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Die Hoffnung auf Auferstehung


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Friedhöfe Bergmannstraße (erster Teil)
Stadtplanaufruf: Berlin, Südstern
Datum: 5. Januar 2022
Bericht Nr.:758

"Im tiefen Keller sitz ich hier" - Ivan Rebroff und andere haben dieses "Volkslied" gesungen, das der Dichter und Kriegsrat Karl Müchler 1802 geschrieben hat. "Mich plagt ein Dämon, Durst genannt" geht es in der zweiten Strophe weiter, man merkt, das ist ein Trinklied. Nach einer zeitgenössischen Veröffentlichung hat sich Müchler im Staatsdienst "mit unermüdlichem Eifer in den verschiedensten Verwaltungszweigen nützlich gemacht", auch als Kriegsrat, bevor er - von Napoleon verfolgt - "auf dem Gebiete der schönen Litteratur eine erstaunliche Wirksamkeit entfaltete besonders als Mann der Räthsel und Charaden, der Anagramme und Epigramme, der geselligen Unterhaltung und des Frohsinns". Fürderhin konnte er "vom Ertrage seiner Feder leben", wurde aber auch noch durch "ein lebenslängliches kaiserliches Benefizium von jährlich 100 Ducaten" unterstützt.

Wenn man den Alten Luisenstädtischen Friedhof, auf dem er beerdigt wurde, gleichnishaft als tiefen Keller sieht, dann ist sein Aufenthalt auch dort beendet: Das Grab wurde eingeebnet. Willi Wohlberedt - der als Laie in seinem selbst verlegten Friedhofsführer mehr als fünftausend Berliner Grabstätten dokumentiert hat - hat auch diese Grabstelle genannt. Damit ist auch unser heutiges Flanierziel bezeichnet, die Friedhöfe an der Bergmannstraße.

Friedhofskultur
Engel in vielfältiger Gestalt, tröstend oder trauernd, mit Fackel, Lorbeerkranz, Palmwedel oder Rosen / Genien mit Insignien des ewigen Lebens / Christus am Kreuz, von Efeu oder Wurzeln umrankt / Erzengel mit Flammenschwert / der segnende Christus in serieller Vielfalt / Trauernde, die sich vor Gram beugen oder sogar über das Grab werfen / Medaillons mit Portraits der Hingeschiedenen / männliche und weibliche Figuren voller Körperlichkeit -- Friedhöfe sind für die Lebenden gemacht. Es ist immer wieder berührend, mit welcher Hingabe Grabdenkmale früher künstlerisch gestaltet wurden, wie uns Trauer und Vergänglichkeit durch Symbole oder figurale Darstellungen nahegebracht wurden.

Der Lorbeerkranz, der Immortellenkranz aus Trockenblumen und der Palmzweig als Symbole der Unvergänglichkeit / Eine nach unten gerichtete Fackel als Symbol des erlöschenden Lebens / Der Erzengel Michael mit dem Flammenschwert als Seelenbegleiter der Verstorbenen / Eine zarte Frauenfigur unter einem hauchdünnen Gewand als Sinnbild der Hoffnung auf Auferstehung / Ein bärtiger Greis personifiziert Chronos, die ablaufende (Lebens-)Zeit / Füße ohne Bodenberührung als Zeichen himmlischer Gestalten.


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Diese Beerdigungskultur ist Vergangenheit, Grabsteine sind Billigprodukte, jeder dritte Grabstein auf deutschen Friedhöfen kommt aus Indien. Auf die künstlerische Ausgestaltung von Grabdenkmalen wird kaum noch Wert gelegt. Bei Kolumbarien, Gemeinschaftsgräbern (manche anonym), Baum- oder Friedwald-Bestattungen braucht es gar keine Erinnerungsmale. Eine ganze Kultur gerät in Vergessenheit, ihre Zeichen und Symbole verschwinden aus dem kollektiven Bewusstsein. Friedhöfe werden zu Bauland, Efeu wuchert auf den verbliebenen Gräbern, auch der zarten Auferstehungsfigur greift der Efeu schon um den Hals.

Eine Phase, die der Friedhof gottlob überwinden konnte: Die Nazis wollten dort ihren "Hauptfriedhof der Bewegung" einrichten, 22 Nationalsozialisten wurden dort beerdigt, aber keine prominenten. Nach dem Ende des "Tausendjährigen Reiches" waren die Gräber verschwunden, es ist nicht bekannt, wer sie eingeebnet hat.

Alter Luisenstädtischer Friedhof
Friedhöfe sind in der Stadt oftmals als Cluster angelegt worden, mehrere Totenacker nebeneinander. Teils von vornherein so geplant, manchmal nach und nach entstanden. Die vier Friedhöfe an der Bergmannstraße sind zwischen 1825 und 1852 unabhängig voneinander als kirchliche Begräbnisstätten angelegt worden. Der Alte Luisenstädtische Friedhof von 1831 ist mit 90.000 Quadratmetern der größte historische Gemeindefriedhof Berlins. Fast einem Kilometer lang ist die Mauer mit bedeutsamen Erbbegräbnissen, bemerkenswert ist die Zahl von Jugendstilgrabmalen auf dem Friedhof.

Charlotte von Kalb
Für Friedrich Schiller war sie "das erste weibliche Wesen, mit dem ich offen über alles sprechen konnte", sie war ihm Geliebte und Muse neben seiner Braut Lotte von Lengefeld. Jean Paul bewunderte "ihre großen Augen und eine große Seele", auch ihn verband nach Schiller eine Liebesbeziehung mit Charlotte von Kalb: "Sind Sie Ihres Versprechens eingedenk? Kommen Sie heute und um welche Minute? Ich habe Ihnen viel zu sagen". Während dieser Beziehungen war sie in einer Zweckehe mit einem oft abwesenden Offizier eines Fremdenregiments gebunden. Aber aus diesem "Gleichmut des Leidens" wollte ihr Mann sie nicht freigeben für eine Ehe mit Schiller.

Geboren als fränkische Adlige, reihte sich in ihrem Leben ein Unglück an das nächste. Mit sieben wurde sie Vollwaise, von beiden Liebhabern wurde sie verlassen, ihr Mann und ihr Sohn nahmen sich das Leben, sie verlor ihr Vermögen und erblindete im Alter. Mit ihren kritischen Einsichten über Ehe und Familie, Emanzipation der Sinnlichkeit und Befreiung der Frau stand sie im Geiste der späteren Frauenrechtsbewegung. Ihr schlichtes Grab auf dem Luisenstädtischen Friedhof ist von einem metallenen Gitterzaun umgeben.

Architekten-Brüder Luckhardt
Ein Mensch hat sich in tiefer Trauer über das Grab geworfen. Die Hände sind gefaltet, das Gesicht ist in einer Armbeuge vergraben. Ein beeindruckendes Grabmal, das ein königlicher Hoflieferant von Kaviar und Tee errichten ließ. Die Architekten Wassili und Hans Luckhardt entdeckten es auf dem Friedhof und übernahmen es nach Ablauf der Liegezeit als eigene Familien-Grabstätte. Die Brüder Luckhardt haben als Architekten eng zusammengearbeitet, auch im Tod blieben sie und ihre Frauen miteinander verbunden.


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Zwei außergewöhnliche Fakten kommen hier zusammen: Miteinander ruhend auf das Ende der Ewigkeit zu warten, danach haben immer wieder Geistesverwandte und Kampfgefährten gestrebt. Und: Schon vor mehr als hundert Jahren gab es hier die Nachnutzung eines Grabdenkmals. Heute wird dafür geworben, die Erhaltung künstlerischer Grabmale wird auf diese Weise von der evangelischen Kirche publik gemacht und unterstützt.

Zu jung gestorben
Ein Mädchen mit gelocktem Haar schaut uns mit würdevollem Ernst aus dem Medaillon einer Grabstele entgegen. Dorothea Emma Clara ("Clärchen") Rente - so ihr Name - war Spross einer Kaufmannsfamilie, 1878 bis 1882, sie ist nur vier Jahre alt geworden. Die Grabstele aus Granit wurde von einem Berliner Akademieprofessor geschaffen. Mehr ist nicht bekannt, die Trauer über den Verlust eines Kindes kann man kaum nachempfinden.

23 Jahre alt wurde der Volkswirtschaftsstudent Hans Schröder, der in der Zeit des Umbruchs zwischen dem Ende der Kaiserzeit nach 1918 und der beginnenden Weimarer Republik beim Köpenicker Blutsonntag 1920 ums Leben kam. Als Zeitfreiwilliger ohne militärische oder polizeiliche Ausbildung hatte er die Reichswehr unterstützt, um Recht und Ordnung wiederherzustellen.

Schröder wurde in einem Erbbegräbnis bestattet, das mit der schon beschriebenen Auferstehungsfigur eine künstlerisch vollendete Verbindung von Eros und Tod zeigt. Die fein gearbeitete Frauenfigur aus Marmor zeichnet jede Rundung des weiblichen Körpers nach. Ihr Blick ist sanft nach oben gerichtet, eine Hand ruht auf dem Herzen, die andere weist mit betontem Zeigefinger zur Erde.


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Eine Anleihe bei Kaiser Wilhelm
Die Hauptachse des Friedhofs öffnet sich an einem kreuzenden Weg zu einem platzartigen Rondell. Monumentale halbkreisförmig angeordneten Kolonnaden umschließen eine überlebensgroße Personifikation der Trauer. Es gibt auf Friedhöfen einige Beispiele mehrfach verwendeter Figuren und Gestaltungen bis hin zu den in Serie vorkommenden segnenden Christusfiguren. Hier hat der Künstler Robert Baerwald eine Sockelfigur aus seinem in mehr als 15 Städten aufgestellten Denkmal für Kaiser Wilhelm I. in die Friedhofswelt transportiert, um ein Erbbegräbnis damit zu schmücken.

Bildersturm auf dem Friedhof: Ein Komet hebt ab
Max Taut - ein Architekt der Avantgarde in den 1920er Jahren - hatte für den Neuanfang nach dem Kaiserreich einen Bildersturm auf dem Friedhof gefordert: "Grabstein- und Friedhofsfassaden: Zertrümmert die Puppenwitze! Auf den Müllhaufen mit dem Plunder! Hoch das Durchsichtige, Klare! Hoch die Reinheit! Hoch der Kristall!". Als Grabmal auf dem Luisenstädtischen Friedhof entwarf er eine expressionistische Stele aus Muschelkalk, einen Kometen, der zum Himmel auffliegt.


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Sicher eines der ungewöhnlichsten Berliner Grabmale, ein schöpferischer Kontrapunkt der Moderne. Wie ein Fremdkörper wirkt das Kreuz, das aus dem Schweif des Kometen seitlich abknickt. Die Witwe des Verstorbenen hatte auf diesem Symbol bestanden, durch die Aufwärtsbewegung des Kometen wird es - gestalterisch und konzeptionell - etwas beiseite gedrückt.

Grabmal Hobbing
Zu der langen Reihe der Erbbegräbnisse an der südlichen Friedhofsmauer gehört das Grabmal Hobbing. Zu sehen ist eine teilweise verwitterte Szene. Erkennen kann man: Eine aufrecht stehende Figur hängt einem auf dem Stuhl Zusammengesunkenen mit einer Hand einen Mantel um, in der anderen Hand ein Druckwerk. Reimar Hobbing war Verleger, gab Zeitschriften und Bücher heraus, er war im konservativen Umfeld beheimatet. Neben Mitbewerbern wie de Gruyter gehörte der Hobbing Verlag zu den größten Verlagen von Berlin.


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Sichtbare Vergänglichkeit der Friedhofskultur
Die Vergänglichkeit der Friedhofskultur macht auch vor dem Friedhof selbst nicht halt. Abgestützte Wandgräber, abgefallene Schriftzeichen, Figuren ohne Kopf, überwucherte Bildwerke, verrostete Metallzäune, umstürzende Grabsteine, baufällige Mausoleen, leere Flächen ohne Gräber.

Berlins Friedhöfe aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind als Erinnerungsstätten der Kultur-, Geistes- und Sozialgeschichte unersetzlich. Die Bildhauerwerke sind beeindruckend, die städtischen Grünstrukturen unentbehrlich. Vielleicht wird es dort nie wieder einen solchen Reichtum an Kunst und Kultur geben. Der Evangelische Friedhofsverband unterstützt mit "Grabmal-Sponsoring" (Nachnutzung denkmalgeschützter Grabmale) die Rückbesinnungsprozess, Stiftungen und Vereine unterstützen die Denkmalpflege.

Lucie Leydicke
Und dann kommt noch eine Überraschung, eine Erinnerung an Studentenzeiten: Ich stehe vor dem Grab von Lucie Leydicke, gestorben 1980. In die "Traditionsdestille" Leydicke gingen wir als Studenten, als eine Abendvorlesung immer langweiliger wurde. Die Wirtin Lucie Leydicke war extrem kurzsichtig, schaute beim Eingießen nicht seitlich auf das Glas, sondern von oben in das Glas. Dadurch war das Einschenken immer dann beendet, wenn der Obstwein oben am Rand angekommen war. Hier ruht sie, ihre Destille gibt es immer noch, ein anderer hat das Einschenken übernommen.

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Die anderen drei Friedhöfe an der Bergmannstraße können Sie hier besuchen:
Herrn Lachmanns homerisches Lachen
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Hierzu gibt es einen Forumsbeitrag:
Kreuzberg, Friedhöfe Bergmannstraße (5.1.2022)

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Unsere Route:
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Kirchtürme schießen rasant empor
Herrn Lachmanns homerisches Lachen