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Karawane durch das Reich des silbernen Löwen


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Zwischen Kudamm und Kantstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Mommsenstraße
Datum: 1. April 2019
Bericht Nr.:651

Wenn man als Erwachsener den Ort seiner Jugend besucht, mischen sich Vergangenheit und Gegenwart. In der Bleibtreustraße gab es in den 1950er Jahren noch Ruinen, in denen Buntmetalldiebe nach verwertbarem Altmaterial suchten. Einschusslöcher aus Kriegszeiten sind noch heute in Gehwegplatten sichtbar. Es gab den "Kohlenklau", der fremde Brennstoffe für eigene Zwecke entwendete. Die Gewerbeaufsicht verfolgte gnadenlos Verstöße gegen die Ladenschlusszeiten, trotzdem konnte man beim Milchmann im verdunkelten Laden einige Kunden antreffen, wenn man am Hintereingang klingelte. Ein deutsches Fräulein, das Arm in Arm mit einem Besatzungssoldaten ging, wurde hinter ihrem Rücken als Amiliebchen beschimpft.

Der Anblick der Straßen hat sich natürlich gewandelt. Zwei Eckgrundstücke sind in der Nachkriegszeit zweimal nacheinander neu bebaut worden. An der Ecke zum Kudamm war es das MGM-Kino, 1956 erbaut, dessen Beinfreiheit dem Theaterkritiker Friedrich Luft einen extra Kommentar wert war. Als das Kinosterben um sich griff, wurde der Nachkriegsbau - ein Solitär - abgerissen und durch ein Geschäftshaus ersetzt. An der Mommsenstraße hat ein siebenstöckiger Eckbau mit wellenförmig verlaufenden Balkons den ursprünglich niedrigeren Nachkriegsbau mit einem Supermarkt im Erdgeschoss verdrängt. Martin Wagners Idee der Verfallzeit eines Gebäudes ist hier längst Realität geworden.

Jüdisches Leben
Unser heutiges Ziel liegt zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße. Wir flanieren auf der Mommsenstraße und der parallel zu ihr verlaufende Niebuhrstraße sowie ihren Querstraßen Knesebeck-, Bleibtreu- und Wielandstraße. Dieses Quartier des gehobenen Bürgertums wurde um 1900 bebaut. Vielen Stolpersteine weisen auf frühere jüdische Bewohner hin. In der Bleibtreustraße 2 ist 1926 ein jüdisches Badehaus geschaffen worden, eine Mikwe. Sie diente der rituellen Reinigung, unbekleidet musste der gesamte Körper untergetaucht werden. Im Keller des Hauses waren zwei Bassins mit Regenwasser und Brunnenwasser sowie drei Tiefbäder vorhanden. Das Wasser wurde durch einen Boiler erwärmt. Im Krieg ist das Haus zerstört worden.

Prominente Frauen
Mehrere Gedenktafeln weisen auf geachtete und gefeierte Frauen hin, die hier gewohnt haben. Mascha Kaléko, polnisch-deutsch-jüdische Dichterin, lebte in der Mommsenstraße 44 und in der Bleibtreustraße 10. Am Groß-Glienicker See nahm sie Auszeiten vom Stadtleben. Während des Dritten Reichs ging sie ins Exil nach New York.


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"Manchmal, mitten im freien Manhattan, unterwegs auf der Jagd nach dem Glück", dachte sie sehnsuchtsvoll an Berlin zurück:
____"Ob Ecke Uhland die Kastanien wohl blühn?"

Die Schauspielerin Tilla Durieux wohnte im Haus Nr.15. Lange bevor sie in die Bleibtreustraße gezogen war, hatte sich ein Ehedrama abgespielt. Ihr Ehemann Paul Cassirer nahm sich während der Scheidungsverhandlung theaterreif das Leben. Jahrzehnte später, nach einer weiteren Ehe, ließ sie sich neben Cassirer in seiner Grabstelle auf dem Friedhof Heerstraße beisetzen. Die irdische Liebe war den beiden nicht gegeben, jetzt bleiben sie für die Ewigkeit zusammen.

Dass man ganz anders auf einen Wirrkopf und Exzentriker reagieren kann, hat die Frau des preußischen Prinzen Friedrich Leopold gezeigt. Die Ehe war getrübt, er war gewalttätig, so dass sie testamentarisch anordnete, nicht neben ihm beerdigt zu werden. Tatsächlich blieb das vorgesehene Grab neben ihm im Glienicker Park leer.

Lene Schneider-Kainer
In der Niebuhrstraße 78 wohnte bis 1926 Lene Schneider-Kainer. Sie war eine ungewöhnliche Frau, die nach ihrer Scheidung mit 39 Jahren zu neuen Ufern aufbrach. Und das ist wörtlich zu verstehen: Als Malerin, Journalistin und Fotografin bereiste sie zwei Jahre lang Asien und berichtete darüber im Berliner Tageblatt unter dem Titel "Im Reich des Silbernen Löwen". Begleitet wurde sie von einem Schriftsteller. Mit Karawanen oder auf dem Esel durchquerte sie Russland, Persien, Indien, Burma, Thailand, Vietnam, Tibet, Hongkong und China. Zurück fuhr sie mit der Transsibirischen Eisenbahn. Sie kam in Gegenden, in denen "die Eingeborenen noch niemals fotografische Geräte gesehen hatten". Die Fremden waren auch über ihre Skizzen verwundert, mit denen "eine Frau Gesichter und Formen wie Briefe auf Papier schrieb”.

Nach der Machtergreifung der Nazis lebte sie auf Mallorca und Ibiza, ging nach New York und schließlich nach Bolivien. Im Laufe ihres rastlosen schöpferischen Lebens malte sie mit Öl und Aquarell, illustrierte Bücher und Zeitschriften, veröffentlichte erotische Druckgrafik-Mappen, gab wasch- und kaubare Kinderbücher heraus und gründete in Bolivien eine Textilfabrik für einheimische Teppiche und Stoffe. Lene Schneider wurde 86 Jahre alt.

Vereinigung für Frauenwohnungen
Durch die industrielle Revolution wurde die Dunkelheit aus der Stadt vertrieben. Die Straßenbeleuchtung führte zu einem umtriebigen Nachtleben, so dass Berlin nun täglich zweimal erwachte, "am Morgen zur Arbeit, am Abend zum Vergnügen". In der Metropole um 1900 war das Leben schwierig für alleinstehende Frauen: "Gejagte waren in diesen aufgeladenen Nächten immer und überall die Frauen. Zeigten sie sich nachts, mussten sie stets darauf gefasst sein, nach dem Grund ihrer Anwesenheit gefragt zu werden. Frauen ohne Begleitung standen nachts in der Stadt automatisch unter Prostitutionsverdacht". Auch tagsüber waren unbegleitete Frauen gut beraten, die Stadt nicht allein zu erkunden, zu leicht wurden sie mit denjenigen gleichgesetzt, die als Professionelle ihre Handtäschchen schlenkerten.

Einzelne Stiftungen schufen Wohnmöglichkeiten für alleinstehende Frauen. Beispielweise in Wedding die Lange-Schucke-Stiftung für "unbescholtene Witwen und Jungfrauen im vorgerückten Alter" oder in Zehlendorf die Sidonie-Scharfe-Stiftung für "arme Witwen und benachteiligte alte Mädchen aus besseren Ständen". Und es gab berufsbezogene Wohnheime für Postbeamtinnen oder Lehrerinnen. In der Mommsenstraße 6 wurden Frauenwohnungen auf genossenschaftlicher Basis angeboten. Sie boten gemeinschaftlichen Haushalt ohne persönliche Beschränkung und ohne Abhängigkeit von einer Hilfsorganisation. Die 1912 gegründete "Vereinigung für Frauenwohnungen" vermietete Einzelzimmer und Wohnungen ausschließlich an Frauen. Später wurde daraus die Genossenschaft "Die Frauenwohnung".

Architekt Albert Gessner
Das "Gelbe Haus" des Architekten Albert Gessner in der Mommsenstraße 5-6 und zwei seiner Häuser in der Niebuhrstraße verwirklichen seine Idee, den Wohnungsbau "nach künstlerischen Grundsätzen" auszurichten. Bei gleichartigen Raumformaten im Innern werden die Fassaden verschiedenartig malerisch gestaltet: Variable Fensteröffnungen, rechteckig oder als Bogenfenster, vorgezogene Balkons, eingeschnittene Loggien, Erker, Rücksprünge, unterschiedliche Giebel, schmuckvolle Metallportale, im Innern begrünte Innenhöfe.


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Die Bauten sind eindrucksvoll, aber als Bautyp haben sich diese städtebaulichen Stimmungsbilder nicht durchgesetzt.

Interessant ist, dass Gessners Bauten sich mit anderen Themen dieses Berichts verbinden. Die Frauenwohnungen wurden in dem gelben Haus in der Mommsenstraße 6 eingerichtet, die Künstlerin Lene Schneider-Kainer wohnte in dem Gelben Haus II in der Niebuhrstraße 78, das heute leider seines Schmucks beraubt ist.

Mau-Mau-Siedlung
Für Kriegsheimkehrer des Ersten Weltkrieges errichtete ein Regierungsbaumeister 1919 eine Notstandssiedlung mit Kleingärten zur Selbstversorgung in der Niebuhrstraße. Insgesamt waren es fünf Zeilen zweigeschossiger Häuser, die direkt hinter dem Umspannwerk an der Leibnizstraße erbaut wurden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Kriegsheimkehrer und Vertriebene untergebracht. Charlottenburger nannten die Siedlung "Mau-Mau-Siedlung" in Anlehnung an die Erhebung der ökonomisch benachteiligten Afrikaner in Kenia gegen die Engländer, die zeitgleich in den 1950er Jahren stattfand. Später wurden mehrere Häuserzeilen abgerissen und der Rest unter Denkmalschutz gestellt. Drei Querstraßen vom Kudamm entfernt sein eigenes Hausgärtchen zu haben, ist inzwischen zum Luxus geworden.

Lebensort Vielfalt
"Die einzige Gesellschaft, in der man es aushält, ist man selbst". Diese Erkenntnis von Oscar Wilde wird auf "Gleichgesinnte" erweitert in einer ehemaligen Kita in der Niebuhrstraße 60. Dort wurde das erste barrierefreie Mehrgenerationenhaus Deutschlands für homosexuelle Männer und Frauen einschließlich einer Demenz-WG eingerichtet. Dieser "Lebensort Vielfalt" setzt sich fort in dem hauseigenen Veranstaltungssaal "Wilder Oscar", der seinen Namen von dem schwulen Dichter ableitet.

Filmkunst 66
Nach dem Kinosterben haben (auch) die Filmkunstkinos den Lichtspielhäusern neuen Auftrieb gegeben. An der Niebuhr- Ecke Bleibtreustraße spielte in meiner Jugend das "Capri-Kino" in einem Flachbau Filme wie "Familie Hesselbach". Das war eine frühe Soap über alltägliche Nebensächlichkeiten mit unbegrenzter Altersfreigabe. Später wurde das Kino in "filmkunst 66" umbenannt, dann ging es bergab, zum Schluss wurden Sexfilme aufgeführt. Erst Franz Stadler machte das Haus 1971 zu einem Filmkunstkino. Der Flachbau wich später einem Neubauwohnhaus, in dem das Kino im Erd- und Untergeschoss in zwei Sälen weiter arbeiten konnte. Franz Stadtler verkaufte das Kino, übernahm es nach zwei Jahren aber wieder selber, als es bei seinem Nachfolger pleiteging. Stadler, das "Programmkino-Urgestein" lebt nicht mehr, aber sein Kino besteht weiter.

Buchhandlungen
Zwei über Berlin hinaus bekannte Buchhandlungen liegen am Weg: die Bücherstube Marga Schoeller und der Bücherbogen am Savignyplatz. Vor 90 Jahren gründete Marga Schoeller eine Buchhandlung am Kudamm, nach dem Krieg zog sie in die Knesebeckstraße um. In ihrem Gästebuch sind über die Jahrzehnte viele bekannte Künstler und Schriftsteller verzeichnet. Englischsprachige Bücher sind das Spezialgebiet, inzwischen wird die Buchhandlung von der dritten Generation geführt.

Auch der Bücherbogen im S-Bahn-Viadukt am Savignyplatz ist eine Berliner Institution. Dort findet man ein internationales Sortiment zu Architektur, Kunst, Fotografie, Film, Design. Hier ist genügend Platz, um großformatige Bildbände zu präsentieren. In den alten Bögen, über denen die S-Bahn fährt, präsentiert die Buchhandlung selbst gelebte Architektur.


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In dem Gelben Haus in der Mommsenstraße wohnte bis zu seiner Emigration der Dirigent Leo Blech. Als Generalmusikdirektors leitete er die Staatsoper. Es ist überliefert, dass es bei einer Opernaufführung mit einem lebenden Pferd auf der Bühne zu einem Missgeschick kam. Das Pferd setzte mit heftigem Strahl einen See auf die Bühne, der fließend Richtung Orchestergraben unterwegs war. Der Dirigent unterbrach kurz und leitete mit beiden Händen den Bach seitlich um sein Dirigentenpult herum, dann ging die Aufführung weiter.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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Mommsenstraße

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... und hier sind weitere Bilder ...
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Knesebeck-, Bleibtreu- und Niebuhrstraße

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Unsere Route:
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Der Herzschlag des Eisenbahners
Bergmann mit Spitzhacke