Bezirke
  Straßenverzeichnis     Personen     Themen     Aktuell     Forum  
Charlottenburg-Wilmersdorf
Friedrichshain-Kreuzberg
Lichtenberg
Marzahn-Hellersdorf
Mitte
Neukölln
Pankow
Reinickendorf
Spandau
Steglitz-Zehlendorf
Tempelhof-Schöneberg
Treptow-Köpenick
Allgemein:
Startseite
Ich bin NEU hier
Hinweise
Kontakt
Impressum
Datenschutz
Links
SUCHEN
Sitemap

Das unbekannte Westend


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Gutsbezirk Heerstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Lyckallee
Datum: 12. März 2025
Bericht Nr.:859

Wenn über das Berliner Westend geschrieben oder gesprochen wird, dann geht es meist um die Villenkolonie zwischen Spandauer Damm und Theodor-Heuss-Platz östlich der Reichsstraße mit den Villen für "wohlhabende Stände"; vielleicht auch noch um Neu-Westend jenseits der Reichsstraße. Wikipedia erwähnt noch vier weitere Ortslagen, aber die Villenkolonie südlich der Heerstraße bis zur Teufelsseestraße hat keiner im Blick. Ich gestehe, für mich lag Westend früher auch nur an der Reichsstraße, nicht an der Heerstraße. Dabei erzählt dieser direkt an den Grunewald angrenzende Teil von Westend interessante Geschichten über seine Villen und Landhäuser, deren Architekten und ihre Bewohner.

Gutsbezirk Heerstraße
Das "Gutsbezirk Heerstraße" genannte Gelände erstreckte sich ursprünglich bis Pichelsdorf und Ruhleben, wurde dann zwischen Charlottenburg und Spandau aufgeteilt, dadurch entstand dieser Teil von Westend. Es gab zwei wesentliche Bauphasen: Ab den 1910er Jahren begann die planmäßige Bebauung - mit einem weiteren Höhepunkt Ende der 1920er Jahre. Einige Landhäuser und Villen sind dann in der Nazizeit ab Mitte der 1930er Jahre entstanden. Es waren bekannte Architekten wie Erich Mendelsohn und Egon Eiermann beteiligt, manche Architekten hatten ganz andere Schwerpunkte wie beispielsweise Bahnhofs-Empfangsgebäude. Zu den Eigentümern gehörten beispielsweise der Zirkusunternehmer Paul Busch oder der Theaterdirektor Hans Wölffer.

Der Mythos Schlacht bei Tannenberg
Das Areal wird in voller Ausdehnung durch die Lyckallee und ihre Verlängerung Kranzallee erschlossen. Parallel dazu verlaufen die Tannenberg- und die Stallupöner Allee als direkte Grenze zum Grunewald Richtung Teufelsberg. Viele Straßenbenennungen nach ostpreußischen Orten verweisen auf Kampf-Orte im Ersten Weltkrieg. Die Schlacht bei Tannenberg 1914 begründete einen Mythos um Hindenburg als siegreichem Feldherrn, die Jugend meldete sich in Scharen freiwillig ("mit Hurra") zum Kriegsdienst. Zu spät merkt sie, dass sie nur Kanonenfutter war. Die Straßennamen blieben trotzdem, sie zu "entmilitarisieren", ist ein zwiespältiges Unternehmen. In Lichterfelde wurde in diesem Zusammenhang 1914 die dortige Chausseestraße zum Hindenburgdamm.

Friedenskirche
Wie erfreulich, dass es in dieser vom Namen her kriegerischen Tannenbergallee eine Friedenskirche gibt, die auch eine durch und durch friedliche Geschichte hat. Wenn man das Kirchengebäude von der Front- und von der Gartenseite sieht, dann wird überraschend ein krasser Kontrast sichtbar: Einem früheren Bildhaueratelier in einem Fachwerkbau wurde zur Straße ein grau verputzte Mauerwerksbau vorgesetzt. Ein Schleppdach weitet den Bau seitlich zum Querschiff aus. In den Putz auf der Straßenfront ist ein Kruzifix eingekratzt als Sgraffiti, mit einer in Berlin eher ungewöhnlichen Stuckaturtechnik. Die Kirche erhielt einen freistehenden Glockenturm.


mit KLICK vergrößern

Es gibt noch mehr ungewöhnliche Bauten in diesem Villenviertel, aber keiner ist so krass wie die Friedenskirche. Begehrt sind alle Villen in diesem Viertel, so wird beispielsweise auf Immobilienscout eine Villa aus den 1930er Jahren auf einem für damalige Verhältnisse klitzekleinen Grundstück von 750 qm aber mit 200 qm Wohnfläche für 2,2 Mio. € angeboten.

Doppel-Landhaus Lyckallee 14 und 16-18 (Galeristenhaus)
Im ersten Abschnitt der Lyckalle steht ein attraktives Doppelwohnhaus, das sich schon dadurch von den im Umkreis typischerweise einzeln und freistehend errichteten Häusern abhebt. Die beiden Hälften des Doppelhauses unterscheiden sich von Stil und Ausstattung so stark, dass sie nicht als Zwillinge wahrgenommen werden, obwohl sie derselbe Architekt gleichzeitig entworfen hat.

Die Putzfassaden sind mit weiß und rotbraun im starken Kontrast, auch Erker und Fensteranordnung finden keine gemeinsame Sprache. Die Giebel haben unterschiedliche Formen. Das linke Haus zeigt einen geschweiften Giebel mit Turmhelm, die Giebelfläche seines Gegenübers wird von einem Krüppelwalmdach eingeschlossen. Der Gesamteindruck beider Bauten ähnelt auf der Straßenseite einem Mietshaus, während zur Gartenseite Ähnlichkeit mit einem Landhaus besteht.


mit KLICK vergrößern

Das eine Doppelhaus machte der Zirkusunternehmer Paul Busch in den 1920er Jahren seiner Tochter, der Zirkusdirektorin Paula Busch, zum Geschenk. In den 1980er Jahren übernahm ein Galerist das Haus, es wurde zum Treffpunkt von namenhaften Künstlern und Kulturschaffenden.

Lyckallee 42
Eine Dachfläche vom First bis zum Erdgeschoss nach unten gezogen, ein anderer Teil des Daches bindet einen halbrunden Turm ein, ungewöhnliche Dachlandschaften hat der Architekt Hans Liepe an der Lyckallee 42 geschaffen. Auch die Fensterformen sind unterschiedlich, rechteckig oder mit Rundbögen. Fledermausgauben treten ohne gerade Seitenflächen bogenförmig aus dem Dach hervor. Beim ebenfalls von ihm entworfene Nachbarhaus verbinden mehrteilige Walmdächer drei unterschiedlich hohe Bauteile des Gebäudes.


mit KLICK vergrößern

Lyckallee 6
Sein Schwerpunkt waren Empfangsgebäude für die Eisenbahn, aber auch Villen wie die an der Lyckallee hat der Architekt Fritz Klingholz erbaut. Der 1914 errichtete Bau ist aus dunkelrotem Klinker mit Krüppelwalmdach, seitlich angebaut ist ein Gartenpavillon mit Mansarddach, das eine beschwingte Note in die Strenge des Hauses bringt. In der Straßenfront erhebt sich ein hoher Dreiecksgiebel, Fensterstürze, Fensterbänke und die Portalumrandung bestehen aus Muschelkalkstein. In einem Landhaus jener Zeit wurden auch Räume für das Personal gebraucht, sie liegen im ausgebauten Dachgeschoss.


mit KLICK vergrößern

Kranzallee 23
Ein weiteres Landhaus mit dunkler Klinkerfassade wurde 1930 von dem Architekten Heinrich Möller an der Kranzallee errichtet. Der Maler und Architekt war bei seinen Bauten darauf aus, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Fast wie eine Kirche wirkt die Direktorenvilla mit einem apsisförmigen Anbau. Die Straßenfront ist fast fensterlos. Sie wird von dem überdachten Treppenaufgang beherrscht, dessen expressionistische Pfeiler aus senkrecht gestellten Backsteinen gebildet werden. Unterhalb des Aufgangs ist ein halbrundes Fenster in der Treppenbrüstung sichtbar.


mit KLICK vergrößern

Remise und Wohnhaus für Angestellte der Villa d’Avance
Ein Grundstück, das von der Heerstraße bis zur Kranzallee reichte, eine nicht mehr vorhandene Villa an der Heerstraße und ein langgestreckter Bau für die Angestellten an der Kranzallee, das war ein ungewöhnliches Ensemble. Die Bauten an der Kranzallee enthielten eine Doppelgarage, eine Remise für zwei Pferde, Geschirrkammer, Heizungskeller und drei kleine Wohnungen/Stuben für Bedienstete. Dort wohnten auch die Mutter und Schwiegermutter des Bauherrn und sein Chauffeur.


mit KLICK vergrößern

Wer war George D'Avance, der solchen Landbesitz hatte? Beruf Bankier, geboren 1880, mit 33 Jahren gestorben, beerdigt auf dem Französisch-Reformierten Friedhof II an der Liesenstraße, mehr ist nicht bekannt. Vermutlich ein Hugenotte. Und dann ist das alles fraglich, die vorhandenen Bauten wurden 1923 errichtet, der Bauherr ist bereits 1913 gestorben, da brauchte er kein Haus für seine Angestellten mehr.

Lyckallee 45
Das Wohnhaus in der Lyckallee 45 ist von der Straße zurückgebaut und vom Anblick her architektonisch nicht besonders interessant. Schaut man auf das Baujahr 1936, dann ist allerdings bemerkenswert, dass ein Walmdach das Haus deckt, während die "Baugesinnung" der Nazis als "völkische Eigenart" traditionelle Bauformen mit Satteldächern verlangte, keine Flachdächer und auch keine Walmdächer. Vielleicht war diese Verordnung vom November 1936 noch nicht in Kraft, als der Theaterdirektor Hans Wölffer das Haus errichten ließ.


mit KLICK vergrößern

Wölffer hatte 1934 in Berlin das Kudamm-Theater und die Komödie übernommen und damit eine Theaterleiter-Dynastie begründet. Heute leitet mit Martin Wölffer die dritte Generation den Theaterbetrieb. Er musste allerdings einen Aderlass seiner Bühnen hinnehmen, beide wurden für einen Neubau von Investoren abgerissen. Gespielt wird jetzt an einer Übergangsspielstätte, und nur eine Bühne wird in dem Neubau zurückkehren.

Gerechter unter den Völkern
Heinz Scheidling, - der Architekt des Wölffer-Hauses an der Lyckallee - war als Architekt beim Bau einer Munitionsfabrik bei Dessau tätig, als im Oktober 1942 in dem Arbeitslager auf dem Gelände ein 14jähriges jüdisches Mädchen zur Zwangsarbeit eingeliefert wurde. Er half der Jugendlichen bei ihrer Flucht über Berlin nach Posen. Scheidling kaufte ihr eine Fahrkarte und gab ihr Geld und Lebensmittelkarten. Die Ehrung „Gerechter unter den Völkern“ für nichtjüdische Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben einsetzten, um Juden vor der Ermordung zu retten, ehrte ihn zu Recht.

Erich Mendelsohn
In den 1920er Jahren hat Erich Mendelsohn an der Ecke Heerstraße und Ragniter Allee ein Wohnhaus mit Arztpraxis errichtet, Einen Bau, der "nichts Rundes hat". Das ist bemerkenswert, wenn man im Vergleich dazu den plastisch gerundeten Einsteinturm des Architekten in Potsdam sieht. Der Baukörper an der Heerstraße ist streng kubisch, ein Flachbau, auf den ein Wirtschaftsgeschoß mit Dachterrasse aufgesetzt ist. Offensichtlich hat Mendelsohn den Bau so konzipiert, dass sich eine expressive perspektivische Wirkung der Straßenansicht ergibt. Mit dem Material Eisen und Beton erzeugte Mendelsohn ein Schweben und Überkragen seines Bauwerks. Der Außenputz war ursprünglich hell sandfarben, bei unserem Rundgang war er schmuddelig grau und beschmiert.


mit KLICK vergrößern

Zehn Jahre nach dem ersten Entwurf stockte Mendelsohn den Bau um eine Etage auf, um eine Einliegerwohnung unterzubringen. Dabei wollte er das formale Übergewicht seines Entwurfs durch Bullaugen auflockern, Mendelsohn selbst sagte, "zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen bewegt sich mein Leben, meine Arbeit". Aber die Bauaufsicht genehmigte ihm diese Abweichung von seiner ursprünglichen Konzeption nicht und erzwang rechteckige Fenster.

Hinter den Umfassungsmauern des Grundstücks gestaltete der Architekt einen Garten, der sich mit dem angrenzenden märkischen Kiefernwald verband. Der Garten erhielt "scharfkantige Geländeböschungen und rechteckige, gleichförmige Beete".

Egon Eiermann
Zu der Zeit, als die nationalsozialistische "Baugesinnung" den Architekten bei ihrem Entwurf Grenzen zog (s.o.), erbaute Egon Eiermann in der Stallupöner Allee eine Villa mit dem vorgeschriebenen Steildach. Die Grundrisse des Baus beruhen auf zwei schmalen, langgestreckten Bauteilen, die sich kreuzförmig überschneiden. Die Villa ist so angelegt, dass die verschiedenen Wohnbereiche räumlich voneinander getrennt sind.


mit KLICK vergrößern

Johannisburger Allee 12
Das 1937 erbaute Wohnhaus Johannisburger Allee 12 ist mit seiner Putzfassade, den Sprossenfenstern mit Klappläden und dem rot gedeckten Satteldach ein typisches Beispiel der schon mehrfach erwähnten notionalsozialistischen Baugesinnung. Zwischen all den Villen und Landhäusern anderer Epochen wirkt es grau und unscheinbar. Nur das Blumenfenster und der Austritt am mittleren Sprossenfenster geben dem Bau etwas Individualität.


mit KLICK vergrößern

Stallupöner Allee 19-23
Ein eher unscheinbares Haus an der Stallupöner Allee gehörte früher zu einem Ensemble, über das ich schon 2014 berichtet hatte: Die Deutsche Reichspost hatte dort in den 1930er Jahren eine geheime Sendeanlage in einen Bunker errichtet, getarnt mit einem Wohnhaus. Der Bunker war vollgestopft mit Technik, die Diensträume für die Bedienmannschaften lagen in dem Wohngebäude darüber. Nach dem Krieg sendeten der britische Soldatensender BFN und der NWDR (Nordwestdeutsche Rundfunk) von dort, später der BBC und der SFB. Das 25-jährige Jubiläum der SFB-Mittelwelle wurde 1971 im Bunker gefeiert.


mit KLICK vergrößern

Inzwischen sind die Sendeanlagen abgebaut und das Haus ist 2013 abgerissen worden. Ein Investor hatte eine bessere Ausnutzung des Grundstücks durchgesetzt. Übrig geblieben ist das "Wohnhaus der Reichs-Postdirektion Berlin", dort wohnte der Postdirektor.

Botschaftsgebäude Äquatorialguinea
In der Stallupöner Allee wird gerade das Botschaftsgebäude von Äquatorialguinea hergerichtet. Der Ursprungsbau ist vollständig entkernt worden. Eine restaurierte Villa in imposanter Optik wird jetzt sichtbar. Auf dem halbrunden Erker im Erdgeschoss erheben sich fünf Säulen, die schließlich in der Luft in spitzen Hütchen enden.


mit KLICK vergrößern

Was ist das für ein Land, das sich dieses Aushängeschild leistet? Äquatorialguinea ist einer der kleinsten Staaten Afrikas, liegt zwischen Kamerun und Gabun. Er ist das einzige spanischsprachige Land Afrikas. Die ehemalige spanische Kolonie ist reich an Erdölvorkommen. Trotzdem lebt die Bevölkerung in Armut, nur eine kleine Elite genießt den Wohlstand. Tropischer Regenwald und Mangrovensümpfe bestimmen das feuchtheiße Klima. Das Auswärtige Amt warnt, Grundrechte werden in Äquatorialguinea "nur unzureichend gewährt" und die beiden lokalen Fluggesellschaften stehen auf der EU-Liste unsicherer Fluggesellschaften.

Am Scholzplatz erreichen wir das Ende unserer heutigen Stadterkundung. Die Würdigung betrifft zwar einen Politiker, aber nicht unseren Ampel-Kanzler der letzten Tage, sondern den letzte Oberbürgermeister von Charlottenburg vor der Eingemeindung nach Groß-Berlin.
--------------------------------------------------------------

Weitere Stadterkundungen in Westend finden Sie hier:
> Westend im Stichwortverzeichnis Siedlungen

> Villenkolonie Westend, östlicher Teil: Wenn Architekten raten, Efeu zu pflanzen
> Villenkolonie Westend, westlicher Teil: Wenn der Hahn gekräht hat, geht die Sonne auf
> Neu-Westend: Die 4 Pferderennbahnen von Charlottenburg
--------------------------------------------------------------

--------------------------------------------------------------
Unsere Route:
--------------------------------------------------------------

zum Vergrößern ANKLICKEN



Pfeile, die den Ring verlassen