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Tiefbegabt und hochbegabt


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Graefekiez
Stadtplanaufruf: Berlin, Planufer
Datum: 3. August 2022
Bericht Nr.:780

Ein Sommertag im Kreuzberger Graefekiez. Das Leben spielt sich auf der Straße ab. Blumenkübel entlang der Hauswand, begrünte Baumringe, Vorbeikommende bleiben zu einem Plausch stehen, die Lokale haben sich auf den Bürgersteig ausgedehnt. Ein Abschnitt der Böckhstraße ist als Spielstraße abgesperrt. Urbanes Leben in der Großstadt, die Urbanstraße ist ja nicht weit. Ihr Name scheint auf städtisches, weltläufiges Lebensgefühl hinzuweisen, aber tatsächlich ist es nur ein Schreibfehler.

Südlich des Landwehrgrabens, aus dem 1850 der Landwehrkanal wurde, erstreckte sich eine sumpfige Wiese, auf der die Schlächter-Innung Tiere hütete. Diese Wiese hatte viele Namen: Entensumpf, Wiesenplan, Urlake. Aus "Urlake" wurde durch einen amtlichen Schreibfehler "Urban". Wer schon einmal ein Standesamt oder ein Grundbuchamt dazu bewegen wollte, einen Eintragungsfehler zu korrigieren, der weiß: Ein Amt macht keine Fehler. Und so blieb es bei Urban. Von einem anderen Namen der Schlächterwiese - Wiesenplan - ist das Planufer abgeleitet, das den Graefekiez im Norden begrenzt.

Wohnhäuser im Graefekiez
Der Graefekiez liegt in der Tempelhofer Vorstadt, die bereits 1861 - also noch vor der Proklamation des Kaiserreiches - nach Berlin eingemeindet wurde. Das mithilfe des Landwehrkanals trockengelegte Gebiet wurde im 19. Jahrhundert ein Objekt hemmungsloser Spekulation, als die industrielle Entwicklung immer mehr Menschen vom Land in die Stadt spülte, die als Arbeiter zum ausgebeuteten Proletariat der Stadt wurden. Dicht zusammengedrängt lebten sie in überbelegten Zimmern oder kleinen Wohnungen, in "Stube und Küche" hausten Familien mit mehreren Kindern. Aborte gab es anfangs auf dem Hof, später wurden Podesttoiletten auf der halben Treppe eingeführt, die sich mehrere Mietparteien teilen mussten.

Spekulativer Wohnungsbau von Maurer- und Zimmermeistern bestimmte das Bild im Quartier. In Baugewerkschulen hatten sie einen Wissensstand erworben, der einen Architekten ähnelte. Sie kauften Grundstücke, bebauten sie selbst als Bauunternehmer und verkauften sie sofort wieder, teilweise schon vor der Bauabnahme. Der Erwerber konnte sichere Mieteinnahmen erwarten. Sechs Stockwerke waren erlaubt, später wurde das auf fünf Stockwerke und die Berliner Traufhöhe von 22 Metern reduziert.

In hoch verdichteter Bauweise entstanden Häuser mit Souterrain-Wohnungen und mit mehreren Seitenflügeln und Quergebäuden. Die Höfe mussten anfangs nur 28 qm groß sein: Damit sich eine Feuerspritze darin drehen konnte, waren 5,34 m im Quadrat vorgeschrieben. Ab 1887 wurden die Hoffläche durch eine neue Bauvorschrift auf mindestens 60 qm festgesetzt, zehn Jahre später auf 80 qm.


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Die Straßenfassaden gaben einen bürgerlichen Wohlstand vor, dem die soziale Situation vor allem in den Hinterhöfen nicht entsprach. Typischerweise war in den Vorderhäusern die Wohnung im Hochparterre für den Eigentümer vorgesehen. In den darüber liegenden Etagen wohnten Handwerker, Offiziere, Angestellte und Beamte. Mit industriell hergestellten Stuckteilen und Ornamenten konnten historisierende Fassaden in Formen des Klassizismus oder der Renaissance erschaffen werden.

Im freien Spiel der Phantasie entstanden Fensterrahmungen und Fensterüberdachungen, vorkragende Balkone, gespiegelte Fassaden, abgeschrägte und mit turmartiger Überbauung hervorgehobene Eckbauten. Hinter den Fassaden endete die Phantasie, die meisten Wohnungen waren auf bescheidene Wohnbedürfnisse ausgerichtet.

Hobrechts Bebauungsplan
Die Straßen und Grünflächen im Graefekiez hat James Hobrecht in seinem Bebauungsplan von 1862 festgelegt. Dazu gehören der Grünzug in der Mitte der Grimmstraße und der Zickenplatz (Hohenstaufenplatz). Sein König hatte sich Boulevards nach Pariser Vorbild gewünscht, die in einem Ring die gesamte Stadt umfassen sollten. In Paris waren vom Stadtplaner Haussmann radikal Achsen durch die gewachsene Bebauung geschlagen worden. In Berlin musste Rücksicht auf die Grundstückseigentümer genommen werden, deshalb konzentrierte sich Hobrecht auf die damals noch unbebauten Flächen. Die innere Erschließung von großen Baublöcken fehlte in dem Plan, dadurch konnten sich Mietskasernen mit mehreren Hinterhöfen entwickeln.

Zu einem nicht geplanten Stadtplatz hat sich die Admiralbrücke entwickelt. Sie wurde zu einem Szenetreff mit bottle partys, der sogar in Reiseführern erwähnt wird. Auch ein Kind ist auf der Brücke schon zur Welt gekommen. Mit Rücksicht auf die lärmgeplagten Anwohner gilt dort ab 22 Uhr eine Sperrstunde, die Polizei fordert dann die Feiernden zum Verlassen der Brücke auf. Kurios in einer Stadt, die keine Sperrstunde in Lokalen kennt.


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Auch eine dreieckige Wiese am östlichen Ende des Planufers hat öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Durch Bürgerinitiative wurde aus der verranzten Grünfläche der "Planacker", einer Bienenweide. Ein Imkerverein und eine Grundschule haben das Projekt unterstützt.

Schulen im Graefekiez
Innerhalb der Wohnbebauung des Graefekiezes hat der Berliner Stadtbaurat Hermann Blankenstein mehrere Schulen und ein Krankenhaus errichtet. Am Hohenstaufenplatz erbaute die evangelisch-methodistische Glaubensgemeinschaft 1906 eine Kirche, eingebettet in einen Wohnkomplex. Die Pavillons des alten Krankenhauses Am Urban wurden inzwischen zu Wohnungen umgebaut. Für die Krankenversorgung hatte der Architekt Peter Poelzig 1970 einen Neubau errichtet.

Die Schulstandorte verteilen sich auf drei Straßenkarrees, bei denen insbesondere der Blockinnenbereich ausgiebig genutzt wurde, weil dessen Erwerb preisgünstig war. Zur Straße hin werden dort meist nur schmale Bauten wie die Lehrerwohnhäuser sichtbar. Die Gebäude wurden als Doppelschulen errichtet mit getrennten Bereichen für Knaben und Mädchen. Die scheinbar unzusammenhängenden Bezeichnungen wie "163. & 192. Gemeindeschule" sind darauf zurückzuführen, dass Jungs- und Mädchenschulen getrennt nummeriert wurden.

Blankensteins Bauten sind erkennbar an den Fassaden aus roten und meist auch gelben Backsteinen mit einem Dekor aus farbig glasierten Ziegeln, Terrakotten und Gesimsen aus Formsteinen. Sein Markenzeichen war ein Wappen des Berliner Bären, das sich - manchmal etwas versteckt - oben an all seinen Bauten findet.


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Alle Schulen werden heute noch genutzt, mehrere werden gerade modernisiert, weil die "gründerzeitlichen Schulbauten in ihrem Erhaltungszustand und Ausstattungsstandard nicht mehr den Anforderungen an einen modernen Schulbetrieb entsprechen". An der Böckhstraße durchgehend zur Dieffenbachstraße finden sich das Hermann-Hesse-Gymnasium in einem Straßenkarree und im benachbarten Baublock die Lemgo-Grundschule und die Robert-Koch-Oberschule. Im dreieckigen Straßenblock nördlich der Böckhstraße zur Graefestraße sind die 144., 176. und 184. Gemeindeschule zur Albrecht-von-Graefe-Schule (Integrierte Sekundarschule) zusammengefasst worden.

Planufer
Dem Verlauf des sanft geschwungenen Landwehrkanals folgend, ist um 1900 am Planufer ein malerisches großstädtisches Bauensemble entstanden: Balkone, Loggien und Erker, hoch aufragende Giebel, Portale, schmuckvolle Fensterverdachungen, üppige Fassadenreliefs prägen das Bild. Auch ein Gebäude im Landhausstil ist darunter, das an Alfred Messels Bau in der Sickingenstraße erinnert. Nur ein bekannter Architekt - Gustav Knoblauch - ist hier mit einem Bau vertreten. Die anderen Häuser - meist mehrere von einem - wurden von Baumeistern oder Architekten entworfen, über die sonst nichts überliefert ist.


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Alle in einem Boot
Am Pfingstsonntag 2020 drängelten sich 400 Boote - vom Schlauchboot bis zum größeren Boot - auf dem Landwehrkanal, 1.500 Menschen waren auf dem Wasser unterwegs, an Land nochmal ebenso viele, oft ohne Mundschutz und Mindestabstand trotz der Corona-Auflagen. Die Wasserdemonstration "Alle in einem Boot" wollte zur Solidarität mit Clubs, Festivals und Kulturschaffenden aufrufen, doch sie ging richtig schief. Die Fahrgastschifffahrt musste eingestellt werden, auf Druck der Polizei wurde die Veranstaltung dann abgebrochen, die Wasserschutzpolizei "geleitete" die Boote zurück zum Ausgangspunkt.

Werner-Düttmann-Siedlung
Südlich der Urbanstraße hat der Berliner Senatsbaudirektor Werner Düttmann Anfang der 1980er Jahre einen Komplex von Sozialwohnungen erbaut, bis zu siebengeschossige Häuser mit insgesamt 40 Aufgängen. Im Stadtraum ist die Anlage deutlich von den Altbauquartieren abgegrenzt. Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Siedlung zu einem sozialen Brennpunkt. 2004 waren dort nur noch 10 % der Bewohner deutscher Herkunft, 90 % waren Migranten und Flüchtlinge aus der Türkei, arabischen Ländern, Albanien, Serbien, Palästina, Kurdistan sowie Sinti und Roma. 80 % erhielten Sozialhilfe. Durch ein Quartiersmanagement besserte sich die soziale Situation etwas, 2019 waren die Zahl der Migranten auf 75 % gesunken, nur noch 46 % der Bewohner bezogen Transferleistungen.

Tiefbegabt und hochbegabt
Rico fragt Oskar: "Kann es sein, dass du ein bisschen doof bist?" – "Ich bin ein tiefbegabtes Kind", antwortet Rico da, und Oskar ist platt. Denn er selbst trägt das Etikett "hochbegabt", was bei genauerem Hinsehen keineswegs ein Vorteil ist. Der tiefbegabte Rico kann denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. So fällt es ihm schwer, rechts und links zu unterscheiden, und leicht verirrt er sich. Am sichersten fühlt er sich in seiner Straße, der langen, schnurgeraden Dieffenbachstraße.

Der hochbegabte Oskar ist ein winziger Wicht mit riesigen Zähnen, der einen großen blauen Sturzhelm trägt, weil er ständig Angst hat, hinzufallen. Überhaupt hat er meist schlechte Laune. Wollen Sie wissen, wie die beiden Freunde wurden? Im Buch "Rico, Oskar und die Tieferschatten" von Andreas Steinhöfel können Sie es nachlesen. Steinhöfel bekam dafür mehrere Literaturpreise, auch verfilmt wurde der Roman. Er hat selbst Erfahrungen mit schlechter Laune bis hin zur Depression: "Depression ist, wenn alle deine Gefühle im Rollstuhl sitzen". Wie schön, wenn man dann auch wieder lachen kann, wie über seine Geschichten.

Homerisches Gelächter
Nachdem wir uns am Zickenplatz in einem Café stärken konnten, wollen wir den Bericht mit homerischem Gelächter beenden. Die Lachmannstraße flankiert den Hohenstaufenplatz an seiner Nordseite. Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann war Philologie-Professor, Zeitgenosse und Freund der Gebrüder Grimm. Er erforschte antike römische und mittelalterliche Texte. Lachmann war ein Mensch des feinen Humors, "ein witziger Einfall während seiner Vorlesungen konnte ihn selbst am meisten erfreuen und sein unauslöschliches, homerisches Gelächter hervorrufen“.

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Ein früherer Rundgang im Graefekiez
bis zur Urbanstraße und dem Wrangelbrunnen:
Beim Schulbau verzählt?

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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Schulen im Graefekiez
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Unsere Route:
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Ein Friedhof wird zur Klimaoase
Flüssig, flach und flüchtig