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Eselsrücken und Palladio-Kompositionen


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Kurfürstendamm-Nebenstraßen
Stadtplanaufruf: Berlin, Bleibtreustraße
Datum: 31. Oktober 2022
Bericht Nr.:790

Zwei Querstraßen des Kurfürstendamms sind unser heutiges Ziel. Wir sind auf der Bleibtreustraße unterwegs und auf der parallel verlaufenden Schlüterstraße. Es wird ein Architekturrundgang, die "Kurfürstendamm-Architektur" hat nicht nur den Boulevard selbst, sondern auch diese Querstraßen weitgehend geprägt. Die Bebauung erfolgte schwerpunktmäßig in den Jahren kurz vor und nach der Jahrhundertwende 1900.

Der Kritiker Alfred Kerr schreibt 1896, dass dort die "etwas bessere Bevölkerung" wohnt. Leute, die durch eine geistige Tätigkeit zu Wohlstand gekommen sind, vermögende Architekten, Ingenieure, Künstler, Schriftsteller, keine Geldaristokratie wie Banker. Er kann sich aber eine Bosheit nicht verkneifen, wenn er hinzufügt: "Es ist eine elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben".

Jüdisches Leben in der Bleibtreustraße
Über die Baumeister der Häuser ist wenig bis gar nichts bekannt. Zum Teil, weil es Bauhandwerker sind, die ihre Ausbildung an Baugewerkschulen erhielten und meist nur einzelne Häuser errichtet haben. Andererseits waren aber auch jüdische Architekten tätig, die in der Nazizeit verfolgt wurden oder emigriert sind und deren Namen und Andenken bewusst durch Verschweigen getilgt wurde, sie wurden "aktiv vergessen". Stolpersteine auf den Gehwegen wollen in unserer Zeit die Erinnerung an die jüdische Bevölkerung wachhalten, an die Menschen, die dort gelebt haben und in der Nazizeit umgebracht wurden. 56 Stolpersteine sind in der Bleibtreustraße verlegt, an weitere Bewohner wird auf Gedenktafeln erinnert.

Entwicklungsphasen
In der Nachkriegszeit und nochmal in der Nachwendezeit hat sich der Charakter der Straßen deutlich geändert. Konnte man in den 1950er Jahren die Bleibtreustraße anhand der Geschäfte charakterisieren mit Bäcker, Fleischer, Wäscherei/Plätterei, Eisenwaren, Schreibwaren, Kürschner, so sind heute Boutiquen, Kunsthandel, Blumenrausch, Schmuck, Schuhmanufaktur, Dekoträume, Keramiken bemalen, Eis essen, Schokolade, Restaurants die Themen.

Einzelne Baulücken, die durch den Krieg gerissen wurden, sind durch Neubauten geschlossen worden. Manchmal sogar zweimal nacheinander, indem die ersten Gebäude schon bald einem Nachfolgebau weichen mussten. An der Südwestecke von Bleibtreu- und Mommsenstraße entstand erst ein Wohnhaus mit Supermarkt im Erdgeschoss, das nach der Wende einem Bau mit wellenförmiger Fassade weichen musste.

Das MGM Filmtheater am Kudamm Ecke Bleibtreustraße - 1956 als lupenreine Nachkriegsarchitektur errichtet -, wurde durch ein renditemaximierendes Gebäude mit sechs Stockwerken verdrängt, das mit 12 Sehschlitzen zur Ecke die Unfähigkeit des Architekten augenfällig macht, eine gute Ecklösung zu präsentieren.

In der Schlüterstraße ist ein Haus der Nachkriegsmoderne als Denkmal geschützt. Bei unserem Rundgang ist es der einzige geschützte Nachkriegsbau innerhalb des mehr als hundert Jahre alten Gebäudeumfeldes. Das Haus mit großen Glasflächen und zurückgesetzten Loggien hat 1956 der Architekt Norman Braun errichtet, der am Rupenhorn sein eigenes Haus und eine Wohnsiedlung für den Sender Freies Berlin erbaute.

Folkklub Go-In
In den 1960er Jahren, als "langhaarige Studenten" und "brave Bürger" aufeinandertrafen, trugen Bänkelsänger wie Hannes Wader, Reinhard Mey und Ingo Insterburg Balladen und gesellschaftskritische Lieder vor im "Go-In" in der Bleibtreustraße und im "Steve Club" in der Krummen Straße. Waders Song mit dem Refrain "Dieses Mädchen ist eigentlich, viel zu schade für mich, viel zu schade für mich" lebt von diesem sozialen Kontrast. Das Mädchen bringt "Ordnung" in seine vier Wände, putzt alle Scheiben blank, knickt seine Sofakissen ganz geschickt in der Mitte, stickt die Autonummer auf ein Kissen.


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Jazz-Club "A-Trane"
Nördlich der Kantstraße läuft die Bleibtreustraße ein bisschen in die Bedeutungslosigkeit hinein. Es fehlen die zündenden Shops und die Häuser mit den repräsentativen Fassaden und Hauseingängen. An der Ecke Pestalozzistraße ist der Jazz-Club "A-Trane" noch einmal ein Höhepunkt. Er wurde 2013 wegen seines Life-Programms als "bester Jazzclub Deutschlands" ausgezeichnet. Sein Name bezieht sich auf den Jazz-Song "Take the A-Train" (Linie A der New York City Subway), den Duke Ellington als Erkennungszeichen seines Orchesters benutzte.

Architektur
Erker, Türme, Balkons, Loggien, Stuckfassaden, figürlich und ornamental verzierte Fassaden, Architekturzitate aus anderen Epochen, das findet sich auch an anderen repräsentativen Bauten in der Innenstadt. Im Kurfürstendamm-Umfeld hat sich das zu hochherrschaftlichem Gepräge gesteigert, das die Gebäude mit großzügigen Wohnungsgrundrissen nach außen hervorhebt. In diesen Bauten gab es Fünf- und Sechszimmerwohnungen nebeneinander auf einer Etage, aber auch Neun- und Zehnzimmerwohnungen, die die ganze Etage umfassen.

Statt bloßer Eingangstüren schmuckvolle Eingangsbereiche: Ein Hauseingang ist im Sturz mit einem Eselsrücken verziert, (auch Kielbogen genannt, wie ein umgekehrter Schiffsrumpf) - eine gotische Bogenform, die bei Kirchen und Rathäusern zu finden ist. Ein anderer Hauseingang erinnert an antikisierende Kompositionen des Italieners Palladio: Die Eingangstür auf jeder Seite von einem Fenster umgeben, eingebettet in eine angedeutete Säulenreihe, flache Lisenen, die einen Dreiecksgiebel stützen. Ein weiteres Beispiel: Eine barocke Türeinfassung, bekrönt mit einem Eingangsbogen, asymmetrisch nach einer Seite mit Pilastern (flachen Säulen) über ein Fenster und eine Tür hinweg verlängert.

Bleibtreustraße 20
Die allegorischen Figuren der Fassaden-Reliefs stehen manchmal für sich, manche beziehen sich in symmetrischer Anordnung aufeinander. Der Höhepunkt sind über die gesamte Breite des Giebels ausgedehnte Allegorien. Beim Haus Bleibtreustraße 20 findet sich eine solche Darstellung mit "allegorische Figuren, links für die Kunst und rechts für das Handwerk". Ignatz Grünfeld war deutscher Architekt, Baumeister und Inhaber eines Baugeschäfts. Er war überwiegend in Kattowitz (damals Oberschlesien) tätig und wird als "herausragende Figur für die Stadtentwicklung" der Stadt geschildert.


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Sein Sohn Max Grünfeld war ebenfalls als Architekt und Regierungsbaumeister tätig. Er baute in der Schlüterstraße das Eckhaus zum Olivaer Platz und das Nebenhaus. Auch das Logenhaus in der Emser Straße hat Max Grünfeld entworfen und zahlreicher Gebäude in Kattowitz.

Bleibtreu- Ecke Mommsenstraße
Das Eckhaus Bleibtreustraße 40 und drei benachbarte Häuser in der Mommsenstraße 67 bis 69 hat der Baumeister Carl Fritz entworfen, der wahrscheinlich an einer Baugewerkschule ausgebildet wurde. An einem Teil der Bauten war sein Bruder, der Zimmermeister Heinrich Fritz beteiligt. Die Wohnungen im Eckhaus hatten sechs bis acht Zimmer und gingen über die ganze Etage.

Burgähnliche Dachaufbauten zieren die Häuser Bleibtreustraße 15/16 und Bleibtreustraße 17 Ecke Mommsenstraße. Die Komposition mehrerer Stilelemente bis hin zur Renaissance prägt die Fassaden. Auch die Putzfarbe fällt aus dem Rahmen der Kudamm-Architektur. Beide Bauten wurden von den Architekten Otto Harnisch und Partner errichtet. Die luxuriösen Wohnungen waren bis zu 400 Quadratmeter groß. Zu den Ausstattungsmerkmalen gehörten großzügige Treppenaufgänge, Holzbalkendecken, Tonnen- und Kreuzgratgewölbe, figürlich und ornamental verzierte Täfelungen. Zwei Gedenktafeln am Haus Nr. 15 erinnern an Tilla Durieux und Alfred Flechtheim.


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Tilla Durieux
Die Schauspielerin Tilla Durieux wohnte in demselben Haus wie der Kunsthändler Alfred Flechtheim, mit dem sie befreundet war und den sie so beschrieb: "Er sah ein wenig aus wie der König von Spanien, lang, dünn, hässlich wie die Nacht, aber interessant". Um ihn scharten sich auf seinen legendären Festen die Bubikopf-Frauen mit den in den 1920er Jahren modernen Frisuren und mit Hosenanzügen, die sie androgyn wirken ließen.

Die tragische Liebesbeziehung zwischen Tilla Durieux und Paul Cassirer haben wir anlässlich unseres Besuches auf dem Friedhof Heerstraße erfahren. Als sie wegen der zermürbenden Ehehölle die Scheidung wollte, versuchte er während des Termins beim Anwalt sich mit der Pistole umzubringen und starb tatsächlich Tage später an der Verletzung. Sie überlebte ihn um 45 Jahre, war mit ihrem nächsten Ehemann mehr als 10 Jahre glücklich verheiratet, ließ sich aber dann neben Paul Cassirer in seiner Grabstelle auf dem Friedhof Heerstraße beerdigen.

Schlüterstraße 49
Die Fassade des Hauses Schlüterstraße 49 gibt Rätsel auf. Das beginnt mit der Gleichung, die in griechischen Buchstaben oben an einem Erker angebracht ist. Jedenfalls lassen die Zeichen "+" und "=" vermuten, dass es sich um eine Gleichung handelt. Am unteren Ende des Erkers sind Bruchstücke eines Tempels - Säulenreste, Torsi, Hand, Kopf - übereinandergestapelt. Weitere Reliefs zeigen Hände, die einen steinernen Kopf umfassen. Zwei Bildhauer, die an einem Säulenkapitel arbeiten, fallen aus dem Kontext heraus, sie haben so gar keine klassischen Figuren.


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Im Kontrast zu diesen plastischen Elementen ist der Hauseingang mit einem umlaufenden Mosaikband eingefasst. Das Haus ist kein Baudenkmal, Entstehungsjahr und Namen der Architekten und Bildhauer liegen im Dunklen.

Bleibtreuhof
Wenige Schritte von der Bahn entfernt steht im Bleibtreuhof ein Galeriegebäude mit einem umlaufenden Fries. Als die Galeristen unser Interesse bemerken, bitten sie uns herein und informieren uns über die Geschichte des Gebäudes. Erbaut hat es der Architekt Albert Giesicke für seinen Bruder, den Bildhauer Heinrich Giesicke. In der Tempelhofer Bärensiedlung hat der Bildhauer die "Konsolfiguren" geschaffen, an Pfeilern angebrachte Plastiken.


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Der Architekt Albert Giesecke hat die Marthakirche in Kreuzberg entworfen. Als Architekturtheoretiker verfasste er eine Biografie von Giovanni Battista Piranesi, dessen Radierungen "Kerker der Phantasie" mit einem paradoxen Ineinandergehen von Innen- und Außenraum dem Surrealismus vorgegriffen haben.

Georg Bleibtreu
Der Name wirkt so heimelig, dass sich kaum jemand mit dem Namensgeber der Straße beschäftigt. Georg Bleibtreu war ein Maler, sein Lieblingsthema waren "Schlachtencompositionen, die in Jahren tief empfundener nationaler Ohnmacht mächtig ergreifend wirkten". Auch als Kriegsberichterstatter war er im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 Augenzeuge mehrerer Gefechte. Dort sah er, "gleich beglückt als Künstler wie als Patriot, in heller Begeisterung alle deutschen Stämme an ihrer blutigen Arbeit". So konnte man es 1903 in der "Allgemeine deutsche Biographie", Band 47 lesen.

Unsere Runde endet am Bleibtreuhof, wo wir begonnen hatten. Ein Bistro dort im Haus versorgt uns vorbildlich und die Sonne meint es Ende Oktober so gut, dass wir an einem Tisch auf dem Bürgersteig Platz nehmen und den Spaziergang nachklingen lassen.
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Hier lag die Bleibtreustraße schon einmal an unserem Weg:
Karawane durch das Reich des silbernen Löwen
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Unsere Route:
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Zählbare Erscheinungen des menschlichen Lebens
Wirkungsstätten im Umfeld von Goethe