Hinterlandmauer, die den Todesstreifen nach Ost-Berlin hin absicherte, die anderen drei Mauern sind Vorderlandmauern, die direkt auf der Grenze standen.

Die DDR verkauft die Mauer an den Klassenfeind
Sehr schnell wurde die Nachwende-DDR nach der Maueröffnung damit konfrontiert, dass das symbolträchtige Bauwerk im kapitalistischen System einen Verkaufswert hat. Es dauerte nur Tage, bis Geschäftsleute aus dem Westen anboten, "die nicht benötigte Teile Ihrer Grenzsicherungsanlagen gegen Devisen zu kaufen". Den "antifaschistische Schutzwall" an den einstigen Klassenfeind zu verkaufen, konnte Löcher im Staatshaushalt stopfen, das überzeugte. Einen Monat nach Maueröffnung wurde mit dem Mauerverkauf begonnen. Das DDR-Außenhandelsministerium übernahm die Vermarktung, das Grenzkommando Mitte wurde angewiesen, die Beschädigung begehrter Mauersegmente durch Mauerspechte zu unterbinden. Den wertvollsten Mauerstreifen mit farbenprächtigen Graffiti hatte die DDR am Engelbecken ausgemacht. Nicht prominente Mauerteile wurden zerstückelt, zermahlen und als Baumaterial recycelt.

Trophäen werden schon seit der Antike als Siegeszeichen ausgestellt, das Präsentieren erbeuteter feindlicher Besitztümer ist ein Zeichen des Triumphes. Schon der Mauerspecht, der ein Bröckchen aus der Mauer herausgeklopft hatte, nahm ein authentische Stück des symbolträchtigen Bauwerkes mit nach Hause. Bei den vermarkteten Mauerelementen ging es um die "Grenzmauer 75", deren Elemente ursprünglich für landwirtschaftliche Zwecke entwickelt worden waren und seit 1975 als Grenzbefestigung eingesetzt wurden. Die Betonsegmente sind 1,20 Meter breit, 3,60 Meter hoch und wiegen 2,6 Tonnen. Bekrönt waren sie mit aufgeschlitzten Beton-Abwasserrohren, deren Rundung ein Übersteigen unmöglich machte.

"Die Mauer"
Diese Segmente wurden als Trophäen zu "der Mauer", wurden zu einem Gattungsbegriff, obwohl es noch eine Vielzahl anderer Bauteile gab. Selbst als kleine Nachbildungen werden die "Grenzmauern 75" im Souvenirhandel verkauft, mit und ohne Graffitibildern, auch aus Rosenthal Porzellan sind sie zu haben.


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Mauerteile in aller Welt
Diese Mauerrelikte wurden gehandelt und es wurde damit spekuliert. Sie sind als Ausstellungsstücke, Kunstobjekte, Reliquien, Beutestücke in die ganze Welt gewandert und sind dort in neue Kontexte gestellt worden, wenn sie nicht nur als Trophäen gezeigt werden. Verlagsgebäude beziehen sich mit einem Mauersegment auf die Informationsfreiheit, Bahnhöfe auf die Reisefreiheit, internationale Institutionen erinnern damit an den Fall des Eisernen Vorhangs. Ein Mauersegment im portugiesischen Fatima - dem Ort von Marienerscheinungen - soll wohl den dort betenden Gläubigen die Einsicht eröffnen, dass die Heilige Jungfrau Maria beim Mauerfall ihre Hände im Spiel hatte.

Den einzelnes Stützwandelementen, die anderswo in der Welt aufgestellt wurden, ist manchmal eine Inschrift beigegeben worden, ganz so, als handele es sich um eine Skulptur. Die Graffiti, die ursprünglich von der Westseite auf die Mauer gemalt wurden, waren nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt und sind oft verblasst. Zum Teil hat man sie nachgemalt, manchmal wurden sie auch unhistorisch neu bemalt.


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Politisches Manifest am Potsdamer Platz
Die Mauersegmente sind Teil eines Denkmals, das Zeugnis ablegt für seine Unbarmherzigkeit, sozusagen ein Denkmal seiner selbst. Herausgelöst aus der Grenzbefestigung, sind sie aber nicht behördlich als Denkmale geschützt, der Eigentümer kann nach Belieben darüber verfügen. Und damit sind wir bei unserem heutigen Spaziergang. Wenn ein Mauerstück mit einer politischen Message übermalt wird, dann bildet die Mauer nur die Folie, auf der eine andere Nachricht transportiert wird. Eine Folie, die wegen ihrer Form spontan mehr Beachtung findet als die eigentliche Message selbst. Als Protest gegen die Niederschlagung der belarussischen Protestbewegung wurde ein Mauerstück im privaten Eigentum in den Farben des Protestes übermalt und mit behördlicher Genehmigung auf dem Potsdamer Platz aufgestellt.

Kaugummis am Potsdamer Platz
Nicht weit entfernt stehen auf dem Sony-Grundstück fünf Mauerstücke, die durch zwischengeschaltete Erläuterungstafeln zu einer Einheit verbunden sind. Die Mauersegmente selbst sind von oben bis unten mit Kaugummis beklebt. Tagesspiegel und BZ finden das ekelhaft, aber meine Begleiterin entdeckt darin den Sinn, dem unmenschlichen Mauersystem seine Verachtung 'auszudrücken', indem man seinen Kaugummi an ihm 'ausdrückt'.


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Checkpoint Charlie
Auf unserer Route treffen wir auf 10 Mauerspuren unterschiedlicher Art, nur eine ist authentisch: Der Mauerrest in der Niederkirchnerstraße schräg gegenüber dem Preußischen Landtag (jetzt Abgeordnetenhaus von Berlin). Das Echo, das der Mauerfall in der ganzen Welt ausgelöst hat, ist heute noch an den Touristenströmen ablesbar. Und so ist es fast zwangsläufig, dass wir in Mitte auf unserem Rundgang viele Mauerelemente gesehen haben, die aufgestellt wurden, um Haltepunkte für Stadtführungen zu schaffen.

Menschentrauben lauschen den vielsprachigen Erklärungen selbsternannter Stadtführer, wieviel Wahrheit mögen sie vermitteln, wieviel Fantasie und Fake daruntermischen? Apps und Reiseführer schicken die Touristen auf Entdeckungsreise, so geraten sie in den Strudel am Checkpoint Charlie, der nichts Ursprüngliches mehr hat. Die amerikanische Kontrollbaracke, die man von den historischen Bildern sich gegenüberstehender Panzer kennt, steht jetzt im Museum. Den Schauspielern, die vor dem nachgebauten Kontrollhäuschen salutierend amerikanische Soldaten mimten, hat man vor Jahren den Boden entzogen. Im TripAdvisor hatte man schon vermutet: "Die meisten Soldaten sind nicht echt", doch das war nur die halbe Wahrheit, alle waren Schauspieler. Wer sich fragt, wo denn hier die Mauer sei, kann höchstens Brocken davon an der Fassade des Museums am Checkpoint Charlie finden.

Fliegende Mauer, gefangene Mauern
Kaum beachtet steht ein Mauersegment mit schwarz-weißem Graffiti an der wenig frequentierten Seite des Kollhoff-Towers am Potsdamer Platz. Oben auf der Aussichtsplattform ist ein weiteres Mauerstück "gelandet": Ein Mauersegment wurde mit dem Hubschrauber 100 Meter auf die Spitze des Kollhoff-Towers geflogen und dort unter Patenschaft von Joachim Gauck (damals noch nicht Bundespräsident) aufgestellt. Das Streben, Dinge ins Riesige, Maßlose zu skalieren, ist zeittypisch honoriert worden: Der "Flying Wall" bekam eine Eintragung im Guinness-Buch der Rekorde.

Fährt man nach oben, dann findet man auf der Aussichtsplattform informative Schautafeln, doch das Mauerstück wird ärmtlich präsentiert: Seines Fußes beraubt, ist es zwischen den umlaufenden Pfeilern eingequetscht und verankert worden. Statt einen unüberwindbaren Fluchtraum herzustellen, wurde es selbst zum Gefangenen.

Und noch eine gefangene Mauer: Das Umweltministerium an der Stresemannstraße zeigt in einem Schaufenster ein Mauerstück, das von dem Gebäude umbaut wurde. Der Mauerrest an der Ecke Erna-Berger-Straße wurde für den Bau des Ministeriums abgetragen, zwischengelagert und dann am Originalstandort - jetzt innerhalb des Gebäudes - unter Verwendung originaler Teile nachgebaut. Die Installation ist natürlich nicht öffentlich, wie schon vor zehn Jahren bei meinem ersten Besuch weist der Pförtner das Ansinnen empört zurück, eingelassen zu werden. Nur zu speziellen Anlässen wird das Beutestück nach Anmeldung vorgeführt.


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Karl Liebknecht als "Opfer" der Mauer
Noch einmal zurück zum Potsdamer Platz. Dort findet sich ein leerer Denkmalsockel, den die DDR aufgestellt hatte zum Gedenken an Karl Liebknecht. Eine Antikriegsdemonstration auf dem Potsdamer Platz 1916 mitten im Ersten Weltkrieg hatte Liebknecht mit der Parole „Nieder mit dem Krieg!" eröffnet. Er war deshalb wegen Hochverrats verurteilt worden.

Die DDR hat zunächst nur den Denkmalsockel am 13.August 1951 eingeweiht. Exakt auf den Tag 10 Jahre später wurde die Mauer errichtet, und der immer noch leere Sockel stand plötzlich unerreichbar im Mauerstreifen. Das Denkmal war ein Opfer des Mauerbaus geworden. Den leeren Sockel gibt es immer noch, er ist mit einem Hinweisschild versehen worden.


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In der Erna-Berger-Straße konnte man vor 10 Jahren bis zu dem Wachturm vorgehen, der nach der Wende dorthin gewandert war. Ursprünglich stand er mehrere Meter näher zur Stresemannstraße, er "musste" laut Stadtentwicklungssenat versetzt werden. Bei unserem heutigen Besuch ist die Straße vor dem Wachturm massiv und blickdicht abgesperrt, nur die Beobachtungskanzel des Turms ragt noch herüber.

Springer und die Mauer
Der Verleger Axel Cäsar Springer hatte ein besonderes Verhältnis zur Mauer, die er für die plakative Manifestation seines unerschütterlichen Glaubens an die Freiheit benutzte. Sein Verlagshaus hatte er 1956 direkt an der Sektorengrenze erbauen lassen. Dafür wurde die Ruine der Jerusalemkirche gesprengt und die Jerusalemer Straße als öffentliches Straßenland entwidmet, das Hochhaus steht direkt auf dem ehemaligen Straßengelände. Noch vor der Einweihung des Hauses wurde 1961 auf der Grenze die Mauer hochgezogen. Springer konnte mit seiner Standhaftigkeit brillieren, als andere der Stadt den Rücken kehrten.

Aus der Mauer unternehmerisches Kapital zu schlagen, das hat das Verlagshaus auch nach dem Mauerfall verstanden. Vor dem Verlagsgebäude sind neun stehend und liegend Mauerelemente zu einem Denkmal verbunden, das die Springer AG bestellt hat. Darüber schwebt in einem Balanceakt ein Mann, der einen Fuß schon in der Luft hat.

Und die Springer AG hat sich aufgespielt als eine Art "Bundesinstitut des Mauerandenkens", so als wäre sie für die Verteilung von Gedenkstücken aus dem Mauerfundus zuständig. Sie konnte sich Originalsegmente der Mauer sichern und schenkte jedem Bundesland nach und nach ein solches Mauerstück. Mit einer Art Staatsakt, an dem natürlich die wichtigen Politiker teilnahmen, wurden die Stücke an einem Gedenktag wie dem 17. Juni oder dem 13. August feierlich übergeben.

Auch Alt-Kanzler Kohl wurde ein Mauerteil feierlich in den Vorgarten seines Hauses in Oggersheim gestellt "in Anerkennung seiner Verdienste um die Wiedervereinigung". Als ob die öffentliche Ehrung von Politikern zu den Aufgaben eines unabhängigen Verlages gehören würde. Von Axel Cäsar Springer stammt das Zitat, "Zeitungen sollen zwar an der Politik teilhaben, aber keinesfalls Politik machen“, aber das kann er selbst nicht ganz ernst gemeint haben.


Dieser Stadtrundgang ist unserer Enkelin Anna K. gewidmet. Leider hat Corona ihren Berlin-Besuch durchkreuzt, so sind wir allein auf dieser Route unterwegs und versuchen, sie mit diesem Bericht etwas zu entschädigen.
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Unsere Route:
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Die traurigen Löwen vom Mühlendamm
Von Tor zu Tor durch die Rosenthaler Straße