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Kleingartenland im Wasser versunken


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Siemensstadt, Schleuse Charlottenburg
Stadtplanaufruf: Berlin, Tegeler Weg
Datum: 30. August 2021
Bericht Nr.:745

Dauerhaft ist nur die Veränderung: Es ist erstaunlich, wie beständig sich die Infrastruktur auf einer Stadtfläche von nur einen Kilometer Ausdehnung ändern kann: Stadtstraßen, Wasserstraßen, Schleusen, Brücken, U-Bahnhof, S-Bahntrasse und S-Bahnhof, Freileitung für den Strom, nach und nach ist alles im Bereich der "Schleuseninsel" unter der Rudolf-Wissell-Brücke neu- oder umgebaut worden, und immer noch ist kein Ende abzusehen. Nicht einmal einen offiziellen Namen hat die Insel bekommen, deshalb steht "Schleuseninsel" in Anführungszeichen.

S-Bahnhof Jungfernheide
Am Bahnhof Jungfernheide beginnt unser Stadtspaziergang, hier treffen U-Bahn, S-Bahn und Regionalbahn aufeinander. 1891 eröffnete der S-Bahnhof als neuer Haltepunkt an der bestehenden Ringbahn. 1908 erbaute man einen zweiten Bahnsteig, um dort die Vorortzüge Richtung Nauen abzufertigen. Ab 1929 fuhren dann auch die Züge der Siemensbahn von Jungfernheide ab, für die ein dritter Bahnsteig (C) hinzugekommen war. Dadurch ergab sich ein Kuriosum: Die Züge aus Siemensstadt hielten zum komfortablen Umsteigen nacheinander an den Bahnsteigen B und C, so konnte man mit der S-Bahn von Jungfernheide nach Jungfernheide fahren. 1975 wurde der Bahnsteig C abgerissen, er musste dem Bau der U-Bahn weichen. Dafür wurde der Bahnsteig B verbreitert.

Die 1929 eröffnete Siemensbahn war ein Zubringer zu den Siemenswerken. In der Nachkriegszeit wurde er 1980 stillgelegt, jetzt soll er wieder reaktiviert werden, um den geplanten neuen Stadtteil - den Siemens-Campus - an den öffentlichen Nahverkehr anzuschließen. Über "neue Arbeits- und Lebenswelten in der Siemensstadt" freut sich unser Regierender Bürgermeister, einen "Smart Campus der Zukunft" verspricht Siemens, gemeinsam unterzeichneten sie einen städtebaulichen Rahmenvertrag. Ronald Pofalla, bei der Bahn zuständig für Infrastruktur, nahm das sogar zum Anlass, vollmundig zu behaupten, "dass wir es ernst meinen mit der Wiederbelebung von stillgelegten Bahnstrecken". Ob er die Liste der 500 seit 1994 stillgelegten Strecken kennt, die das Eisenbahnbundesamt veröffentlicht hat? Da wäre im "Ernst" viel zu tun.

In Höhe Schuckertstraße steht noch der Rest der Eisenbahnbrücke, über die die Siemensbahn von Norden kommend die Spree überquerte. Die Bahn schwebte von dort zum Gleiskörper der Ringbahn und schmiegte sich dort an. Wegen des Ausbaus der Spree Richtung Schleuse wurde die Brückenverbindung zum Südufer gekappt.

Bau der U-Bahnlinie U 7
Die Bahnsteige des U-Bahnhofs Jungfernheide liegen als Richtungsbahnhöfe untereinander. Hier sollen von jedem Bahnsteig jeweils zwei Züge in derselben Richtung abfahren können, aber der Zugang zum zweiten Gleis ist durch Gitter abgesperrt, es wird nicht gebraucht. Ein Zustand, wie wir ihn beispielsweise auch vom Bahnhof Schloßstraße kennen: Hier war ein Umsteigen angedacht zu einer Geisterlinie U 10, die nicht gebaut wurde. In Jungfernheide sollten die Züge der verlängerten Linie U 5 halten, die von Hönow bis zum Flughafen Tegel fahren sollte. Aus dem Projekt wurde nichts, auch durch die zeitgleich vorbereitete Zwischenetage im U-Bahnhof Turmstraße fahren keine Züge. Die U 5 ist jetzt gerade zum Hauptbahnhof verlängert worden, die Turmstraße soll von dort aber nicht mit der U-Bahn angebunden werden, sondern durch die Verlängerung der Straßenbahn.

Im U-Bahnhof Jungfernheide sind als Vorleistungen zwei Tunnelstummel vorhanden, einer Richtung Hauptbahnhof und ein größerer Richtung Tegel, der den Westhafenkanal unterfährt. Eine Wehrkammer schottet den Tunnel ab, damit er nicht voll Wasser laufen kann. In dem blinden Ende steht ein 4-Wagen-Zug der U-Bahn, der für Notfallübungen der Feuerwehr und BVG genutzt wird.

Überblick von der Brücke aus
Vom Bahnhof Jungfernheide Richtung Norden führt der Tegeler Weg über eine blaue Stabbogenbrücke, die den Westhafenkanal überquert. Von hier aus hat man alle Eingriffe in die Infrastruktur vor Augen, die diesen Bereich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben - wegen des Baus der Stadtautobahn in den 1960er Jahren und beim Ausbau der Wasserstraßen nach der Wende. Man blickt auf eine zerschnittene Straßenverbindung des Nonnendamms mit dem Tegeler Weg und auf einen Wasserlauf, unter dem Kleingartenland versunken ist. Weiterhin auf eine neue Brücke, die den dadurch zur Insel gewordenen Bereich an das "Festland" anschließt. Zwei Schleusen liegen an dieser Insel an, eine alte und eine neue auf dem gefluteten Wasserbogen. Man sieht einen Brückenrest der Siemensbahn, die übrigen Brückenteile mussten dem Wasserstraßenausbau weichen. Weiter fällt der Blick auf den Abspannmast einer Hochspannungs-Freileitung, nicht einmal einen Kilometer vom Schlosspark Charlottenburg entfernt. Und ein Backsteinbau steht auf einer Brachfläche als Erinnerung an einen bedeutenden Industriebetrieb, dessen weitere Bauten den Betonpfeilern der Stadtautobahnbrücke weichen mussten

Mörschbrücke
Die Mörschbrücke ist diese blaue Stabbogenbrücke, die im Verlauf des Tegeler Wegs den Westhafenkanal überquert und die Rudolf-Wissel-Brücke unterquert. In den 1930er Jahren sollte eine "Jungfernbrücke" die Spree überspannen, Fundamente, Wände und Widerlager waren schon gebaut, dann gab es wegen des Krieges kein Material mehr. Erst 1953 wurde der Brückenbau vollendet und diente 50 Jahre lang dem Verkehr. Containerschiffe konnten darunter nicht durchfahren, deshalb wurde die Brücke ein Opfer des Wasserstraßenausbaus, 2003 wurde sie mit größerer Durchfahrtshöhe völlig neu gebaut.


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Rudolf-Wissell-Brücke
Über Berlins mit 931 Metern längstes Brückenbauwerk - die 1961 gebaute Rudolf-Wissell-Brücke - führt die Stadtautobahn mit einem der frequentiertesten Autobahnabschnitte Deutschlands. Auch heute ist wieder Stau auf der Brücke über unseren Köpfen, wie viele Jahre ihres Lebens mögen ständige Benutzer dort oben im Fahrzeug zugebracht haben? Berlin ist ohnehin Stau-Hauptstadt, durchschnittlich verbringt ein Berliner Autofahrer jährlich mehr als sechs Tage im Stau.

Als Jugendlicher habe ich fasziniert von der S-Bahn aus gesehen, wie in den 1960er Jahren beim Brückenbau ein Pfeiler in den Himmel ragte, dem in luftiger Höhe die Fahrbahn Stück für Stück seitlich angefügt wurde. Dieser Freivorschub erweist sich jetzt nach 60 Jahren bei der notwendigen Reparatur der Brücke als Nachteil. Man kann nicht eine Fahrbahn absperren, abreißen und erneuern, es ist alles ein Stück. So soll eine neue Brücke mit gut halber Breite daneben gebaut werden. Auf der Schleuseninsel werden dafür weitere Betonpfeiler eingerammt. Später wird die alte Brücke abgerissen und die andere Richtungsfahrbahn dort neu geschaffen.

Ist unter der Brücke genügend Platz, um die Siemensbahn darunter durchfahren zu lassen, nachdem die Bahn den Wasserlauf kurz vorher erst auf einer Spreebrücke überquert hat, die wegen der Containerschiffe höher gesetzt werden muss? Unser Augenmaß wird nicht ausreichen, das zu beantworten, doch Gedanken muss man sich darüber machen, schließlich hat schon bei der Mörschbrücke die Durchfahrtshöhe nicht für Containerschiffe ausgereicht. Und als der Neubau der Autobahnbrücke geplant wurde, war an die Siemensbahn noch nicht wieder zu denken.

Neue Schleuse, Verlegung der Spree, Kleingartenland im Wasser
Land unter: Damit "Großmotorgüterschiffe" und Schubverbände die Spree passieren können, wurden nicht nur Brücken neu gebaut und eine Schleuse, sondern auch verfügbares Land unter Wasser gesetzt. Nördlich der Alten Schleuse Charlottenburg und des Nonnendamms wurde die Spree in einem Bogen durch die Kleingartenanlage Bleibtreu II geführt. Landfläche und Straßenverbindungen gingen verloren, plötzlich befinden sich der ehemalige Industriestandort des Schuhkremproduzenten Otto Lemm und ein Teil der Kleingärten auf einer Insel.

Wenn man den einzigen Zugang - die neue Verbindungsbrücke - überschritten hat, empfängt einen auf der Insel eine eigenartige Atmosphäre. Zuerst bestimmen die Betonbrücken das Bild, die über- und untereinander in irgendwelchen Winkeln kreuzen, ohne sich zu berühren. Über den Köpfen schwebt die Autobahnbrücke, auf der sich PKWs und Lastwagen vorwärts kämpfen, manchmal mit hupen und ab und zu durch ein Martinshorn beiseite gedrängt. Auf einer Wiese steht, von Bäumen und Sträuchern umgeben, einsam ein Backsteinbau. Auf dem Weg zur Alten Schleuse begleitet der Uferstreifen an der Spree den Weg. Interessante Blüten und Pflanzen ziehen den Blick auf sich. Am Ende der Insel liegt die Alte Schleuse im Tiefschlaf, zwischen den Steinen haben grüne Sträucher angefangen, sich das Terrain zu erobern.

An der Alten Schleuse endet der Nonnendamm, der früher bis zum Tegeler Weg führte, als die Insel noch "Festland" war. Mit dem Kopfsteinpflaster ist noch ganz alter Straßenbelag vorhanden. Wer sich in der Innenstadt manchmal sauberere Straßen wünscht, kommt aus dem Staunen nicht heraus, auf dieser Sackgasse im Grünen eine Kehrmaschine der Straßenreinigung in Aktion zu sehen, wie sie die Blätter am Wiesenrad beiseite bürstet.

Hochspannungs-Freileitung
Auch ein weiterer Blick macht Staunen: Nahe der Rudolf-Wissell-Brücke steht ein Strommast an der Spree, im Innenstadtbezirk Charlottenburg wird eine Starkstromleitung über Freileitungsmasten geführt! Es handelt sich um kein historisches Relikt, sondern um eine Installation nach der Wende. Die Leitung ist Teil der "380 kV-Transversale" (von lat. querliegend, entsprechend ihrem Verlauf im Stadtgebiet), sie leitet Strom mit einer Spannung von 380.000 Volt durch die Stadt.


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Das Kabel ist bis auf diese Freileitung in einem Tunnel verlegt, der streckenweise 30 Meter tief liegt, begehbar ist und mit einer Einschienen-Hängebahn befahren werden kann. Vom Heizkraftwerk Reuter-West bis nach Marzahn reicht dieses Kabel, von dort aus ins Umland wird der Strom durch eine Freileitung weiter verteilt.

Bis der Strom aus der Steckdose kommt, wird er in zwei Stufen von Hochspannung (380.000 Volt) über Niederspannung (110.000 Volt) auf unseren Haushaltsstrom von 230 Volt "umgespannt". Nur im ehemaligen Ostteil der Stadt gibt es noch einige Freileitungen, die den Niederspannungsstrom von den Umspannwerken weiter verteilen. In Pankow steht sogar ein Strommast auf einem Schulhof, er gehört zu dem der Trelleborg-Schule benachbarten Umspannwerk Lunder Straße.

Urbin der gute Schuhputz
Aus der S-Bahn und von der Rudolf-Wissell-Brücke aus kann man das fünfstöckige Backsteingebäude mit der seitlichen Werbeaufschrift eines Baufachhändlers sehen. Einsam steht es auf einer Wiese, die den größten Teil der Schleuseninsel einnimmt. Abgeschieden von der umgebenden Stadt nutzen Künstler das heutige Atelierhaus, das als einziger Bau einer Industrieanlage dem Abriss entgangen ist.

Die Ansiedlung begann 1896 mit einer Schweinemästerei, deren Schweinestall zwei Jahre später zu einem Kesselhaus mit hohem Schornstein umgebaut wurde. Es folgten ein Lagergebäude und ein Fabrikgebäude, die bis in die 1920er Jahre von der Fabrik des Schuhcreme- und Putzmittelfabrikfabrikanten Otto Lemm genutzt wurden. Er ist mit "Urbin der gute Schuhputz" und ähnlichen Produkten sehr reich geworden, war einer der erfolgreichsten Unternehmer seiner Zeit.


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Auf Ländereien, die er in Gatow erwarb, ließ er sich an der Havel eine hochherrschaftliche Villa bauen mit Pförtnergebäude, Wirtschaftsgebäude, Gewächshaus, Gartenpavillons und Bootshaus. In der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Anwesen vom Britischen Stadtkommandanten als angemessene Residenz auserkoren. Bei Staatsbesuchen residierte auch Königin Elisabeth II. mehrfach in der Villa Lemm.

Von demselben Architekten ließ Otto Lemm seine letzte Villa auf dem Friedhof der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche errichten, ein Mausoleum mit Andachtsraum und Altar, von einer Kuppel überwölbt. Wandgemälde im Andachtsraum und Mosaike in der Kuppel bilden die Villa Lemm ab und zeigen Familienszenen sowie die (mutmaßlichen) Tugenden des Verstorbenen: Glaube, Liebe, Sanftmut, Weisheit. Mehrfach haben sich Grabräuber an der Ruhestätte zu schaffen gemacht, deshalb wurden nachträglich die Verstorbenen in der Erde bestattet.

Der Grabplatz lag in symbolischen Nähe zu seiner Fabrik, nur 700 Meter von der heutigen Schleuseninsel entfernt. So konnte Otto Lemm von seinem Arbeitsplatz dem Bau des Mausoleums zusehen und später aus der Ewigkeit - wenn es so etwas gibt - seine Fabrik im Auge behalten.
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Unsere Route:
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Auf der Durchreise
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