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Eine Gasse für die Armen


Stadtteil: Mitte
Bereich: Spandauer Vorstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Auguststraße
Datum: 16. März 2020 (2 Tage vor der Merkel-Ansprache: "Es ist ernst")
Bericht Nr.:691

[Diese Stadtwanderung fand vor den verschärften Corona-Bestimmungen statt und vor der Merkel-Ansprache: "Es ist ernst". Weitere Stadtrundgänge werden wir erst wieder unternehmen, wenn die Gefahr vorbei ist. Da es ein Ziel vor der Haustür sein sollte, hat mich meine architekturinteressierte Angetraute begleitet, die auch sonst meine Berichte auf Verständlichkeit prüft und auf Fehler aufmerksam macht.]

Die Auguststraße verläuft parallel zur Linienstraße, sie hat wie diese einen räumlichen Bezug zur alten Stadtmauer, der Akzisemauer. Heute beherrschen Galerien und gehobene Angebote das Bild, doch die früheren Straßennamen entwerfen ein anderes Bild, verweisen auf Arme, auf arme Sünder und auf Kranke.

Die Umbrüche der Auguststraße
Seit dem 17.Jahrhundert wurden vom Scharfrichter Hingerichtete in einem "ehrlosen Begräbnis" auf dem Armenkirchhof in der Auguststraße "eingescharrt". Die Straße hieß deshalb bis 1723 Armesünder Gasse. - Christian Koppe, Ratsherr und Stadthauptmann, schenkte der Städtischen Armenverwaltung ein großes Grundstück und stiftete 1708 das "Koppesche Armenhaus" in der Auguststraße. Daraufhin wechselte 1723 der Straßenname in "Armen Gasse". Der ebenfalls von ihm gestiftete Koppesche Armenfriedhof lag zwischen August- und Linienstraße, er wurde zum Koppenplatz, dort ist heute nur noch Koppes Grab vorhanden.

_____Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein,
_____Die Toten schaun den roten Untergang
_____Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein. (*)

Fraglich ist, ob der Armenkirchhof - der für die ehrlosen Begräbnisse genutzt worden war - in den Koppeschen Armenfriedhof einbezogen wurde. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trug die Kleine Auguststraße den Namen Kirchhofsgasse, ihre Lage parallel zum Koppenplatz deutet darauf hin, dass der Kirchhof dem Friedhof zumindest benachbart war.

Das Koppesche Armenhaus wurde 1739 zum Hospital, "hiervon empfing die Straße die Bezeichnung "Hospital-Straße". Den heutigen Namen Auguststraße hat schließlich 1833 das Königliche Polizeipräsidium festgesetzt "zum Andenken an Prinz August von Preußen, General-Inspekteur und Chef der Artillerie".

Christliches Hospiz
In der Auguststraße wurden später weitere Häuser zur Krankenbehandlung eingerichtet: Das christliche Hospiz und das Jüdische Krankenhaus.

Auf dem Grundstück Auguststraße 82 war 1878 ein evangelisches Vereinshaus für die während der Industriellen Revolution nach Berlin strömenden Industriearbeiter geschaffen worden. Die Berliner Stadtmission errichtete 1908 einen Neubau, der als Christliches Hospiz und als Hotel ("Herberge zur Heimat") genutzt wurde. Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld beschreibt, dass die Herberge auch als Treffpunkt fungierte: "Viele Berliner Homosexuelle suchten und fanden die ihrem eigentümlichen Geschmack entsprechenden Partner in oder vor der 'Augustbude' (der Herberge zur Heimat in der Auguststraße)".

Nach der Wende wurde vorübergehend der Hotelbetrieb eingestellt. 2001 eröffnete der "Augustinenhof" neu, er wird von der evangelischen Hospiz-Betriebs-GmbH gemanaged, das Gebäude gehört der Stadtmission. Auf dem weiß gefliesten Teil der Fassade kann man immer noch den alten oder nach altem Vorbild wiederherstellten Schriftzug "Evangelisches Vereins-Haus" lesen.


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Jüdisches Krankenhaus, Jüdisches Kinderheim, Jüdische Mädchenschule
Im Hinterhof der Auguststraße 14-16 errichtete Eduard Knoblauch - der Architekt der Synagoge in der Oranienburger Straße - 1861 das Jüdische Krankenhaus. Es war eines der modernsten Hospitäler seiner Zeit. Das Grundstück grenzt rückwärtig an die Synagoge an. Als Vorderhaus entstand ein Verwaltungsgebäude, als Nebenhaus ein Schwesternheim. Als das Krankenhaus 1915 einen Neubau in Wedding bezog, entstand auf dem Anwesen in der Auguststraße ein Zentrum jüdischer Wohlfahrtspflege mit Mädchenwohnheim, Tagesheim für Säuglinge, Kochschule, Nähstube, Zahnklinik, Turnsaal, Arbeiterfürsorgeamt, Beerdigungsgesellschaft.

Das Krankenhausgebäude wurde zum Flüchtlingsheim für Juden aus dem Osten Europas. Es waren vor allem mittellose, so genannte Ostjuden aus Russland, Polen, Rumänien, der Ukraine, die vor Verfolgung und Pogromen geflüchtet waren. 1922 hat die Gemeinde dann in dem Gebäude ein Jüdisches Kinderheim eröffnet, dessen Leiterin in der Nazizeit ein neues Heim in Palästina aufbaute und bis 1939 beherzt hundert Kinder nach dorthin retten konnte. 1941 richteten die Nazis im Haus ein Sammellager für Juden ein, die in der Rüstungsindustrie als Zwangsarbeiter arbeiten mussten, bis 1943 die letzten Deportationen in die Konzentrationslager erfolgten.

An das Krankenhaus links angrenzend steht in der Auguststraße 17 das jüdische Gemeindehaus, das ursprünglich als Schwesternheim gebaut worden war. In der Auguststraße 11-13 – rechts vom Krankenhaus -erbaute die Jüdische Gemeinde in den 1920er Jahren ein ausgedehntes Backsteingebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit für die erste Jüdische Mädchenschule in Berlin. Der Bau mit einer Fassade aus dunklen Eisenklinkern wird durch einen vorspringenden Turmbau mit großen Eisenfenstern begrenzt. 1942 wurde die Schule durch die nationalsozialistischen Behörden geschlossen. Zu DDR-Zeiten waren dort mehrere Schulen und ein Internat untergebracht.

Heute bespielt das Restaurant Pauly Saal die ehemalige Turnhalle. In ehemalige Klassenräume und die Aula sind Galerien und eine Museum für Gegenwartskunst eingezogen.

Kunstmeile Auguststraße
In der Auguststraße wurde 1998 in den Kunst-Werken (heute: KW Institute for Contemporary Art) die erste "Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst" eröffnet, sie findet seitdem alle zwei Jahre statt. Die Berliner und die internationale Kunstszene zeigen hier in Ausstellungen und mit Installationen die Tendenzen der zeitgenössischen Kunst. Schon im ersten Jahr nahmen mehr als 70 Künstler und Künstlerinnen teil. Die Auguststraße wurde zu einer Kunstmeile, in den Läden der Erdgeschosse machte eine steigende Zahl von Galerien auf. 2005 folgte eine weitere - jährliche - Veranstaltung, das Gallery-Weekend. Inzwischen haben sich Galerien in allen Bezirken angeschlossen, im letzten Jahr hatte die Veranstaltung eintausend nationale und internationale Besucher, Sammler reisten auch aus Russland, den USA und China an.

Das nächste Gallery Weekend war für Mai 2020 geplant, es ist wegen der Corona-Gefahr auf Herbst verschoben worden. Die für Juni bis September 2020 terminierte Kunst-Biennale wird wohl ebenfalls nicht wie geplant stattfinden können.

Die Häuser in der Auguststraße
In der Auguststraße wurden die niedrigen Häuser nahe der ehemaligen Stadtgrenze im 19. Jahrhundert nach und nach durch mehrgeschossige Mietwohnhäuser ersetzt. Im Zweiten Weltkrieg beschädigte oder zerstörten Häuser wurden in der DDR-Zeit repariert oder vereinfacht wieder aufgebaut. Der Altbaubestand lag aber nicht im Focus der Stadtentwicklung, Plattenbauten sollten die Wohnungsnot schneller lindern, und so verfiel nach und nach die Substanz.

Heute findet man in der Auguststraße Gebäude mit historischer Patina (Beispiel Clärchens Ballhaus), aufwendig sanierte Altbauten (Beispiel Kunst-Werke von 1794, Nr. 69) und Neubauten aus Glas und Beton (Beispiel Mehrgenerationenhaus in Nr. 51).

Die Front eines Hauses mit Putzschäden, Abnutzung und Verschmutzung, also im Zustand der Verwahrlosung, in einem technisch aufwendigen Verfahren mit staatlichen Subventionen zu konservieren, so dass es so aussieht, als müsste es dringend restauriert werden, das ist schon eine ungewöhnliche Form von "Denkmalschutz", tatsächlich war die Denkmalbehörde hier eingebunden. Vor der Fassade sind Drahtseile gespannt, die für Installationen genutzt werden können. Benutzt wird das Haus von einem alternativen Projekt, das das Innere dieses Hauses in der Auguststraße 10 in Selbsthilfe sanierte.


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Die Kreuzung der Tucholskystraße mit der Auguststraße wird von vier historischen Miethäusern beherrscht, die zwischen 1794 und 1893 erbaut wurden. Nach Zeiten grauer bröckelnder Fassaden sind sie im alten Aussehen wieder hergestellt worden, wie fast alle Altbauten auf unserem heutigen Weg. Die Bauschäden wurden an manchen Häusern in der DDR-Zeit so grob beseitigt, dass es sehr aufwendig wurde, sie wiederherzustellen. - Am Haus Auguststraße 19 hat man nach der Wende das historische Fassadenbild restauriert, dabei aber die Balkone vergrößert, wodurch eine Disproportion eingetreten ist. - Im Haus der Kunst-Werke (Nr. 69) kann man eine Holztreppe von 1794 bewundern. Das kräftige Geländer rollt sich am Podest schneckenförmig ein, bevor die Treppe frei durch den Raum schwingt.

Clärchens Ballhaus
Cha-Cha-Cha, Walzer und Rumba sind verklungen, es gibt keinen Swing-Unterricht mehr und keine Tango-Tanzkurse, Clärchens Ballhaus hat nach gut hundert Jahren (vorläufig?) dicht gemacht. Eine Berliner Institution für die Tanzwütigen und auf altmodische Art Kontakt Suchenden wartet auf die Auferstehung nach Renovierung des Hauses. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Vorderhaus mit Mietwohnungen zerbombt, aber das Hinterhaus mit dem Ballsaal und dem historischen Spiegelsaal blieb erhalten.


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In den letzten Kriegsmonaten war Vergnügen nicht mehr erwünscht, aber bald nach Kriegsende wurde das Ballhaus wiederbelebt. Von der Straße zurückgesetzt, das Hinterhaus an beiden Seiten mit offenem Mauerwerk, wo früher Seitenflügel standen, ist das Bauwerk ein Monument der Lebensfreude in schwierigen Zeiten.

Schwierige Zeiten in ganz anderem Sinne haben wir auch heute. Wir sehen bei unserem Rundgang ermutigende Zeichen nachbarschaftlicher Solidarität an mehreren Häusern, dort ist angeschlagen: "Falls ihr Hilfe mit Einkäufen braucht, oder es jemanden braucht, der mit eurem Hund Gassi geht, sagt uns gerne Bescheid". Und ein erstes Corona-Graffiti haben wir entdeckt in der Auguststraße. Mit dem Wunsch, bald wieder bessere Zeiten zu erleben, verabschieden wir uns, bis es wieder Spaß macht und sinnvoll ist, durch die Stadt zu flanieren.

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(*) Aus dem Gedicht von Georg Heym, "Berlin III", 1911. Der Dichter Stefan Heym wurde als Helmut Flieg geboren, er nahm während seiner Emigration den Namen Heym an und ist daher nicht verwandt mit dem Lyriker Georg Heym.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route:
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