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Wenn der Hahn gekräht hat, geht die Sonne auf


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Westend
Stadtplanaufruf: Berlin, Platanenallee
Datum: 28. September 2020
Bericht Nr.:713

Mit unserem heutigen Rundgang zwischen Kastanienallee und Reichsstraße setzen wir die Erkundung der Villensiedlung Westend im westlichen Teil fort, nachdem wir im Frühjahr den östlichen Teil zwischen Ahornallee und Kastanienallee besucht hatten. Waren damals vor allem die Bewohner und ihre denkmalgeschützten Bauten unser Thema, so kommen diesmal Kliniken, Stifte und Heime in den Fokus und wir entdecken ein ungewöhnliches Gotteshaus, dem wir hier gern etwas mehr Aufmerksamkeit verschaffen.

Evangelische Kirche Neu-Westend
In der Eichenallee in Neu-Westend hat die evangelische Kirchengemeinde 1960 von Prof. Konrad Sage ein Gotteshaus erbauen lassen. Diese Kirche ist unbeschreiblich - und das ist im Wortsinne gemeint. Jeder Versuch, nur mit beschreibenden Worten beim Empfänger ein Bild der Architektur entstehen zu lassen, das dem Gebäude auch nur annähernd gerecht wird, kann nur misslingen. Vielversprechender ist es, sich dem Bau zunächst von der Idee her zu nähern: Das Kirchengebäude soll "wie ein unregelmäßiger fünfeckiger Kristall aus dem Boden wachsen". Unter dem zeltförmigen Dach sind die Gläubigen geborgen; spitze Dreiecke überall am Baukörper verteidigen die Gläubigen nach außen, man kann sie als Dornen deuten. Es ist ein Schutzraum, der unter dem Eindruck der vor 15 Jahren beendeten Naziherrschaft "ehemals Verfolgte und aktuell Unverstandene" behüten soll.

Mit seiner Vorliebe für Dreiecke, Trapeze und geometrische Figuren mit noch mehr Ecken (Polygone) hat der Architekt Prof. Sage einen unverputzten Stahlskelettbau geschaffen, dessen trapezförmiger Grundriss sich zum Siebeneck aufweitet. Das unregelmäßige Kupferdach ist zur Altarseite tief herunter gezogen, andererseits überspannt es auch den Vorplatz. Das vom Architekten geschaffene Altarkreuz ist leer - Christus ist auferstanden.


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Der Innenraum wird durch eine große Fläche mit gegeneinander verschobenen Dreiecksfenstern in einer Seitenwand und dreieckige Dachgauben über der Orgel belichtet. Die aufsteigenden Sitzreihen verbinden sich mit der Empore. Beim Eintreten wird der Blick durch das tief herabgehende Dach auf die Altarwand fokussiert. Eine ähnliche Inszenierung findet sich bei der Kirche am Lietzensee des Architekten Paul Baumgarten.

Ungewöhnlich ist auch der freistehende Glockenturm aus Betonfertigteilen mit dem Glockenstuhl aus dreieckigen Metallteilen. Dieser "Weihnachtsbaum" musste bereits einmal neu gebaut werden, der Unterbau zeigte Bauschäden. Ungewöhnliche Konstruktionen bergen das Risiko, dass die Bauphysik nicht mit den kühnen Ideen der Entwürfe Schritt hält. Das machte auch vor Stararchitekten wie beispielsweise Frank Lloyd Wright und seinem Projekt Fallingwater oder Mies van der Rohe und seinem Farnsworth-House nicht halt. Ganz zu schweigen von Erich Mendelsohns Einsteinturm, der wegen der Mischung unterschiedlicher Baumaterialien zum "gebauten Bauschaden" wurde.

Villa Hahnen
Wenn ein Architekt, der fünf heute denkmalgeschützte Villen in Westend, Schlachtensee, Kladow und Frohnau erbaut hat, über dem Eingang eines solchen Baudenkmals eine Jahreszahl mit einem stilisierten Hahn abbildet, dann ist das sicherlich kein Zufall. Der Konditor Hubert Hahnen hat sich 1925 in der Kirschenallee ein Landhaus bauen lassen, das mit dieser Jahreszahl und einem Hahnsignet geschmückt ist.


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Der Hausherr betrieb am Nollendorfplatz ein Restaurant mit Konditorei, von dem heute noch Bildpostkarten antiquarisch im Umlauf sind. Angeschlossen war die Bar "Chantecler", deren Name ebenfalls auf einen Hahn verweist. Nach einer französischen Fabel glaubte Chantecler, dass die Sonne erst aufgeht, wenn er gekräht hatte - eine grobe Überschätzung der eigenen Wichtigkeit, die uns ganz neuzeitlich anmutet.

Wohnhaus Leistikowstraße
Emilie Winkelmann wusste, dass die Architektur ihre Berufung war, nur durfte kurz nach 1900 eine Frau diesen Diplomstudiengang nicht studieren, Architektur war (noch) Männersache. So verkürzte sie ihren Vornamen um einen Buchstaben auf "Emil" und besuchte in Hannover die Vorlesungen. Das Diplom bekam sie trotzdem nicht, aber unverdrossen gründete sie 1908 in Berlin das erste weibliche Architekturbüro. Bis zu 15 Zeichner beschäftigte sie und baute bis zum Zweiten Weltkrieg rund 30 Häuser

Das große städtische Mietshaus in der Leistikowstraße 2 mit Wohnungsgrößen bis zu 14 Zimmern erbaute sie 1910: Der Eingangsbereich mit einem opulenten, von Säulen eingefassten Portal geschmückt, die schlichte oliv-grüne Putzfassade mit vielfältigen Fensterformen gegliedert. Andere Aufträge erhielt sie vielfach aus dem Umfeld der Frauenbewegung. So baute sie das Victoria-Studienhaus in Charlottenburg, eine zentrale Wohn- und Bildungsstätte für Berliner Studentinnen, zu jener Zeit eine einmalige Einrichtung. Über der Säulenvorhalle trägt das Haus den Namen seiner Stifterin Ottilie von Hansemann.

Paulinenhaus
Zwischen Kastanienallee und Reichsstraße finden wir in Westend eine ungewöhnliche Ansammlung von Kliniken, Stiften und Heimen. Als erstes treffen wir bei unserem Rundgang von der Platanenallee Richtung Spandauer Damm auf das Paulinenhaus. Als Kinderkrankenhaus wurde es 1903 vom Verein Paulinenhaus gegründet. Die Patenschaft übernahm die Fürstin Pauline zur Lippe, die als "gescheidt, thätig aber sehr eigenwillig" beschrieben wird. Sie "entwickelte schon früh neben allen Vorzügen edler Weiblichkeit Charakter- und Geisteseigenschaften wie sie sonst nur Männern eigen sind." Immerhin brachte sie es damit zur Kabinettssekretärin und konnte ihren oft kranken Ehemann kompetent beim Regieren vertreten. Für die Patenschaft waren aber sicher ihre Ideen und Vorschläge zur staatlichen Organisation der Armenpflege ausschlaggebend. Das Paulinenhaus ist heute die Pflegeresidenz einer Schweizer "Care-Management-Gesellschaft".

Städtisches Kinderkrankenhaus Rüsternallee
Achtzig Mütter und ihre Säuglinge fanden Platz in dem städtischen Kinderkrankenhaus, das die Stadt Charlottenburg 1909 als Zweiflügelanlage an der Rüsternallee 24 durchgehend zur Platanenallee 23 erbauen ließ. In der Nachkriegszeit wurde dort vom Max-Bürger-Zentrum ein Diagnose- und Behandlungszentrum für Kinder und Jugendliche betrieben, bis die Vivantes-Kliniken das Zentrum schluckten und schlossen. In dem reich geschmückten Bau, der als Villa Ottilie vermarktet wurde, sind heute 50 Wohnungen untergebracht.

Rudolf-Höhne-Stiftung
Der malerische, mit Fachwerk geschmückte Bau der Rudolf-Höhne-Stiftung in der Ebereschenallee wurde von der privaten Stiftung 1911 als Altersheim mit 50 Plätzen errichtet. Über 60 Jahre alte Männer und Frauen erhielten ein eigenes Zimmer, freie Beleuchtung sowie 180 Mark jährlich und konnten über die Anstaltsküche verpflegt werden. Heute betreut ein Förderverein dort psychisch Kranke.

Stiftung Luisens Andenken
Ein stilisierter Rosenbusch und die Schriftrolle "Luisens Andenken" an der Villa in der Ulmenstraße schmücken das Waisenhaus, das 1905 von der Stiftung gleichen Namens erbaut wurde. Gegründet wurde die Stiftung für sozial Benachteiligte von der Prinzessin Luise Auguste Wilhelmine Amalie von Preußen. Die von den Berlinern stark verehrte Königin Luise von Preußen war ihre Mutter, und Wilhelm I., deutscher König und Kaiser, war ihr Bruder.


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Und noch eine Luise gab es in der Generationsfolge, Wilhelmine Friederike Alexandra Anna Luise, die den König von Schweden heiratete. Sie war die Tochter der hier am Haus geehrten Prinzessin Luise Auguste und Enkeltochter der preußischen Königin Luise – die Luise gab es dreifach.

Kuranstalten Westend Nußbaumallee, Ulmenallee
Zwischen Ulmenallee und Nußbaumallee hat sich im Laufe der letzten 130 Jahre ein Cluster von Kliniken entwickelt. Eine 1887 gegründete "Privat-Irrenanstalt" wurde 1896 durch den Bau eines Kurhauses zum Sanatorium erweitert. Die "Dr. Weiler's Kuranstalten Westend" bezogen auch angrenzende Villen und Häuser mit ein. 1957 übernahm die Freie Universität das Areal für seine Psychiatrische und Neurologische Klinik.

Der Vater von Marlene Dietrich wurde in den Kuranstalten Westend wegen Syphilis gepflegt. Die Schauspielerin war deshalb als Siebenjährige mit ihrer Mutter in eine Wohnung in der Akazienallee 48 gezogen, nur wenige Schritte von den Kuranstalten Westend entfernt. Vorher war sie in der Leberstraße auf der Roten Insel aufgewachsen. 1908 starb der Vater in der Klinik an Syphilis. Als Todesursache wurde später Herzversagen angegeben und als Sterbeort die Wohnung in der Akazienallee, um der Peinlichkeit der wahren Krankheit zu entgehen, die sich der Vater - ein Königlicher Polizeileutnant - bei Prostituierten eingefangen hatte.

Psychiatrie Eschenallee
Die Nußbaumallee wurde 1979 an der Eschenallee mit einem massiven Gebäuderiegel überbaut, der von Dimension, Proportion und Materialität keine Rücksicht nimmt auf die ihn umgebende Villensiedlung. Deutlicher gesagt, er wurde hineingeklotzt. Dieser Erweiterungsbau gehörte zur Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, er war eine Außenstelle des Krankenhauses Westend der Freien Universität. Nach der Wende hat die Charité die Trägerschaft übernommen und die Klinik 2015 nach Steglitz in ihren Campus Benjamin Franklin umziehen lassen. Damit verlässt eine ungeliebte Institution Westend, denn "Eschenallee" war für den einschlägigen Westberliner fast so ein Synonym für Psychiatrie geworden wie "Bonnies Ranch", schreibt Gesundheitsstadt-Berlin.de.

Der Fremdkörper von Gebäude steht weiterhin an der Eschenallee, und es war 2015 fast zwangsläufig, dass er in ein Flüchtlingslager umgewandelt wurde ("Wir schaffen das"). Die Unterkunft mit einer Fläche von 9.000 Quadratmetern ist von der Aufenthaltsqualität her wahrscheinlich besser als ein Container ("Modulare Unterkünfte"), bringt aber dem Kiez ein Integrationsproblem mit Hunderten von Flüchtlingen.

St.-Elisabeth-Stift
Nördlich der Nußbaumallee befand sich seit 1900 das St.-Elisabeth-Stift, ein Sanatorium der Kongregation der "Grauen Schwestern von der Heiligen Elisabeth", das "grau" bezieht sich auf ihre Ordenstracht. In den 1920er Jahren wurde das Stift um eine HNO-Klinik und einen Operationstrakt erweitert. Obwohl das Charlottenburger Denkmalbuch von 1961 "keine wesentlichen Kriegsschäden" konstatierte, wurden die Gebäude abgerissen und durch "drei moderne Stadtvillen" ersetzt.

Bewohner Westends
Werfen wir noch einen Blick auf die Bewohner Westends. Hedwig Heyl, eine bedeutende aber politisch umstrittene Frauenrechtlerin wohnte in der Ulmenallee 30. Sie rief die erste Haushaltungsschule und die erste Gartenbauschule für Frauen ins Leben und gehörte zu den Gründerinnen des Deutschen Hausfrauenbundes. Als Vorsitzende des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft versuchte sie, Mischehen der Deutschen in den Kolonien mit Einheimischen ("Verkafferung") zu verhindern und stattdessen "Frauen für die Kolonisten auszusuchen und geeignetes Mädchenmaterial zu verschicken".

In der Leistikowstraße 6 wohnte der Schriftsteller Hugo Hartung, nach dessen Texten die Filme "Ich denk oft an Piroschka" und "Wir Wunderkinder" gedreht wurden. Die Berliner Volksschauspielerin Brigitte Mira (Akazienallee 46) muss man nicht erst vorstellen, ihr Mundwerk wird jeder im Ohr haben, der sie einmal gehört hat; Rainer Werner Fassbinder entdeckte sie für ernste Rollen. Aus der "Raumpatrouille Orion", von der Theaterbühne und aus Filmen kennen wir den Schauspieler Claus Holm, er wohnte in der Eichenallee 35.

Der Bildhauer Paul Dierkes (Ebereschenallee 29) erlebte es wie Beuys mit seiner "Fettecke", dass ein Kunstwerk nicht als solches erkannt wurde und vernichtet wurde. Dierkes Sohn hatte dem Kunstamt Charlottenburg zwei Plastiken leihweise überlassen. Aus der Rückgabe wurde nichts, die zwei Steine waren wenige Jahre später als Bauschutt entsorgt worden. Bei einer abstrakten Skulpturengruppe Dierkes, die am Innsbrucker Platz eingezäunt stand, weil sie umzukippen drohte, war dem Bauamt die Urheberschaft unbekannt. Glücklicherweise wusste die Kulturstadträtin, wer der Bildhauer war und konnte Schlimmeres verhindern.

Nachdem wir uns in der Pannwitzstraße mit Trägern dieses Namens beschäftigt hatten, fällt unser Blick auf den Schriftsteller Rudolf Pannwitz (Eichenallee 23), von dessen Schriften unter anderem Hermann Hesse und Hugo von Hofmannsthal beeindruckt waren. In Westend verkehrte Pannwitz im Haus des Philosophen Georg Simmel und des Malers Reinhold Lepsius und unterrichtete deren Kinder als Hauslehrer.


Unser Flaniermahl nehmen wir beim Italiener Piccolo Mondo an der Reichsstraße ein, nachdem wir ihn mit einem benachbarten Italiener verglichen haben. Die Wahl ist gut, an einem Tisch mit weißer Tischdecke sitzen wir zwar draußen an der verkehrsreichen Straße, die aber genügend Luftzug bietet, um coronafrei atmen zu können. Die Bedienung ist aufmerksam, das Essen schmeckt, der Rotwein hat die richtige Temperatur und der Weißwein ist gut gekühlt.
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Unsere Route:
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Auf dem Holzweg
Zum Ausklang des Abends: Marschmusik